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Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808.

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Widerstreit der entgegengesetzten Richtungen, denen
wir in der äußern Natur begegnen, vollkommen auf,
wie auch jene Töne, welche einzeln zusammengestellt,
Mistöne wären, erst in dem Geist des Künstlers, wo
sie sich harmonisch vereinen, ein vollendetes Ganze,
voll tiefer innrer Bedeutung werden. So ist auch das
hohe Ideal der menschlichen Natur, in keinem Einzel-
nen vollkommen ausgesprochen, sondern es wird erst
durch alle Individuen, ja durch die einzelnen Welt-
alter, in dem großen Werk der Geschichte vollendet.
Nur der Genius, welcher über den Schicksalen der
Einzelnen wie über der Geschichte des ganzen Ge-
schlechts waltet, wird die mannigfaltigen, und öfters
sich wiederstreitenden Bestrebungen der verschiednen Zei-
ten zuletzt in seeliger Harmonie vereinen. Jener über-
all waltende höhere Einfluß, welcher auf eine erhab-
nere Weise in dem Werk der Geschichte sich offenbart,
wurde auch in jenen tiefen Sympathien, in jener vor-
herbestimmten Harmonie, worinnen die einzelnen Ge-
schlechter der Pflanzen und Thiere mit der äußren Na-
tur stehen, anerkannt, nach welcher es geschieht, daß
die Bedürfnisse eben dann erwachen, wenn ihre Befrie-
digung nahe ist, oder daß die Natur dem Mangel, wel-
cher auf der einen Seite entsteht, durch Ueberfluß auf
einer andern abhilft.

Am erhabendsten und schönsten offenbart sich aber
jener höhere Einfluß, wo er als geistiges Band um
alle verschiedenen Stufen des Daseyns der Dinge ge-
schlungen, den Uebergang bildet von einem jetzigen
Daseyn in ein höheres künftiges. Wir sahen aus vie-
len Thatsachen, welche eine der letzten Vorlesungen
aufstellte, wie jedes Wesen, während es sich noch in

Widerſtreit der entgegengeſetzten Richtungen, denen
wir in der aͤußern Natur begegnen, vollkommen auf,
wie auch jene Toͤne, welche einzeln zuſammengeſtellt,
Mistoͤne waͤren, erſt in dem Geiſt des Kuͤnſtlers, wo
ſie ſich harmoniſch vereinen, ein vollendetes Ganze,
voll tiefer innrer Bedeutung werden. So iſt auch das
hohe Ideal der menſchlichen Natur, in keinem Einzel-
nen vollkommen ausgeſprochen, ſondern es wird erſt
durch alle Individuen, ja durch die einzelnen Welt-
alter, in dem großen Werk der Geſchichte vollendet.
Nur der Genius, welcher uͤber den Schickſalen der
Einzelnen wie uͤber der Geſchichte des ganzen Ge-
ſchlechts waltet, wird die mannigfaltigen, und oͤfters
ſich wiederſtreitenden Beſtrebungen der verſchiednen Zei-
ten zuletzt in ſeeliger Harmonie vereinen. Jener uͤber-
all waltende hoͤhere Einfluß, welcher auf eine erhab-
nere Weiſe in dem Werk der Geſchichte ſich offenbart,
wurde auch in jenen tiefen Sympathien, in jener vor-
herbeſtimmten Harmonie, worinnen die einzelnen Ge-
ſchlechter der Pflanzen und Thiere mit der aͤußren Na-
tur ſtehen, anerkannt, nach welcher es geſchieht, daß
die Beduͤrfniſſe eben dann erwachen, wenn ihre Befrie-
digung nahe iſt, oder daß die Natur dem Mangel, wel-
cher auf der einen Seite entſteht, durch Ueberfluß auf
einer andern abhilft.

Am erhabendſten und ſchoͤnſten offenbart ſich aber
jener hoͤhere Einfluß, wo er als geiſtiges Band um
alle verſchiedenen Stufen des Daſeyns der Dinge ge-
ſchlungen, den Uebergang bildet von einem jetzigen
Daſeyn in ein hoͤheres kuͤnftiges. Wir ſahen aus vie-
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[380/0394] Widerſtreit der entgegengeſetzten Richtungen, denen wir in der aͤußern Natur begegnen, vollkommen auf, wie auch jene Toͤne, welche einzeln zuſammengeſtellt, Mistoͤne waͤren, erſt in dem Geiſt des Kuͤnſtlers, wo ſie ſich harmoniſch vereinen, ein vollendetes Ganze, voll tiefer innrer Bedeutung werden. So iſt auch das hohe Ideal der menſchlichen Natur, in keinem Einzel- nen vollkommen ausgeſprochen, ſondern es wird erſt durch alle Individuen, ja durch die einzelnen Welt- alter, in dem großen Werk der Geſchichte vollendet. Nur der Genius, welcher uͤber den Schickſalen der Einzelnen wie uͤber der Geſchichte des ganzen Ge- ſchlechts waltet, wird die mannigfaltigen, und oͤfters ſich wiederſtreitenden Beſtrebungen der verſchiednen Zei- ten zuletzt in ſeeliger Harmonie vereinen. Jener uͤber- all waltende hoͤhere Einfluß, welcher auf eine erhab- nere Weiſe in dem Werk der Geſchichte ſich offenbart, wurde auch in jenen tiefen Sympathien, in jener vor- herbeſtimmten Harmonie, worinnen die einzelnen Ge- ſchlechter der Pflanzen und Thiere mit der aͤußren Na- tur ſtehen, anerkannt, nach welcher es geſchieht, daß die Beduͤrfniſſe eben dann erwachen, wenn ihre Befrie- digung nahe iſt, oder daß die Natur dem Mangel, wel- cher auf der einen Seite entſteht, durch Ueberfluß auf einer andern abhilft. Am erhabendſten und ſchoͤnſten offenbart ſich aber jener hoͤhere Einfluß, wo er als geiſtiges Band um alle verſchiedenen Stufen des Daſeyns der Dinge ge- ſchlungen, den Uebergang bildet von einem jetzigen Daſeyn in ein hoͤheres kuͤnftiges. Wir ſahen aus vie- len Thatſachen, welche eine der letzten Vorleſungen aufſtellte, wie jedes Weſen, waͤhrend es ſich noch in

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/394>, abgerufen am 22.11.2024.