einzige Auge, an dem das ihre noch glaubend hing, hat sich geschlossen, um sie lauter Nacht, alles schweigt, nur nicht der Spott der Welt, die sie um des Einen willen verlassen. "Aber wir weichen nicht! und wo- hin sollten wir weichen, ist uns doch nichts mehr au- ßer dir! Diese Liebe zu dir ist unsterblicher Art, wie du selber!" *) -- Und siehe, die zagende Seele fin- det sich beym Erwachen aus ihren Schmerzen mitten in Jenem selber befangen, den sie bang gesucht, dem sie, als sie sich ihm am fernsten glaubte, am nächsten war, und unmittelbar nach der Erstarrung der kälte- sten Morgenstunde, erhebt sich die wärmende Sonne.
Die Seele soll sich in dem jetzigen, verkümmer- ten Zustande, wieder eines höheren und ursprünglichen -- eines neuen, künftigen Lebens fähig machen. Ueber- haupt muß sich im Tode das Verhältniß von neuem umkehren; die (Geister)-sprache des Traumes muß wieder Sprache des wachen, gewöhnlichen Zustandes werden. Wie könnte aber dieses geschehen, ohne die Seele in die größte Gefahr und selbst unmittelbar in jenen Abgrund zu stürzen, über welchen sie die Dop- pelseitigkeit ihrer jetzigen sinnlichen Welt und eigenen sinnlichen Natur noch aufrecht erhält, (wovon später,) wenn nicht vorher jenem unsterblichen Sehnen seine ursprüngliche Bahn und das ursprüngliche Ziel ange- wiesen würde. Es muß in dem jetzigen Daseyn ein Weg gefunden werden, auf welchem die Seele aus
je-
*) Gerhard Terstegens Auszug aus des Bernieres Lou- vigni Schriften, Nürnberg 1809.
einzige Auge, an dem das ihre noch glaubend hing, hat ſich geſchloſſen, um ſie lauter Nacht, alles ſchweigt, nur nicht der Spott der Welt, die ſie um des Einen willen verlaſſen. „Aber wir weichen nicht! und wo- hin ſollten wir weichen, iſt uns doch nichts mehr au- ßer dir! Dieſe Liebe zu dir iſt unſterblicher Art, wie du ſelber!“ *) — Und ſiehe, die zagende Seele fin- det ſich beym Erwachen aus ihren Schmerzen mitten in Jenem ſelber befangen, den ſie bang geſucht, dem ſie, als ſie ſich ihm am fernſten glaubte, am naͤchſten war, und unmittelbar nach der Erſtarrung der kaͤlte- ſten Morgenſtunde, erhebt ſich die waͤrmende Sonne.
Die Seele ſoll ſich in dem jetzigen, verkuͤmmer- ten Zuſtande, wieder eines hoͤheren und urſpruͤnglichen — eines neuen, kuͤnftigen Lebens faͤhig machen. Ueber- haupt muß ſich im Tode das Verhaͤltniß von neuem umkehren; die (Geiſter)-ſprache des Traumes muß wieder Sprache des wachen, gewoͤhnlichen Zuſtandes werden. Wie koͤnnte aber dieſes geſchehen, ohne die Seele in die groͤßte Gefahr und ſelbſt unmittelbar in jenen Abgrund zu ſtuͤrzen, uͤber welchen ſie die Dop- pelſeitigkeit ihrer jetzigen ſinnlichen Welt und eigenen ſinnlichen Natur noch aufrecht erhaͤlt, (wovon ſpaͤter,) wenn nicht vorher jenem unſterblichen Sehnen ſeine urſpruͤngliche Bahn und das urſpruͤngliche Ziel ange- wieſen wuͤrde. Es muß in dem jetzigen Daſeyn ein Weg gefunden werden, auf welchem die Seele aus
je-
*) Gerhard Terſtegens Auszug aus des Bernieres Lou- vigni Schriften, Nuͤrnberg 1809.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0100"n="90"/>
einzige Auge, an dem das ihre noch glaubend hing,<lb/>
hat ſich geſchloſſen, um ſie lauter Nacht, alles ſchweigt,<lb/>
nur nicht der Spott der Welt, die ſie um des Einen<lb/>
willen verlaſſen. „Aber wir weichen nicht! und wo-<lb/>
hin ſollten wir weichen, iſt uns doch nichts mehr au-<lb/>
ßer dir! Dieſe Liebe zu dir iſt unſterblicher Art, wie<lb/>
du ſelber!“<noteplace="foot"n="*)">Gerhard Terſtegens Auszug aus des <hirendition="#aq">Bernieres Lou-<lb/>
vigni</hi> Schriften, Nuͤrnberg 1809.</note>— Und ſiehe, die zagende Seele fin-<lb/>
det ſich beym Erwachen aus ihren Schmerzen mitten<lb/>
in Jenem ſelber befangen, den ſie bang geſucht, dem<lb/>ſie, als ſie ſich ihm am fernſten glaubte, am naͤchſten<lb/>
war, und unmittelbar nach der Erſtarrung der kaͤlte-<lb/>ſten Morgenſtunde, erhebt ſich die waͤrmende Sonne.</p><lb/><p>Die Seele ſoll ſich in dem jetzigen, verkuͤmmer-<lb/>
ten Zuſtande, wieder eines hoͤheren und urſpruͤnglichen<lb/>— eines neuen, kuͤnftigen Lebens faͤhig machen. Ueber-<lb/>
haupt muß ſich im Tode das Verhaͤltniß von neuem<lb/>
umkehren; die (Geiſter)-ſprache des Traumes muß<lb/>
wieder Sprache des wachen, gewoͤhnlichen Zuſtandes<lb/>
werden. Wie koͤnnte aber dieſes geſchehen, ohne die<lb/>
Seele in die groͤßte Gefahr und ſelbſt unmittelbar in<lb/>
jenen Abgrund zu ſtuͤrzen, uͤber welchen ſie die Dop-<lb/>
pelſeitigkeit ihrer jetzigen ſinnlichen Welt und eigenen<lb/>ſinnlichen Natur noch aufrecht erhaͤlt, (wovon ſpaͤter,)<lb/>
wenn nicht vorher jenem unſterblichen Sehnen ſeine<lb/>
urſpruͤngliche Bahn und das urſpruͤngliche Ziel ange-<lb/>
wieſen wuͤrde. Es muß in dem jetzigen Daſeyn ein<lb/>
Weg gefunden werden, auf welchem die Seele aus<lb/><fwplace="bottom"type="catch">je-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[90/0100]
einzige Auge, an dem das ihre noch glaubend hing,
hat ſich geſchloſſen, um ſie lauter Nacht, alles ſchweigt,
nur nicht der Spott der Welt, die ſie um des Einen
willen verlaſſen. „Aber wir weichen nicht! und wo-
hin ſollten wir weichen, iſt uns doch nichts mehr au-
ßer dir! Dieſe Liebe zu dir iſt unſterblicher Art, wie
du ſelber!“ *) — Und ſiehe, die zagende Seele fin-
det ſich beym Erwachen aus ihren Schmerzen mitten
in Jenem ſelber befangen, den ſie bang geſucht, dem
ſie, als ſie ſich ihm am fernſten glaubte, am naͤchſten
war, und unmittelbar nach der Erſtarrung der kaͤlte-
ſten Morgenſtunde, erhebt ſich die waͤrmende Sonne.
Die Seele ſoll ſich in dem jetzigen, verkuͤmmer-
ten Zuſtande, wieder eines hoͤheren und urſpruͤnglichen
— eines neuen, kuͤnftigen Lebens faͤhig machen. Ueber-
haupt muß ſich im Tode das Verhaͤltniß von neuem
umkehren; die (Geiſter)-ſprache des Traumes muß
wieder Sprache des wachen, gewoͤhnlichen Zuſtandes
werden. Wie koͤnnte aber dieſes geſchehen, ohne die
Seele in die groͤßte Gefahr und ſelbſt unmittelbar in
jenen Abgrund zu ſtuͤrzen, uͤber welchen ſie die Dop-
pelſeitigkeit ihrer jetzigen ſinnlichen Welt und eigenen
ſinnlichen Natur noch aufrecht erhaͤlt, (wovon ſpaͤter,)
wenn nicht vorher jenem unſterblichen Sehnen ſeine
urſpruͤngliche Bahn und das urſpruͤngliche Ziel ange-
wieſen wuͤrde. Es muß in dem jetzigen Daſeyn ein
Weg gefunden werden, auf welchem die Seele aus
je-
*) Gerhard Terſtegens Auszug aus des Bernieres Lou-
vigni Schriften, Nuͤrnberg 1809.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/100>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.