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Schulz, Friedrich: Neue Reise durch Italien. Bd. 1, H. 1. Berlin, 1797.

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wesen, oder hat sich so verloren, daß man
jetzt auch nicht die entfernteste Spur mehr
davon findet. Dieser Geist verräth, wie es
sehr natürlich ist, sein Daseyn bald, wo er
herrscht. Jn den veronesischen Gesellschaften
ist es wahrlich nicht die berüchtigte altfran-
zösische Decenz, die dem ernsthaften, ängstli-
chen und stummen Benehmen der Verone-
serinnen zum Grunde liegt, sondern wahre,
unverstellte, kleinstädtische Schüchternheit und
Eingeschränktheit, und ein erklärter Mangel
an Koketterie. Hat man mit einem Weibe
über das Theater und den Korso und ein paar
ältere italienische Dichter ausgesprochen, so
hat man über alles mit ihr ausgesprochen;
und von der Kunst, welche die Französinnen,
und nach ihnen die Polinnen, am besten ver-
stehen, jeden andern Gegenstand des Wissens,
des Geschmacks und des Gefühls, durch zu
vernünfteln, oder leicht zu überblicken und da-
bey in witzigen Einfällen überzufließen, weiß
das zweyte Geschlecht in Verona nichts. Hier

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weſen, oder hat ſich ſo verloren, daß man
jetzt auch nicht die entfernteſte Spur mehr
davon findet. Dieſer Geiſt verraͤth, wie es
ſehr natuͤrlich iſt, ſein Daſeyn bald, wo er
herrſcht. Jn den veroneſiſchen Geſellſchaften
iſt es wahrlich nicht die beruͤchtigte altfran-
zoͤſiſche Decenz, die dem ernſthaften, aͤngſtli-
chen und ſtummen Benehmen der Verone-
ſerinnen zum Grunde liegt, ſondern wahre,
unverſtellte, kleinſtaͤdtiſche Schuͤchternheit und
Eingeſchraͤnktheit, und ein erklaͤrter Mangel
an Koketterie. Hat man mit einem Weibe
uͤber das Theater und den Korſo und ein paar
aͤltere italieniſche Dichter ausgeſprochen, ſo
hat man uͤber alles mit ihr ausgeſprochen;
und von der Kunſt, welche die Franzoͤſinnen,
und nach ihnen die Polinnen, am beſten ver-
ſtehen, jeden andern Gegenſtand des Wiſſens,
des Geſchmacks und des Gefuͤhls, durch zu
vernuͤnfteln, oder leicht zu uͤberblicken und da-
bey in witzigen Einfaͤllen uͤberzufließen, weiß
das zweyte Geſchlecht in Verona nichts. Hier

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[179/0187] weſen, oder hat ſich ſo verloren, daß man jetzt auch nicht die entfernteſte Spur mehr davon findet. Dieſer Geiſt verraͤth, wie es ſehr natuͤrlich iſt, ſein Daſeyn bald, wo er herrſcht. Jn den veroneſiſchen Geſellſchaften iſt es wahrlich nicht die beruͤchtigte altfran- zoͤſiſche Decenz, die dem ernſthaften, aͤngſtli- chen und ſtummen Benehmen der Verone- ſerinnen zum Grunde liegt, ſondern wahre, unverſtellte, kleinſtaͤdtiſche Schuͤchternheit und Eingeſchraͤnktheit, und ein erklaͤrter Mangel an Koketterie. Hat man mit einem Weibe uͤber das Theater und den Korſo und ein paar aͤltere italieniſche Dichter ausgeſprochen, ſo hat man uͤber alles mit ihr ausgeſprochen; und von der Kunſt, welche die Franzoͤſinnen, und nach ihnen die Polinnen, am beſten ver- ſtehen, jeden andern Gegenſtand des Wiſſens, des Geſchmacks und des Gefuͤhls, durch zu vernuͤnfteln, oder leicht zu uͤberblicken und da- bey in witzigen Einfaͤllen uͤberzufließen, weiß das zweyte Geſchlecht in Verona nichts. Hier M 2

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Zitationshilfe: Schulz, Friedrich: Neue Reise durch Italien. Bd. 1, H. 1. Berlin, 1797, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schulz_italien_1797/187>, abgerufen am 24.11.2024.