nung statt zu finden, als jene unserer moralischen Systeme.
Jenes geistige Organ im Menschen, in seiner Doppelseitigkeit, ist der gute und böse Dämon, wel- cher den Menschen durchs Leben begleitet, und, je nachdem er der einen oder anderen Stimme mehr Ge- hör gegeben, ihn zu einem glücklichen oder unglückli- chen Ziele führet. Der bessere (socratische) Dämon erregt in der Seele die Sehnsucht des Besseren und bestraft sie anfangs leiser, je mehr sie ihm aber Gehör giebt, desto vernehmlicher über jede Handlung, jedes Wort, jeden Gedanken, welcher sie von dem besseren Ziele hinwegführet. Dieser Dämon ist prophetisch, und Jeder der mit den Führungen des inneren Le- bens bekannt ist, wird erfahren haben, wie oft uns derselbe schon vor jenen Veranlassungen und Gelegen- heiten warnt, und mit höherer Gewalt bewahrt, hin- ter denen, uns noch ganz unbekannt, das Böse auf uns lauert. Noch sind wir uns keiner, selbst nicht der leisesten bösen Absicht bewußt, und doch fühlen wir, wenn wir uns der unbekannten Gefahr nähern, eine Unruhe, eine Angst, wie nach einer vollbrachten bösen Handlung. Auch vor andern, leiblichen Gefah- ren warnt uns der socratische Dämon. Jener from- me Geistliche gehet aus, um den nahe bey seiner Woh- nung gelegenen Felsenberg mit seiner schönen Aussicht zu besuchen. Unterwegens spricht die innere Stimme zu ihm: was thust du hier? führt dich höherer Be- ruf, oder eitle Neugier hieher, ist es auch recht, daß du hier gehst? Er hält ein, stellt sich neben den Weg unter eine Bergwand, und überlegt, und noch indem
er
nung ſtatt zu finden, als jene unſerer moraliſchen Syſteme.
Jenes geiſtige Organ im Menſchen, in ſeiner Doppelſeitigkeit, iſt der gute und boͤſe Daͤmon, wel- cher den Menſchen durchs Leben begleitet, und, je nachdem er der einen oder anderen Stimme mehr Ge- hoͤr gegeben, ihn zu einem gluͤcklichen oder ungluͤckli- chen Ziele fuͤhret. Der beſſere (ſocratiſche) Daͤmon erregt in der Seele die Sehnſucht des Beſſeren und beſtraft ſie anfangs leiſer, je mehr ſie ihm aber Gehoͤr giebt, deſto vernehmlicher uͤber jede Handlung, jedes Wort, jeden Gedanken, welcher ſie von dem beſſeren Ziele hinwegfuͤhret. Dieſer Daͤmon iſt prophetiſch, und Jeder der mit den Fuͤhrungen des inneren Le- bens bekannt iſt, wird erfahren haben, wie oft uns derſelbe ſchon vor jenen Veranlaſſungen und Gelegen- heiten warnt, und mit hoͤherer Gewalt bewahrt, hin- ter denen, uns noch ganz unbekannt, das Boͤſe auf uns lauert. Noch ſind wir uns keiner, ſelbſt nicht der leiſeſten boͤſen Abſicht bewußt, und doch fuͤhlen wir, wenn wir uns der unbekannten Gefahr naͤhern, eine Unruhe, eine Angſt, wie nach einer vollbrachten boͤſen Handlung. Auch vor andern, leiblichen Gefah- ren warnt uns der ſocratiſche Daͤmon. Jener from- me Geiſtliche gehet aus, um den nahe bey ſeiner Woh- nung gelegenen Felſenberg mit ſeiner ſchoͤnen Ausſicht zu beſuchen. Unterwegens ſpricht die innere Stimme zu ihm: was thuſt du hier? fuͤhrt dich hoͤherer Be- ruf, oder eitle Neugier hieher, iſt es auch recht, daß du hier gehſt? Er haͤlt ein, ſtellt ſich neben den Weg unter eine Bergwand, und uͤberlegt, und noch indem
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nung ſtatt zu finden, als jene unſerer moraliſchen
Syſteme.
Jenes geiſtige Organ im Menſchen, in ſeiner
Doppelſeitigkeit, iſt der gute und boͤſe Daͤmon, wel-
cher den Menſchen durchs Leben begleitet, und, je
nachdem er der einen oder anderen Stimme mehr Ge-
hoͤr gegeben, ihn zu einem gluͤcklichen oder ungluͤckli-
chen Ziele fuͤhret. Der beſſere (ſocratiſche) Daͤmon
erregt in der Seele die Sehnſucht des Beſſeren und
beſtraft ſie anfangs leiſer, je mehr ſie ihm aber Gehoͤr
giebt, deſto vernehmlicher uͤber jede Handlung, jedes
Wort, jeden Gedanken, welcher ſie von dem beſſeren
Ziele hinwegfuͤhret. Dieſer Daͤmon iſt prophetiſch,
und Jeder der mit den Fuͤhrungen des inneren Le-
bens bekannt iſt, wird erfahren haben, wie oft uns
derſelbe ſchon vor jenen Veranlaſſungen und Gelegen-
heiten warnt, und mit hoͤherer Gewalt bewahrt, hin-
ter denen, uns noch ganz unbekannt, das Boͤſe auf
uns lauert. Noch ſind wir uns keiner, ſelbſt nicht
der leiſeſten boͤſen Abſicht bewußt, und doch fuͤhlen
wir, wenn wir uns der unbekannten Gefahr naͤhern,
eine Unruhe, eine Angſt, wie nach einer vollbrachten
boͤſen Handlung. Auch vor andern, leiblichen Gefah-
ren warnt uns der ſocratiſche Daͤmon. Jener from-
me Geiſtliche gehet aus, um den nahe bey ſeiner Woh-
nung gelegenen Felſenberg mit ſeiner ſchoͤnen Ausſicht
zu beſuchen. Unterwegens ſpricht die innere Stimme
zu ihm: was thuſt du hier? fuͤhrt dich hoͤherer Be-
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du hier gehſt? Er haͤlt ein, ſtellt ſich neben den Weg
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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/70>, abgerufen am 28.07.2024.
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