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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

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Nachtwandler, der sich, befangen im engen Zimmer,
an einem ganz anderen Orte wähnt, und dessen Hand-
lungen deßhalb im lächerlichsten Contrast mit seiner
Umgebung stehen. -- Die uns umgebende Sinnen-
welt sollte nach den vorhin gebrauchten Worten Sym-
bol, bildlicher Ausdruck der höheren Region, und des
Gegenstandes unserer geistigen Neigung seyn. Durch
eine optische Täuschung ist aber der Schatten zum Ur-
bild, dieses zum Schatten seines Schattens gewor-
den: jene Sinnenwelt, die für uns Region der ruhi-
gen, kalten Reflexion und eine Bildersprache seyn soll-
te, deren Bedeutung sich auf den Gegenstand der hö-
heren Neigung bloß bezogen, ist nun für uns der Ge-
genstand jener Neigung selber, und Region der Liebe,
des Gefühls; dagegen ist uns die geistige Sphäre Re-
gion der kalten Reflexion geworden. Die sinnlichen
Eigenschaften jener (symbolischen) Gestalten, erscheinen
uns nun als ihre Bedeutung, der ursprüngliche Sinn
derselben ist uns erloschen; umgekehrt sehen wir dage-
gen die Gegenstände der geistigen Region zum Bilde
und Symbol der Gegenstände unserer sinnlichen Nei-
gung herabgewürdigt, und die mit ihrer ganzen un-
sterblichen Kraft im Dienste des Nichtigen befangene
Seele, mißbraucht in seltsamer Verkehrtheit die Strah-
len selbst des geistigsten Lichtes bloß zu einer niedri-
gen Ausschmückung ihres schmutzigen und armen Auf-
enthaltes; wie in der sinnlichen Welt der Sclav zer-
störender Lüste selbst die kaum wieder erlangte Gesund-
heit nur zur schnelleren Selbstzerstörung benützt. Ein
altes Mißverständniß, eine alte Verwechslung hat
demnach das Aeußere zum Innern, das Niedere zum
Höheren und umgekehrt gemacht, und in unglücklicher

Ehe

Nachtwandler, der ſich, befangen im engen Zimmer,
an einem ganz anderen Orte waͤhnt, und deſſen Hand-
lungen deßhalb im laͤcherlichſten Contraſt mit ſeiner
Umgebung ſtehen. — Die uns umgebende Sinnen-
welt ſollte nach den vorhin gebrauchten Worten Sym-
bol, bildlicher Ausdruck der hoͤheren Region, und des
Gegenſtandes unſerer geiſtigen Neigung ſeyn. Durch
eine optiſche Taͤuſchung iſt aber der Schatten zum Ur-
bild, dieſes zum Schatten ſeines Schattens gewor-
den: jene Sinnenwelt, die fuͤr uns Region der ruhi-
gen, kalten Reflexion und eine Bilderſprache ſeyn ſoll-
te, deren Bedeutung ſich auf den Gegenſtand der hoͤ-
heren Neigung bloß bezogen, iſt nun fuͤr uns der Ge-
genſtand jener Neigung ſelber, und Region der Liebe,
des Gefuͤhls; dagegen iſt uns die geiſtige Sphaͤre Re-
gion der kalten Reflexion geworden. Die ſinnlichen
Eigenſchaften jener (ſymboliſchen) Geſtalten, erſcheinen
uns nun als ihre Bedeutung, der urſpruͤngliche Sinn
derſelben iſt uns erloſchen; umgekehrt ſehen wir dage-
gen die Gegenſtaͤnde der geiſtigen Region zum Bilde
und Symbol der Gegenſtaͤnde unſerer ſinnlichen Nei-
gung herabgewuͤrdigt, und die mit ihrer ganzen un-
ſterblichen Kraft im Dienſte des Nichtigen befangene
Seele, mißbraucht in ſeltſamer Verkehrtheit die Strah-
len ſelbſt des geiſtigſten Lichtes bloß zu einer niedri-
gen Ausſchmuͤckung ihres ſchmutzigen und armen Auf-
enthaltes; wie in der ſinnlichen Welt der Sclav zer-
ſtoͤrender Luͤſte ſelbſt die kaum wieder erlangte Geſund-
heit nur zur ſchnelleren Selbſtzerſtoͤrung benuͤtzt. Ein
altes Mißverſtaͤndniß, eine alte Verwechslung hat
demnach das Aeußere zum Innern, das Niedere zum
Hoͤheren und umgekehrt gemacht, und in ungluͤcklicher

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[77/0087] Nachtwandler, der ſich, befangen im engen Zimmer, an einem ganz anderen Orte waͤhnt, und deſſen Hand- lungen deßhalb im laͤcherlichſten Contraſt mit ſeiner Umgebung ſtehen. — Die uns umgebende Sinnen- welt ſollte nach den vorhin gebrauchten Worten Sym- bol, bildlicher Ausdruck der hoͤheren Region, und des Gegenſtandes unſerer geiſtigen Neigung ſeyn. Durch eine optiſche Taͤuſchung iſt aber der Schatten zum Ur- bild, dieſes zum Schatten ſeines Schattens gewor- den: jene Sinnenwelt, die fuͤr uns Region der ruhi- gen, kalten Reflexion und eine Bilderſprache ſeyn ſoll- te, deren Bedeutung ſich auf den Gegenſtand der hoͤ- heren Neigung bloß bezogen, iſt nun fuͤr uns der Ge- genſtand jener Neigung ſelber, und Region der Liebe, des Gefuͤhls; dagegen iſt uns die geiſtige Sphaͤre Re- gion der kalten Reflexion geworden. Die ſinnlichen Eigenſchaften jener (ſymboliſchen) Geſtalten, erſcheinen uns nun als ihre Bedeutung, der urſpruͤngliche Sinn derſelben iſt uns erloſchen; umgekehrt ſehen wir dage- gen die Gegenſtaͤnde der geiſtigen Region zum Bilde und Symbol der Gegenſtaͤnde unſerer ſinnlichen Nei- gung herabgewuͤrdigt, und die mit ihrer ganzen un- ſterblichen Kraft im Dienſte des Nichtigen befangene Seele, mißbraucht in ſeltſamer Verkehrtheit die Strah- len ſelbſt des geiſtigſten Lichtes bloß zu einer niedri- gen Ausſchmuͤckung ihres ſchmutzigen und armen Auf- enthaltes; wie in der ſinnlichen Welt der Sclav zer- ſtoͤrender Luͤſte ſelbſt die kaum wieder erlangte Geſund- heit nur zur ſchnelleren Selbſtzerſtoͤrung benuͤtzt. Ein altes Mißverſtaͤndniß, eine alte Verwechslung hat demnach das Aeußere zum Innern, das Niedere zum Hoͤheren und umgekehrt gemacht, und in ungluͤcklicher Ehe

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/87>, abgerufen am 24.11.2024.