Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Wurzel jenes alten Mißverständnisses liegt
tief. Schon dem Alterthum war jener fleischgeworde-
ne Gott, der ein Führer der Seelen aus der Sinn-
lichkeit zurück zu ihrem reinen, göttlichen Ursprung,
ein Beyspiel aller Verläugnung sinnlicher Selbstsucht
und wohlthätiger Aufopferung für Alle war, zugleich
Hervorbringer und Herrscher der sinnlichen Lustregion.
Er war ein Vertheiler der Speise, und wie die ganze
Natur sichtbare Offenbarung jenes göttlichen Wortes
-- Leib desselben war, so theilte sich dieser Leib dem
Menschen in jeder Speise, jedem Trank, jedem Sin-
nesgenusse mit. Er war deßhalb der Milde, der Gü-
tige, der freygebige Austheiler sinnlicher Freuden, in
dessen genußvollem Reiche die körperliche Natur es sich
wohl seyn ließ -- der freundliche Spender süßer Won-
ne. *) Freylich hatte derselbe Sinnesgott sein Fleisch
auch in einem andern Sinne vertheilt, war ursprüng-
lich der Geber anderer Freuden, anderer Genüsse.

Die Seelen, herabgesunken aus der reinen, hei-
teren Region des Ursprungs, in das lustige Sinnen-
reich des Dionysos, vergaßen gar bald in dieser war-
men behaglichen Welt körperlichen Genusses, die Rück-
kehr in die Heymath und die Heimath selber. Aber
eben der Gott, durch dessen Spiegel die Sehnsucht
nach der niederen, gröberen Region in ihnen entzün-
det war, und der sie in seiner Sinnenwelt die Heimat[h]
vergessen machte, war ja auch der Führer in diese
zurück, reichte ihnen jenen Becher der Weisheit und

der
*) Creuzer, a. a. O. III. 453. u. s. f.

Die Wurzel jenes alten Mißverſtaͤndniſſes liegt
tief. Schon dem Alterthum war jener fleiſchgeworde-
ne Gott, der ein Fuͤhrer der Seelen aus der Sinn-
lichkeit zuruͤck zu ihrem reinen, goͤttlichen Urſprung,
ein Beyſpiel aller Verlaͤugnung ſinnlicher Selbſtſucht
und wohlthaͤtiger Aufopferung fuͤr Alle war, zugleich
Hervorbringer und Herrſcher der ſinnlichen Luſtregion.
Er war ein Vertheiler der Speiſe, und wie die ganze
Natur ſichtbare Offenbarung jenes goͤttlichen Wortes
— Leib deſſelben war, ſo theilte ſich dieſer Leib dem
Menſchen in jeder Speiſe, jedem Trank, jedem Sin-
nesgenuſſe mit. Er war deßhalb der Milde, der Guͤ-
tige, der freygebige Austheiler ſinnlicher Freuden, in
deſſen genußvollem Reiche die koͤrperliche Natur es ſich
wohl ſeyn ließ — der freundliche Spender ſuͤßer Won-
ne. *) Freylich hatte derſelbe Sinnesgott ſein Fleiſch
auch in einem andern Sinne vertheilt, war urſpruͤng-
lich der Geber anderer Freuden, anderer Genuͤſſe.

Die Seelen, herabgeſunken aus der reinen, hei-
teren Region des Urſprungs, in das luſtige Sinnen-
reich des Dionyſos, vergaßen gar bald in dieſer war-
men behaglichen Welt koͤrperlichen Genuſſes, die Ruͤck-
kehr in die Heymath und die Heimath ſelber. Aber
eben der Gott, durch deſſen Spiegel die Sehnſucht
nach der niederen, groͤberen Region in ihnen entzuͤn-
det war, und der ſie in ſeiner Sinnenwelt die Heimat[h]
vergeſſen machte, war ja auch der Fuͤhrer in dieſe
zuruͤck, reichte ihnen jenen Becher der Weisheit und

der
*) Creuzer, a. a. O. III. 453. u. ſ. f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0085" n="75"/>
        <p>Die Wurzel jenes alten Mißver&#x017F;ta&#x0364;ndni&#x017F;&#x017F;es liegt<lb/>
tief. Schon dem Alterthum war jener flei&#x017F;chgeworde-<lb/>
ne Gott, der ein Fu&#x0364;hrer der Seelen aus der Sinn-<lb/>
lichkeit zuru&#x0364;ck zu ihrem reinen, go&#x0364;ttlichen Ur&#x017F;prung,<lb/>
ein Bey&#x017F;piel aller Verla&#x0364;ugnung &#x017F;innlicher Selb&#x017F;t&#x017F;ucht<lb/>
und wohltha&#x0364;tiger Aufopferung fu&#x0364;r Alle war, zugleich<lb/>
Hervorbringer und Herr&#x017F;cher der &#x017F;innlichen Lu&#x017F;tregion.<lb/>
Er war ein Vertheiler der Spei&#x017F;e, und wie die ganze<lb/>
Natur &#x017F;ichtbare Offenbarung jenes go&#x0364;ttlichen Wortes<lb/>
&#x2014; Leib de&#x017F;&#x017F;elben war, &#x017F;o theilte &#x017F;ich die&#x017F;er Leib dem<lb/>
Men&#x017F;chen in jeder Spei&#x017F;e, jedem Trank, jedem Sin-<lb/>
nesgenu&#x017F;&#x017F;e mit. Er war deßhalb der Milde, der Gu&#x0364;-<lb/>
tige, der freygebige Austheiler &#x017F;innlicher Freuden, in<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en genußvollem Reiche die ko&#x0364;rperliche Natur es &#x017F;ich<lb/>
wohl &#x017F;eyn ließ &#x2014; der freundliche Spender &#x017F;u&#x0364;ßer Won-<lb/>
ne. <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Creuzer,</hi> a. a. O. <hi rendition="#aq">III.</hi> 453. u. &#x017F;. f.</note> Freylich hatte der&#x017F;elbe Sinnesgott &#x017F;ein Flei&#x017F;ch<lb/>
auch in einem andern Sinne vertheilt, war ur&#x017F;pru&#x0364;ng-<lb/>
lich der Geber anderer Freuden, anderer Genu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
        <p>Die Seelen, herabge&#x017F;unken aus der reinen, hei-<lb/>
teren Region des Ur&#x017F;prungs, in das lu&#x017F;tige Sinnen-<lb/>
reich des Diony&#x017F;os, vergaßen gar bald in die&#x017F;er war-<lb/>
men behaglichen Welt ko&#x0364;rperlichen Genu&#x017F;&#x017F;es, die Ru&#x0364;ck-<lb/>
kehr in die Heymath und die Heimath &#x017F;elber. Aber<lb/>
eben der Gott, durch de&#x017F;&#x017F;en Spiegel die Sehn&#x017F;ucht<lb/>
nach der niederen, gro&#x0364;beren Region in ihnen entzu&#x0364;n-<lb/>
det war, und der &#x017F;ie in &#x017F;einer Sinnenwelt die Heimat<supplied>h</supplied><lb/>
verge&#x017F;&#x017F;en machte, war ja auch der Fu&#x0364;hrer in die&#x017F;e<lb/>
zuru&#x0364;ck, reichte ihnen jenen Becher der Weisheit und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0085] Die Wurzel jenes alten Mißverſtaͤndniſſes liegt tief. Schon dem Alterthum war jener fleiſchgeworde- ne Gott, der ein Fuͤhrer der Seelen aus der Sinn- lichkeit zuruͤck zu ihrem reinen, goͤttlichen Urſprung, ein Beyſpiel aller Verlaͤugnung ſinnlicher Selbſtſucht und wohlthaͤtiger Aufopferung fuͤr Alle war, zugleich Hervorbringer und Herrſcher der ſinnlichen Luſtregion. Er war ein Vertheiler der Speiſe, und wie die ganze Natur ſichtbare Offenbarung jenes goͤttlichen Wortes — Leib deſſelben war, ſo theilte ſich dieſer Leib dem Menſchen in jeder Speiſe, jedem Trank, jedem Sin- nesgenuſſe mit. Er war deßhalb der Milde, der Guͤ- tige, der freygebige Austheiler ſinnlicher Freuden, in deſſen genußvollem Reiche die koͤrperliche Natur es ſich wohl ſeyn ließ — der freundliche Spender ſuͤßer Won- ne. *) Freylich hatte derſelbe Sinnesgott ſein Fleiſch auch in einem andern Sinne vertheilt, war urſpruͤng- lich der Geber anderer Freuden, anderer Genuͤſſe. Die Seelen, herabgeſunken aus der reinen, hei- teren Region des Urſprungs, in das luſtige Sinnen- reich des Dionyſos, vergaßen gar bald in dieſer war- men behaglichen Welt koͤrperlichen Genuſſes, die Ruͤck- kehr in die Heymath und die Heimath ſelber. Aber eben der Gott, durch deſſen Spiegel die Sehnſucht nach der niederen, groͤberen Region in ihnen entzuͤn- det war, und der ſie in ſeiner Sinnenwelt die Heimath vergeſſen machte, war ja auch der Fuͤhrer in dieſe zuruͤck, reichte ihnen jenen Becher der Weisheit und der *) Creuzer, a. a. O. III. 453. u. ſ. f.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/85
Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/85>, abgerufen am 24.11.2024.