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Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808.

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über dem Meer, und zeigt sich noch einmal in seinem
klaren Blau, wie in der frühen Kindheit. Da wird
in prophetischem Schimmer, jenseit des Meeres die Kü-
sie eines fernen Landes geahndet. Von seinem ewigen
Frühling haben wir vernommen, und wie in ihm jenes
tief im Innern wohnende, das wir als Knospe hin-
überbringen, reifen wird. Nimm dann hinweg Zeit,
auch die letzten Trümmer unsers Daseyns, nimm hin-
weg auch die Erinnrung des zurückgelegten Weges,
und laß uns, wenn dein ewiges Gesetz es so gebent,
schlummernd in dem lang ersehnten Vaterland an-
kommen!

So wird, wenn wir die Bildungsgeschichte des
menschlichen Gemüths, wenn wir seine Entwicklung von
der Wiege bis zum Grabe betrachten, mitten in dem
Gang des irdischen Strebens, ein andres höheres er-
kannt, welches mit jenem fast in Widerspruch zu ste-
hen scheint, oder welches wenigstens in dem Gedräng
des Lebens, selten oder nie aufzublühen vermag. Die
hohe Welt der Poesie und des Künstlerideals, noch mehr
die Welt der Religion, vermag in dem irdischen Da-
seyn nie ganz einheimisch zu werden, und pflegt der
Vermischung mit den Elementen desselben zu widerstre-
ben. Auch sehen wir nicht selten auf einzelne Momen-
te, öfters durch gewaltsamer Weise, gewisse tiefe Kräf-
te unsres Wesens hervorschimmern, welche an geisti-
gem Umfange weit über die Gränzen unsrer jetzigen Fä-
higkeiten hinausgehen, und die wir uns doch vergeblich

uͤber dem Meer, und zeigt ſich noch einmal in ſeinem
klaren Blau, wie in der fruͤhen Kindheit. Da wird
in prophetiſchem Schimmer, jenſeit des Meeres die Kuͤ-
ſie eines fernen Landes geahndet. Von ſeinem ewigen
Fruͤhling haben wir vernommen, und wie in ihm jenes
tief im Innern wohnende, das wir als Knospe hin-
uͤberbringen, reifen wird. Nimm dann hinweg Zeit,
auch die letzten Truͤmmer unſers Daſeyns, nimm hin-
weg auch die Erinnrung des zuruͤckgelegten Weges,
und laß uns, wenn dein ewiges Geſetz es ſo gebent,
ſchlummernd in dem lang erſehnten Vaterland an-
kommen!

So wird, wenn wir die Bildungsgeſchichte des
menſchlichen Gemuͤths, wenn wir ſeine Entwicklung von
der Wiege bis zum Grabe betrachten, mitten in dem
Gang des irdiſchen Strebens, ein andres hoͤheres er-
kannt, welches mit jenem faſt in Widerſpruch zu ſte-
hen ſcheint, oder welches wenigſtens in dem Gedraͤng
des Lebens, ſelten oder nie aufzubluͤhen vermag. Die
hohe Welt der Poeſie und des Kuͤnſtlerideals, noch mehr
die Welt der Religion, vermag in dem irdiſchen Da-
ſeyn nie ganz einheimiſch zu werden, und pflegt der
Vermiſchung mit den Elementen deſſelben zu widerſtre-
ben. Auch ſehen wir nicht ſelten auf einzelne Momen-
te, oͤfters durch gewaltſamer Weiſe, gewiſſe tiefe Kraͤf-
te unſres Weſens hervorſchimmern, welche an geiſti-
gem Umfange weit uͤber die Graͤnzen unſrer jetzigen Faͤ-
higkeiten hinausgehen, und die wir uns doch vergeblich

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[308/0322] uͤber dem Meer, und zeigt ſich noch einmal in ſeinem klaren Blau, wie in der fruͤhen Kindheit. Da wird in prophetiſchem Schimmer, jenſeit des Meeres die Kuͤ- ſie eines fernen Landes geahndet. Von ſeinem ewigen Fruͤhling haben wir vernommen, und wie in ihm jenes tief im Innern wohnende, das wir als Knospe hin- uͤberbringen, reifen wird. Nimm dann hinweg Zeit, auch die letzten Truͤmmer unſers Daſeyns, nimm hin- weg auch die Erinnrung des zuruͤckgelegten Weges, und laß uns, wenn dein ewiges Geſetz es ſo gebent, ſchlummernd in dem lang erſehnten Vaterland an- kommen! So wird, wenn wir die Bildungsgeſchichte des menſchlichen Gemuͤths, wenn wir ſeine Entwicklung von der Wiege bis zum Grabe betrachten, mitten in dem Gang des irdiſchen Strebens, ein andres hoͤheres er- kannt, welches mit jenem faſt in Widerſpruch zu ſte- hen ſcheint, oder welches wenigſtens in dem Gedraͤng des Lebens, ſelten oder nie aufzubluͤhen vermag. Die hohe Welt der Poeſie und des Kuͤnſtlerideals, noch mehr die Welt der Religion, vermag in dem irdiſchen Da- ſeyn nie ganz einheimiſch zu werden, und pflegt der Vermiſchung mit den Elementen deſſelben zu widerſtre- ben. Auch ſehen wir nicht ſelten auf einzelne Momen- te, oͤfters durch gewaltſamer Weiſe, gewiſſe tiefe Kraͤf- te unſres Weſens hervorſchimmern, welche an geiſti- gem Umfange weit uͤber die Graͤnzen unſrer jetzigen Faͤ- higkeiten hinausgehen, und die wir uns doch vergeblich

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/322>, abgerufen am 24.11.2024.