Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Du hast sie ermordet -- schrie der Alte und knirschte drohend mit den Zähnen. Joseph stieß einen Schrei aus und stürmte fort, trotz Dunkelheit und Nacht. Er wollte zu Artois. IX. Wo war Leonore? Sie war nach ihrer Flucht lange fortgewandert, ohne zu ermüden. Sie folgte dem Fußpfade, den sie eingeschlagen und der durch den Wald in einer Richtung führte, in welcher ihr Windschrot zu liegen schien. Zorn und Entrüstung trugen sie, und ihr Fuß hob sich elastisch und federkräftig zu raschen Schritten. So war sie gewiß eine gute Stunde weit gekommen. Da fühlte sie, daß ihre Kräfte sie plötzlich und vollständig verließen. Und mit der Abspannung bemächtigte sich eine grauenhafte Trostlosigkeit ihrer Seele. Auf einem gefällten Baumstamme ausruhend, blickte sie thränenlos, aber Verzweiflung im Herzen, auf das gelbe Moos zu ihren Füßen. Ihr Inneres war zerrissen, ihr Stolz zu Boden getreten, der reine Schmelz ihrer Jungfräulichkeit von der Sünde angehaucht -- es stand kein Götterbild mehr im Tempel ihres Herzens, das nicht von seinem Throne gestürzt, das nicht als eitel Thon zu Staub und Scherben zerschmettert wäre! Du hast sie ermordet — schrie der Alte und knirschte drohend mit den Zähnen. Joseph stieß einen Schrei aus und stürmte fort, trotz Dunkelheit und Nacht. Er wollte zu Artois. IX. Wo war Leonore? Sie war nach ihrer Flucht lange fortgewandert, ohne zu ermüden. Sie folgte dem Fußpfade, den sie eingeschlagen und der durch den Wald in einer Richtung führte, in welcher ihr Windschrot zu liegen schien. Zorn und Entrüstung trugen sie, und ihr Fuß hob sich elastisch und federkräftig zu raschen Schritten. So war sie gewiß eine gute Stunde weit gekommen. Da fühlte sie, daß ihre Kräfte sie plötzlich und vollständig verließen. Und mit der Abspannung bemächtigte sich eine grauenhafte Trostlosigkeit ihrer Seele. Auf einem gefällten Baumstamme ausruhend, blickte sie thränenlos, aber Verzweiflung im Herzen, auf das gelbe Moos zu ihren Füßen. Ihr Inneres war zerrissen, ihr Stolz zu Boden getreten, der reine Schmelz ihrer Jungfräulichkeit von der Sünde angehaucht — es stand kein Götterbild mehr im Tempel ihres Herzens, das nicht von seinem Throne gestürzt, das nicht als eitel Thon zu Staub und Scherben zerschmettert wäre! <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="8"> <pb facs="#f0111"/> <p>Du hast sie ermordet — schrie der Alte und knirschte drohend mit den Zähnen.</p><lb/> <p>Joseph stieß einen Schrei aus und stürmte fort, trotz Dunkelheit und Nacht. Er wollte zu Artois.</p><lb/> </div> <div type="chapter" n="9"> <head>IX.</head> <p>Wo war Leonore?</p><lb/> <p>Sie war nach ihrer Flucht lange fortgewandert, ohne zu ermüden. Sie folgte dem Fußpfade, den sie eingeschlagen und der durch den Wald in einer Richtung führte, in welcher ihr Windschrot zu liegen schien. Zorn und Entrüstung trugen sie, und ihr Fuß hob sich elastisch und federkräftig zu raschen Schritten. So war sie gewiß eine gute Stunde weit gekommen. Da fühlte sie, daß ihre Kräfte sie plötzlich und vollständig verließen. Und mit der Abspannung bemächtigte sich eine grauenhafte Trostlosigkeit ihrer Seele. Auf einem gefällten Baumstamme ausruhend, blickte sie thränenlos, aber Verzweiflung im Herzen, auf das gelbe Moos zu ihren Füßen. Ihr Inneres war zerrissen, ihr Stolz zu Boden getreten, der reine Schmelz ihrer Jungfräulichkeit von der Sünde angehaucht — es stand kein Götterbild mehr im Tempel ihres Herzens, das nicht von seinem Throne gestürzt, das nicht als eitel Thon zu Staub und Scherben zerschmettert wäre!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0111]
Du hast sie ermordet — schrie der Alte und knirschte drohend mit den Zähnen.
Joseph stieß einen Schrei aus und stürmte fort, trotz Dunkelheit und Nacht. Er wollte zu Artois.
IX. Wo war Leonore?
Sie war nach ihrer Flucht lange fortgewandert, ohne zu ermüden. Sie folgte dem Fußpfade, den sie eingeschlagen und der durch den Wald in einer Richtung führte, in welcher ihr Windschrot zu liegen schien. Zorn und Entrüstung trugen sie, und ihr Fuß hob sich elastisch und federkräftig zu raschen Schritten. So war sie gewiß eine gute Stunde weit gekommen. Da fühlte sie, daß ihre Kräfte sie plötzlich und vollständig verließen. Und mit der Abspannung bemächtigte sich eine grauenhafte Trostlosigkeit ihrer Seele. Auf einem gefällten Baumstamme ausruhend, blickte sie thränenlos, aber Verzweiflung im Herzen, auf das gelbe Moos zu ihren Füßen. Ihr Inneres war zerrissen, ihr Stolz zu Boden getreten, der reine Schmelz ihrer Jungfräulichkeit von der Sünde angehaucht — es stand kein Götterbild mehr im Tempel ihres Herzens, das nicht von seinem Throne gestürzt, das nicht als eitel Thon zu Staub und Scherben zerschmettert wäre!
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Zitationshilfe: | Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/111>, abgerufen am 17.02.2025. |