Schubin, Ossip: Etiquette. Eine Rococo-Arabeske. Berlin, 1887.VIII. Elf Uhr! ... Sie sitzt in ihrem Boudoir, einsam wachend, der Pendüle gegenüber, die mit ihrem feinen Stimmchen beim Ablauf jeglicher Stunde irgend ein Tanzstückchen singt. Elf Uhr! ... in zwei Stunden ... in zwei Stunden wird sie ihn wiedersehen. Eine irre Seligkeit durchzuckt ihre Adern, und dennoch ... sie legt die Hände an die heißen Wangen, denkt an die spöttischen Augen Gabrielle's. Man hat sie bis jetzt stets den Tugendspiegel genannt, - Jeder hat es gewußt, daß ihre Liebe zu Lancelot de Letoriere etwas völlig Reines, Heiliges war, daß der leichtsinnige Taugenichts sich um ihretwillen in einen Schwärmer verwandelt hatte. Mein Gott, es wäre arg genug, das Bewußtsein all' dieser häßlichen Heimlichkeit mit sich herumzutragen; aber wenn sie Jemand überraschte - dann ... Sie schaudert, - vielleicht wär' es VIII. Elf Uhr! … Sie sitzt in ihrem Boudoir, einsam wachend, der Pendüle gegenüber, die mit ihrem feinen Stimmchen beim Ablauf jeglicher Stunde irgend ein Tanzstückchen singt. Elf Uhr! … in zwei Stunden … in zwei Stunden wird sie ihn wiedersehen. Eine irre Seligkeit durchzuckt ihre Adern, und dennoch … sie legt die Hände an die heißen Wangen, denkt an die spöttischen Augen Gabrielle’s. Man hat sie bis jetzt stets den Tugendspiegel genannt, – Jeder hat es gewußt, daß ihre Liebe zu Lancelot de Letorière etwas völlig Reines, Heiliges war, daß der leichtsinnige Taugenichts sich um ihretwillen in einen Schwärmer verwandelt hatte. Mein Gott, es wäre arg genug, das Bewußtsein all’ dieser häßlichen Heimlichkeit mit sich herumzutragen; aber wenn sie Jemand überraschte – dann … Sie schaudert, – vielleicht wär’ es <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0083" n="83"/> <div n="1"> <head>VIII.</head> <p>Elf Uhr! … Sie sitzt in ihrem Boudoir, einsam wachend, der Pendüle gegenüber, die mit ihrem feinen Stimmchen beim Ablauf jeglicher Stunde irgend ein Tanzstückchen singt.</p> <p>Elf Uhr! … in zwei Stunden … in zwei Stunden wird sie ihn wiedersehen. Eine irre Seligkeit durchzuckt ihre Adern, und dennoch … sie legt die Hände an die heißen Wangen, denkt an die spöttischen Augen Gabrielle’s. Man hat sie bis jetzt stets den Tugendspiegel genannt, – Jeder hat es gewußt, daß ihre Liebe zu Lancelot de Letorière etwas völlig Reines, Heiliges war, daß der leichtsinnige Taugenichts sich um ihretwillen in einen Schwärmer verwandelt hatte. Mein Gott, es wäre arg genug, das Bewußtsein all’ dieser häßlichen Heimlichkeit mit sich herumzutragen; aber wenn sie Jemand überraschte – dann … Sie schaudert, – vielleicht wär’ es </p> </div> </body> </text> </TEI> [83/0083]
VIII. Elf Uhr! … Sie sitzt in ihrem Boudoir, einsam wachend, der Pendüle gegenüber, die mit ihrem feinen Stimmchen beim Ablauf jeglicher Stunde irgend ein Tanzstückchen singt.
Elf Uhr! … in zwei Stunden … in zwei Stunden wird sie ihn wiedersehen. Eine irre Seligkeit durchzuckt ihre Adern, und dennoch … sie legt die Hände an die heißen Wangen, denkt an die spöttischen Augen Gabrielle’s. Man hat sie bis jetzt stets den Tugendspiegel genannt, – Jeder hat es gewußt, daß ihre Liebe zu Lancelot de Letorière etwas völlig Reines, Heiliges war, daß der leichtsinnige Taugenichts sich um ihretwillen in einen Schwärmer verwandelt hatte. Mein Gott, es wäre arg genug, das Bewußtsein all’ dieser häßlichen Heimlichkeit mit sich herumzutragen; aber wenn sie Jemand überraschte – dann … Sie schaudert, – vielleicht wär’ es
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Zitationshilfe: | Schubin, Ossip: Etiquette. Eine Rococo-Arabeske. Berlin, 1887, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_etiquette_1887/83>, abgerufen am 16.07.2024. |