Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 18). 2. Bd. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

elenden Dorf, das sich hinter Kastell San Vitale erhob. In einem halb zugeschaufelten Grab hatte sie sie gefunden, in der Erde wühlend.

Seither hatte sie immer in derselben Stube geschlafen mit Gina. Sie hatte die Fenster vergittern lassen und am Abend die Thür zugesperrt und den Schlüssel unter ihr Kopfkissen gesteckt. Und von da an war Ruhe, und Emma vergaß ihren Schrecken und dachte, daß es sich um etwas Vorübergehendes gehandelt habe, aus dem sich das Kind herauswachsen würde.

Aber sie hatte sich geirrt. Das Ärgste, das Grausigste kam, als Gina zwischen dreizehn und vierzehn Jahre zählte, und wieder in einer Vollmondnacht kam's.

Emma fragte sich, ob sie den Verstand verloren habe. Sie wußte nicht, was sie anfangen solle, sie wagte es nicht, das Geheimnis der Schwester einem Arzt preiszugeben. Endlich begab sie sich heimlich zu einer weisen Frau, die in einer Art Höhle am Felsenabhang wohnte und seit mehr als vierzig Jahren in der ganzen Umgebung Rat erteilte und ihre Hexenkünste betrieb.

Als Emma die Schilderung der geheimnisvollen Krankheit ihrer Schwester beendet hatte, schüttelte die Alte den Kopf, seufzte und meinte endlich: das sei alles nicht so merkwürdig und in Anbetracht der Umstände,

elenden Dorf, das sich hinter Kastell San Vitale erhob. In einem halb zugeschaufelten Grab hatte sie sie gefunden, in der Erde wühlend.

Seither hatte sie immer in derselben Stube geschlafen mit Gina. Sie hatte die Fenster vergittern lassen und am Abend die Thür zugesperrt und den Schlüssel unter ihr Kopfkissen gesteckt. Und von da an war Ruhe, und Emma vergaß ihren Schrecken und dachte, daß es sich um etwas Vorübergehendes gehandelt habe, aus dem sich das Kind herauswachsen würde.

Aber sie hatte sich geirrt. Das Ärgste, das Grausigste kam, als Gina zwischen dreizehn und vierzehn Jahre zählte, und wieder in einer Vollmondnacht kam’s.

Emma fragte sich, ob sie den Verstand verloren habe. Sie wußte nicht, was sie anfangen solle, sie wagte es nicht, das Geheimnis der Schwester einem Arzt preiszugeben. Endlich begab sie sich heimlich zu einer weisen Frau, die in einer Art Höhle am Felsenabhang wohnte und seit mehr als vierzig Jahren in der ganzen Umgebung Rat erteilte und ihre Hexenkünste betrieb.

Als Emma die Schilderung der geheimnisvollen Krankheit ihrer Schwester beendet hatte, schüttelte die Alte den Kopf, seufzte und meinte endlich: das sei alles nicht so merkwürdig und in Anbetracht der Umstände,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0036" n="36"/>
elenden Dorf, das sich hinter Kastell San Vitale erhob. In einem halb zugeschaufelten Grab hatte sie sie gefunden, in der Erde wühlend.</p>
        <p>Seither hatte sie immer in derselben Stube geschlafen mit Gina. Sie hatte die Fenster vergittern lassen und am Abend die Thür zugesperrt und den Schlüssel unter ihr Kopfkissen gesteckt. Und von da an war Ruhe, und Emma vergaß ihren Schrecken und dachte, daß es sich um etwas Vorübergehendes gehandelt habe, aus dem sich das Kind herauswachsen würde.</p>
        <p>Aber sie hatte sich geirrt. Das Ärgste, das Grausigste kam, als Gina zwischen dreizehn und vierzehn Jahre zählte, und wieder in einer Vollmondnacht kam&#x2019;s.</p>
        <p>Emma fragte sich, ob sie den Verstand verloren habe. Sie wußte nicht, was sie anfangen solle, sie wagte es nicht, das Geheimnis der Schwester einem Arzt preiszugeben. Endlich begab sie sich heimlich zu einer weisen Frau, die in einer Art Höhle am Felsenabhang wohnte und seit mehr als vierzig Jahren in der ganzen Umgebung Rat erteilte und ihre Hexenkünste betrieb.</p>
        <p>Als Emma die Schilderung der geheimnisvollen Krankheit ihrer Schwester beendet hatte, schüttelte die Alte den Kopf, seufzte und meinte endlich: das sei alles nicht so merkwürdig und in Anbetracht der Umstände,
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0036] elenden Dorf, das sich hinter Kastell San Vitale erhob. In einem halb zugeschaufelten Grab hatte sie sie gefunden, in der Erde wühlend. Seither hatte sie immer in derselben Stube geschlafen mit Gina. Sie hatte die Fenster vergittern lassen und am Abend die Thür zugesperrt und den Schlüssel unter ihr Kopfkissen gesteckt. Und von da an war Ruhe, und Emma vergaß ihren Schrecken und dachte, daß es sich um etwas Vorübergehendes gehandelt habe, aus dem sich das Kind herauswachsen würde. Aber sie hatte sich geirrt. Das Ärgste, das Grausigste kam, als Gina zwischen dreizehn und vierzehn Jahre zählte, und wieder in einer Vollmondnacht kam’s. Emma fragte sich, ob sie den Verstand verloren habe. Sie wußte nicht, was sie anfangen solle, sie wagte es nicht, das Geheimnis der Schwester einem Arzt preiszugeben. Endlich begab sie sich heimlich zu einer weisen Frau, die in einer Art Höhle am Felsenabhang wohnte und seit mehr als vierzig Jahren in der ganzen Umgebung Rat erteilte und ihre Hexenkünste betrieb. Als Emma die Schilderung der geheimnisvollen Krankheit ihrer Schwester beendet hatte, schüttelte die Alte den Kopf, seufzte und meinte endlich: das sei alles nicht so merkwürdig und in Anbetracht der Umstände,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-29T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-29T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Geviertstriche „—“ werden als normale Gedankenstriche „–“ wiedergegeben.
  • Die Majuskelschreibweise Ae, Oe, Ue wird als Ä, Ö, Ü wiedergegeben.
  • Worttrennungen am Zeilenende werden ignoriert. Das Wort wird noch auf der gleichen Seite vervollständigt.
  • Die Transkription folgt im Übrigen dem Original.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899/36
Zitationshilfe: Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 18). 2. Bd. Stuttgart, 1899, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899/36>, abgerufen am 23.11.2024.