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Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Diener eintrat und meldete, daß das Frühstück servirt sei.

Frau von Breteuil begab sich mit Leonoren in den Speisesaal. Mehrere Herren traten ihr entgegen und umgaben sie. Ein gewisser Uebermuth in ihrem Wesen, etwas, das wie spöttisches Lächeln aussah, begann Leonoren zu verletzen. Aber nach wenig Augenblicken flog eine Flügelthüre auf, der Ruf: Son Altesse royale! tönte durch den Saal, die Anwesenden bildeten in ehrfurchtsvoller Haltung ein Spalier und verbeugten sich tief, als der Graf von Artois an ihnen vorüberschritt, um sich an einem oben im Saale aufgestellten erhöhten Tische niederzulassen. Er frühstückt allein, während die Uebrigen an einer größeren Tafel Platz nahmen. Leonore war erstaunt über die Strenge der Etiquette, welche alle Bewegungen regelte, und die doch so übel angebracht war bei einer Schaar beraubter Flüchtlinge: aber noch weit mehr war sie erstaunt über die Gespräche, welche rechts und links von ihr geführt wurden. Sie sah, daß Frau von Breteuil durchaus nicht eine Thörin auf ihre eigene Rechnung war, wie sie geglaubt hatte, sondern daß alle diese Menschen in gleichem Tone redeten. Man moquirte sich aufs Grausamste über die deutschen Gäste, welche am gestrigen Abende sich eingefunden, obwohl sie Eltern, Brüder, Schwestern der Anwesenden großmüthig unter ihr Dach aufgenommen hatten und eine verschwenderische Gastlichkeit gegen dieselben übten. Die

Diener eintrat und meldete, daß das Frühstück servirt sei.

Frau von Breteuil begab sich mit Leonoren in den Speisesaal. Mehrere Herren traten ihr entgegen und umgaben sie. Ein gewisser Uebermuth in ihrem Wesen, etwas, das wie spöttisches Lächeln aussah, begann Leonoren zu verletzen. Aber nach wenig Augenblicken flog eine Flügelthüre auf, der Ruf: Son Altesse royale! tönte durch den Saal, die Anwesenden bildeten in ehrfurchtsvoller Haltung ein Spalier und verbeugten sich tief, als der Graf von Artois an ihnen vorüberschritt, um sich an einem oben im Saale aufgestellten erhöhten Tische niederzulassen. Er frühstückt allein, während die Uebrigen an einer größeren Tafel Platz nahmen. Leonore war erstaunt über die Strenge der Etiquette, welche alle Bewegungen regelte, und die doch so übel angebracht war bei einer Schaar beraubter Flüchtlinge: aber noch weit mehr war sie erstaunt über die Gespräche, welche rechts und links von ihr geführt wurden. Sie sah, daß Frau von Breteuil durchaus nicht eine Thörin auf ihre eigene Rechnung war, wie sie geglaubt hatte, sondern daß alle diese Menschen in gleichem Tone redeten. Man moquirte sich aufs Grausamste über die deutschen Gäste, welche am gestrigen Abende sich eingefunden, obwohl sie Eltern, Brüder, Schwestern der Anwesenden großmüthig unter ihr Dach aufgenommen hatten und eine verschwenderische Gastlichkeit gegen dieselben übten. Die

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[0094] Diener eintrat und meldete, daß das Frühstück servirt sei. Frau von Breteuil begab sich mit Leonoren in den Speisesaal. Mehrere Herren traten ihr entgegen und umgaben sie. Ein gewisser Uebermuth in ihrem Wesen, etwas, das wie spöttisches Lächeln aussah, begann Leonoren zu verletzen. Aber nach wenig Augenblicken flog eine Flügelthüre auf, der Ruf: Son Altesse royale! tönte durch den Saal, die Anwesenden bildeten in ehrfurchtsvoller Haltung ein Spalier und verbeugten sich tief, als der Graf von Artois an ihnen vorüberschritt, um sich an einem oben im Saale aufgestellten erhöhten Tische niederzulassen. Er frühstückt allein, während die Uebrigen an einer größeren Tafel Platz nahmen. Leonore war erstaunt über die Strenge der Etiquette, welche alle Bewegungen regelte, und die doch so übel angebracht war bei einer Schaar beraubter Flüchtlinge: aber noch weit mehr war sie erstaunt über die Gespräche, welche rechts und links von ihr geführt wurden. Sie sah, daß Frau von Breteuil durchaus nicht eine Thörin auf ihre eigene Rechnung war, wie sie geglaubt hatte, sondern daß alle diese Menschen in gleichem Tone redeten. Man moquirte sich aufs Grausamste über die deutschen Gäste, welche am gestrigen Abende sich eingefunden, obwohl sie Eltern, Brüder, Schwestern der Anwesenden großmüthig unter ihr Dach aufgenommen hatten und eine verschwenderische Gastlichkeit gegen dieselben übten. Die

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

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Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/94>, abgerufen am 24.11.2024.