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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 3, Abt. 1. Leipzig, 1895.

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Neunte Vorlesung.
Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Dinge ein Ding entsprechen zu
lassen
, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden, ohne welche Fähigkeit
überhaupt kein Denken möglich ist. Auf dieser einzigen, auch sonst
ganz unentbehrlichen Grundlage muss nach meiner Ansicht, wie ich
auch schon bei einer Ankündigung der vorliegenden Schrift aus-
gesprochen habe*), die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet
werden."

Nach einer kurzen Vorgeschichte seiner Abhandlung hebt Herr
Dedekind als Hauptpunkte aus derselben hervor: die scharfe Unter-
scheidung des Endlichen vom Unendlichen
(D 64), den Begriff der "An-
zahl
" von Dingen (D 161), den Nachweis, dass die unter dem Namen
der vollständigen Induktion
(oder des Schlusses von n auf n + 1) be-
kannte Beweisart wirklich beweiskräftig
(D 59, 60, 80), und dass auch
die Definition durch Induktion (oder Rekursion) bestimmt und wider-
spruchsfrei
ist (D 126).

"Diese Schrift kann Jeder verstehen, welcher Das besitzt, was man
den gesunden Menschenverstand nennt; philosophische oder mathematische
Schulkenntnisse sind dazu nicht im Geringsten erforderlich. Aber ich weiss
sehr wohl, dass gar mancher in den schattenhaften Gestalten, die ich ihm
vorführe, seine Zahlen, die ihn als treue und vertraute Freunde durch das
ganze Leben begleitet haben, kaum wiedererkennen mag; er wird durch
die lange, der Beschaffenheit unsres Treppen-Verstandes entsprechende Reihe
von einfachen Schlüssen, durch die nüchterne Zergliederung der Gedanken-
reihen, auf denen die Gesetze der Zahlen beruhen, abgeschreckt und un-
geduldig darüber werden, Beweise für Wahrheiten verfolgen zu sollen, die
ihm nach seiner vermeintlichen inneren Anschauung von vornherein ein-
leuchtend und gewiss erscheinen. Ich erblicke dagegen gerade in der Mög-
lichkeit, solche Wahrheiten auf andere, einfachere zurückzuführen, mag die
Reihe der Schlüsse noch so lang und scheinbar künstlich sein, einen über-
zeugenden Beweis dafür, dass ihr Besitz oder der Glaube an sie niemals
unmittelbar durch innere Anschauung gegeben, sondern immer nur durch
eine mehr oder weniger vollständige Wiederholung der einzelnen Schlüsse
erworben ist. Ich möchte diese, der Schnelligkeit ihrer Ausführung wegen
schwer zu verfolgende Denkthätigkeit mit derjenigen vergleichen, welche
ein vollkommen geübter Leser beim Lesen verrichtet; auch dieses Lesen
bleibt immer eine mehr oder weniger vollständige Wiederholung der ein-
zelnen Schritte, welche der Anfänger bei dem mühseligen Buchstabiren
auszuführen hat; ein sehr kleiner Teil derselben, und deshalb eine sehr
kleine Arbeit oder Anstrengung des Geistes reicht aber für den geübten
Leser schon aus, um das richtige, wahre Wort zu erkennen, freilich nur
mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit; denn bekanntlich begegnet es auch
dem geübtesten Korrektor von Zeit zu Zeit, einen Druckfehler stehen zu

*) Hinweis auf Herrn Dedekind's Vorlesungen über Zahlentheorie3 von
Lejeune Dirichlet1, dritte Aufl. 1879, § 163, Anm. auf pag. 470.

Neunte Vorlesung.
Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Dinge ein Ding entsprechen zu
lassen
, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden, ohne welche Fähigkeit
überhaupt kein Denken möglich ist. Auf dieser einzigen, auch sonst
ganz unentbehrlichen Grundlage muss nach meiner Ansicht, wie ich
auch schon bei einer Ankündigung der vorliegenden Schrift aus-
gesprochen habe*), die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet
werden.«

Nach einer kurzen Vorgeschichte seiner Abhandlung hebt Herr
Dedekind als Hauptpunkte aus derselben hervor: die scharfe Unter-
scheidung des Endlichen vom Unendlichen
(D 64), den Begriff derAn-
zahl
von Dingen (D 161), den Nachweis, dass die unter dem Namen
der vollständigen Induktion
(oder des Schlusses von n auf n + 1) be-
kannte Beweisart wirklich beweiskräftig
(D 59, 60, 80), und dass auch
die Definition durch Induktion (oder Rekursion) bestimmt und wider-
spruchsfrei
ist (D 126).

»Diese Schrift kann Jeder verstehen, welcher Das besitzt, was man
den gesunden Menschenverstand nennt; philosophische oder mathematische
Schulkenntnisse sind dazu nicht im Geringsten erforderlich. Aber ich weiss
sehr wohl, dass gar mancher in den schattenhaften Gestalten, die ich ihm
vorführe, seine Zahlen, die ihn als treue und vertraute Freunde durch das
ganze Leben begleitet haben, kaum wiedererkennen mag; er wird durch
die lange, der Beschaffenheit unsres Treppen-Verstandes entsprechende Reihe
von einfachen Schlüssen, durch die nüchterne Zergliederung der Gedanken-
reihen, auf denen die Gesetze der Zahlen beruhen, abgeschreckt und un-
geduldig darüber werden, Beweise für Wahrheiten verfolgen zu sollen, die
ihm nach seiner vermeintlichen inneren Anschauung von vornherein ein-
leuchtend und gewiss erscheinen. Ich erblicke dagegen gerade in der Mög-
lichkeit, solche Wahrheiten auf andere, einfachere zurückzuführen, mag die
Reihe der Schlüsse noch so lang und scheinbar künstlich sein, einen über-
zeugenden Beweis dafür, dass ihr Besitz oder der Glaube an sie niemals
unmittelbar durch innere Anschauung gegeben, sondern immer nur durch
eine mehr oder weniger vollständige Wiederholung der einzelnen Schlüsse
erworben ist. Ich möchte diese, der Schnelligkeit ihrer Ausführung wegen
schwer zu verfolgende Denkthätigkeit mit derjenigen vergleichen, welche
ein vollkommen geübter Leser beim Lesen verrichtet; auch dieses Lesen
bleibt immer eine mehr oder weniger vollständige Wiederholung der ein-
zelnen Schritte, welche der Anfänger bei dem mühseligen Buchstabiren
auszuführen hat; ein sehr kleiner Teil derselben, und deshalb eine sehr
kleine Arbeit oder Anstrengung des Geistes reicht aber für den geübten
Leser schon aus, um das richtige, wahre Wort zu erkennen, freilich nur
mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit; denn bekanntlich begegnet es auch
dem geübtesten Korrektor von Zeit zu Zeit, einen Druckfehler stehen zu

*) Hinweis auf Herrn Dedekind’s Vorlesungen über Zahlentheorie3 von
Lejeune Dirichlet1, dritte Aufl. 1879, § 163, Anm. auf pag. 470.
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[348/0362] Neunte Vorlesung. Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Dinge ein Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden, ohne welche Fähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist. Auf dieser einzigen, auch sonst ganz unentbehrlichen Grundlage muss nach meiner Ansicht, wie ich auch schon bei einer Ankündigung der vorliegenden Schrift aus- gesprochen habe *), die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet werden.« Nach einer kurzen Vorgeschichte seiner Abhandlung hebt Herr Dedekind als Hauptpunkte aus derselben hervor: die scharfe Unter- scheidung des Endlichen vom Unendlichen (D 64), den Begriff der „An- zahl“ von Dingen (D 161), den Nachweis, dass die unter dem Namen der vollständigen Induktion (oder des Schlusses von n auf n + 1) be- kannte Beweisart wirklich beweiskräftig (D 59, 60, 80), und dass auch die Definition durch Induktion (oder Rekursion) bestimmt und wider- spruchsfrei ist (D 126). »Diese Schrift kann Jeder verstehen, welcher Das besitzt, was man den gesunden Menschenverstand nennt; philosophische oder mathematische Schulkenntnisse sind dazu nicht im Geringsten erforderlich. Aber ich weiss sehr wohl, dass gar mancher in den schattenhaften Gestalten, die ich ihm vorführe, seine Zahlen, die ihn als treue und vertraute Freunde durch das ganze Leben begleitet haben, kaum wiedererkennen mag; er wird durch die lange, der Beschaffenheit unsres Treppen-Verstandes entsprechende Reihe von einfachen Schlüssen, durch die nüchterne Zergliederung der Gedanken- reihen, auf denen die Gesetze der Zahlen beruhen, abgeschreckt und un- geduldig darüber werden, Beweise für Wahrheiten verfolgen zu sollen, die ihm nach seiner vermeintlichen inneren Anschauung von vornherein ein- leuchtend und gewiss erscheinen. Ich erblicke dagegen gerade in der Mög- lichkeit, solche Wahrheiten auf andere, einfachere zurückzuführen, mag die Reihe der Schlüsse noch so lang und scheinbar künstlich sein, einen über- zeugenden Beweis dafür, dass ihr Besitz oder der Glaube an sie niemals unmittelbar durch innere Anschauung gegeben, sondern immer nur durch eine mehr oder weniger vollständige Wiederholung der einzelnen Schlüsse erworben ist. Ich möchte diese, der Schnelligkeit ihrer Ausführung wegen schwer zu verfolgende Denkthätigkeit mit derjenigen vergleichen, welche ein vollkommen geübter Leser beim Lesen verrichtet; auch dieses Lesen bleibt immer eine mehr oder weniger vollständige Wiederholung der ein- zelnen Schritte, welche der Anfänger bei dem mühseligen Buchstabiren auszuführen hat; ein sehr kleiner Teil derselben, und deshalb eine sehr kleine Arbeit oder Anstrengung des Geistes reicht aber für den geübten Leser schon aus, um das richtige, wahre Wort zu erkennen, freilich nur mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit; denn bekanntlich begegnet es auch dem geübtesten Korrektor von Zeit zu Zeit, einen Druckfehler stehen zu *) Hinweis auf Herrn Dedekind’s Vorlesungen über Zahlentheorie3 von Lejeune Dirichlet1, dritte Aufl. 1879, § 163, Anm. auf pag. 470.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 3, Abt. 1. Leipzig, 1895, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik03_1895/362>, abgerufen am 23.11.2024.