Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Wenn Sie mich beleidigen -- mein Bruder wird Sie tödten! Artois lachte. Dein Bruder? Er ist vernünftiger als du. Er weiß, was ich für ihn thue, wenn du meine Freundin wirst. Leonore hatte sich abermals losgerissen, aber im Ringen war ihr das Billet Conde's aus dem Busen gefallen. Artois nahm es auf; sie konnte ihn nicht daran verhindern, denn ihre Knie wankten so, daß sie sich an der Mauer stützen mußte, um sich aufrecht zu erhalten. Die letzten Worte des Grafen hatten ihr einen Dolch ins Herz gestoßen. Artois las das Billet. Dann lachte er laut. Jetzt begreife ich deine Sprödigkeit! Conde, dieser abscheuliche Spitzbube, hat mir dein Herz gestohlen. Aber du thust sehr unklug, ihm zu glauben. Das ist nichts als ein Complot gegen mich. Als ich dich zuerst gesehen hatte, Leonore, und mit ihm heimfuhr, war ich so unvorsichtig, meine Bewunderung für dich zu lebhaft auszusprechen. Aber, was willst du? Wenn das Herz voll, fließt der Mund über. Ich wette, in demselben Augenblicke auch hat dieser Schelm von Conde beschlossen, dich mir zu entführen. Liebst du ihn? Seid ihr deutschen Mädchen so leicht erobert? o pfui! Leonorens Fassung war am Ende. Entrüstet rief sie aus: Ich glaube, Sie predigen Moral -- in diesem Wenn Sie mich beleidigen — mein Bruder wird Sie tödten! Artois lachte. Dein Bruder? Er ist vernünftiger als du. Er weiß, was ich für ihn thue, wenn du meine Freundin wirst. Leonore hatte sich abermals losgerissen, aber im Ringen war ihr das Billet Condé's aus dem Busen gefallen. Artois nahm es auf; sie konnte ihn nicht daran verhindern, denn ihre Knie wankten so, daß sie sich an der Mauer stützen mußte, um sich aufrecht zu erhalten. Die letzten Worte des Grafen hatten ihr einen Dolch ins Herz gestoßen. Artois las das Billet. Dann lachte er laut. Jetzt begreife ich deine Sprödigkeit! Condé, dieser abscheuliche Spitzbube, hat mir dein Herz gestohlen. Aber du thust sehr unklug, ihm zu glauben. Das ist nichts als ein Complot gegen mich. Als ich dich zuerst gesehen hatte, Leonore, und mit ihm heimfuhr, war ich so unvorsichtig, meine Bewunderung für dich zu lebhaft auszusprechen. Aber, was willst du? Wenn das Herz voll, fließt der Mund über. Ich wette, in demselben Augenblicke auch hat dieser Schelm von Condé beschlossen, dich mir zu entführen. Liebst du ihn? Seid ihr deutschen Mädchen so leicht erobert? o pfui! Leonorens Fassung war am Ende. Entrüstet rief sie aus: Ich glaube, Sie predigen Moral — in diesem <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="7"> <pb facs="#f0098"/> <p>Wenn Sie mich beleidigen — mein Bruder wird Sie tödten!</p><lb/> <p>Artois lachte. Dein Bruder? Er ist vernünftiger als du. Er weiß, was ich für ihn thue, wenn du meine Freundin wirst.</p><lb/> <p>Leonore hatte sich abermals losgerissen, aber im Ringen war ihr das Billet Condé's aus dem Busen gefallen. Artois nahm es auf; sie konnte ihn nicht daran verhindern, denn ihre Knie wankten so, daß sie sich an der Mauer stützen mußte, um sich aufrecht zu erhalten.</p><lb/> <p>Die letzten Worte des Grafen hatten ihr einen Dolch ins Herz gestoßen.</p><lb/> <p>Artois las das Billet. Dann lachte er laut. Jetzt begreife ich deine Sprödigkeit! Condé, dieser abscheuliche Spitzbube, hat mir dein Herz gestohlen. Aber du thust sehr unklug, ihm zu glauben. Das ist nichts als ein Complot gegen mich. Als ich dich zuerst gesehen hatte, Leonore, und mit ihm heimfuhr, war ich so unvorsichtig, meine Bewunderung für dich zu lebhaft auszusprechen. Aber, was willst du? Wenn das Herz voll, fließt der Mund über. Ich wette, in demselben Augenblicke auch hat dieser Schelm von Condé beschlossen, dich mir zu entführen. Liebst du ihn? Seid ihr deutschen Mädchen so leicht erobert? o pfui!</p><lb/> <p>Leonorens Fassung war am Ende. Entrüstet rief sie aus:</p><lb/> <p>Ich glaube, Sie predigen Moral — in diesem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0098]
Wenn Sie mich beleidigen — mein Bruder wird Sie tödten!
Artois lachte. Dein Bruder? Er ist vernünftiger als du. Er weiß, was ich für ihn thue, wenn du meine Freundin wirst.
Leonore hatte sich abermals losgerissen, aber im Ringen war ihr das Billet Condé's aus dem Busen gefallen. Artois nahm es auf; sie konnte ihn nicht daran verhindern, denn ihre Knie wankten so, daß sie sich an der Mauer stützen mußte, um sich aufrecht zu erhalten.
Die letzten Worte des Grafen hatten ihr einen Dolch ins Herz gestoßen.
Artois las das Billet. Dann lachte er laut. Jetzt begreife ich deine Sprödigkeit! Condé, dieser abscheuliche Spitzbube, hat mir dein Herz gestohlen. Aber du thust sehr unklug, ihm zu glauben. Das ist nichts als ein Complot gegen mich. Als ich dich zuerst gesehen hatte, Leonore, und mit ihm heimfuhr, war ich so unvorsichtig, meine Bewunderung für dich zu lebhaft auszusprechen. Aber, was willst du? Wenn das Herz voll, fließt der Mund über. Ich wette, in demselben Augenblicke auch hat dieser Schelm von Condé beschlossen, dich mir zu entführen. Liebst du ihn? Seid ihr deutschen Mädchen so leicht erobert? o pfui!
Leonorens Fassung war am Ende. Entrüstet rief sie aus:
Ich glaube, Sie predigen Moral — in diesem
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Zitationshilfe: | Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/98>, abgerufen am 16.02.2025. |