Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.im Sterben und ächzte; die Wände aber mit den zerfetzten Tapeten und den gewaltigen, regellosen Mauerrissen sahen aus wie verzerrte hohläugige Gesichter, die im Schmerze Grimassen schneiden, welche sich im Tode versteinern werden. Da die Fensterläden geschlossen waren und die Dämmerung also nur ein unendlich dürftiges Theilchen Licht in die alten Gelasse kommen ließ, so hatte Alles einen desto schauerlicheren, gespenstischeren Charakter. Leonore von Windschrot suchte ein Eckzimmer im ersten Stocke auf. Wie auf der Flucht vor einem Feinde, der alle übrigen Theile der Festung bereits eingenommen hat, schien sich Alles, was von Wohnlichkeit und Eleganz in diesem Schlosse noch zu finden, hier in seinen letzten Versteck zurückgezogen zu haben. Ein großes Himmelbett mit grünen Sergevorhängen, ein Marmortisch mit geschnitzten und vergoldeten Füßen, darüber ein Spiegel, nach alter Mode von einer aus einzelnen kleinen Spiegelgläsern zusammengesetzten Cartouche umrahmt -- dann ein Sopha mit krummen Dachsbeinen und verschossenem Calicotüberzuge -- Fenstervorhänge von demselben Zeuge, nur um einige Grade im Wettkampf, wer zuerst zu vollständigem Grau verblichen, dem trägen Lotterbett voraus -- das waren die Hauptbestandtheile dieser Einrichtung. Leonore warf sich ermüdet nieder, und nachdem sie das Mädchen mit einigen Aufträgen fortgesandt, legte sie den Kopf auf die Sophalehne, um träumerisch im Sterben und ächzte; die Wände aber mit den zerfetzten Tapeten und den gewaltigen, regellosen Mauerrissen sahen aus wie verzerrte hohläugige Gesichter, die im Schmerze Grimassen schneiden, welche sich im Tode versteinern werden. Da die Fensterläden geschlossen waren und die Dämmerung also nur ein unendlich dürftiges Theilchen Licht in die alten Gelasse kommen ließ, so hatte Alles einen desto schauerlicheren, gespenstischeren Charakter. Leonore von Windschrot suchte ein Eckzimmer im ersten Stocke auf. Wie auf der Flucht vor einem Feinde, der alle übrigen Theile der Festung bereits eingenommen hat, schien sich Alles, was von Wohnlichkeit und Eleganz in diesem Schlosse noch zu finden, hier in seinen letzten Versteck zurückgezogen zu haben. Ein großes Himmelbett mit grünen Sergevorhängen, ein Marmortisch mit geschnitzten und vergoldeten Füßen, darüber ein Spiegel, nach alter Mode von einer aus einzelnen kleinen Spiegelgläsern zusammengesetzten Cartouche umrahmt — dann ein Sopha mit krummen Dachsbeinen und verschossenem Calicotüberzuge — Fenstervorhänge von demselben Zeuge, nur um einige Grade im Wettkampf, wer zuerst zu vollständigem Grau verblichen, dem trägen Lotterbett voraus — das waren die Hauptbestandtheile dieser Einrichtung. Leonore warf sich ermüdet nieder, und nachdem sie das Mädchen mit einigen Aufträgen fortgesandt, legte sie den Kopf auf die Sophalehne, um träumerisch <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0019"/> im Sterben und ächzte; die Wände aber mit den zerfetzten Tapeten und den gewaltigen, regellosen Mauerrissen sahen aus wie verzerrte hohläugige Gesichter, die im Schmerze Grimassen schneiden, welche sich im Tode versteinern werden. Da die Fensterläden geschlossen waren und die Dämmerung also nur ein unendlich dürftiges Theilchen Licht in die alten Gelasse kommen ließ, so hatte Alles einen desto schauerlicheren, gespenstischeren Charakter.</p><lb/> <p>Leonore von Windschrot suchte ein Eckzimmer im ersten Stocke auf. Wie auf der Flucht vor einem Feinde, der alle übrigen Theile der Festung bereits eingenommen hat, schien sich Alles, was von Wohnlichkeit und Eleganz in diesem Schlosse noch zu finden, hier in seinen letzten Versteck zurückgezogen zu haben. Ein großes Himmelbett mit grünen Sergevorhängen, ein Marmortisch mit geschnitzten und vergoldeten Füßen, darüber ein Spiegel, nach alter Mode von einer aus einzelnen kleinen Spiegelgläsern zusammengesetzten Cartouche umrahmt — dann ein Sopha mit krummen Dachsbeinen und verschossenem Calicotüberzuge — Fenstervorhänge von demselben Zeuge, nur um einige Grade im Wettkampf, wer zuerst zu vollständigem Grau verblichen, dem trägen Lotterbett voraus — das waren die Hauptbestandtheile dieser Einrichtung.</p><lb/> <p>Leonore warf sich ermüdet nieder, und nachdem sie das Mädchen mit einigen Aufträgen fortgesandt, legte sie den Kopf auf die Sophalehne, um träumerisch<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
im Sterben und ächzte; die Wände aber mit den zerfetzten Tapeten und den gewaltigen, regellosen Mauerrissen sahen aus wie verzerrte hohläugige Gesichter, die im Schmerze Grimassen schneiden, welche sich im Tode versteinern werden. Da die Fensterläden geschlossen waren und die Dämmerung also nur ein unendlich dürftiges Theilchen Licht in die alten Gelasse kommen ließ, so hatte Alles einen desto schauerlicheren, gespenstischeren Charakter.
Leonore von Windschrot suchte ein Eckzimmer im ersten Stocke auf. Wie auf der Flucht vor einem Feinde, der alle übrigen Theile der Festung bereits eingenommen hat, schien sich Alles, was von Wohnlichkeit und Eleganz in diesem Schlosse noch zu finden, hier in seinen letzten Versteck zurückgezogen zu haben. Ein großes Himmelbett mit grünen Sergevorhängen, ein Marmortisch mit geschnitzten und vergoldeten Füßen, darüber ein Spiegel, nach alter Mode von einer aus einzelnen kleinen Spiegelgläsern zusammengesetzten Cartouche umrahmt — dann ein Sopha mit krummen Dachsbeinen und verschossenem Calicotüberzuge — Fenstervorhänge von demselben Zeuge, nur um einige Grade im Wettkampf, wer zuerst zu vollständigem Grau verblichen, dem trägen Lotterbett voraus — das waren die Hauptbestandtheile dieser Einrichtung.
Leonore warf sich ermüdet nieder, und nachdem sie das Mädchen mit einigen Aufträgen fortgesandt, legte sie den Kopf auf die Sophalehne, um träumerisch
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Zitationshilfe: | Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/19>, abgerufen am 16.02.2025. |