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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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§ 7. Deutung von 0, 1 als Gebiete. Konsistente Mannigfaltigkeit.

Als Postulat ist ((1+)) eigentlich nur dann zu bezeichnen, wenn
der Satz für eine bestimmte Mannigfaltigkeit in Anspruch genommen
wird -- wie z. B. für diejenige der Punkte der Tafelfläche. Es gibt
nämlich auch Mannigfaltigkeiten, bei denen das Postulat ((1+)) nicht
erfüllbar ist
, und solche finden wir ausschliesslich auf geistigem Gebiete,
im Bereich der Lehren, Meinungen und Behauptungen. Es gibt
Meinungen und Behauptungen, auch Anforderungen oder Bedingungen,
die miteinander unvereinbar sind.

Beispielsweise der Satz: "die Funktion f (x, y) ist symmetrisch"
lässt sich mit dem Satze: "die(selbe) Funktion f (x, y) ist nicht sym-
metrisch" unmöglich zu einer Mannigfaltigkeit der früher gedachten
Art vereinigen, oder mit vielleicht noch anderen Sätzen in einer als
Ganzes denkbaren Mannigfaltigkeit zusammenfassen, gemeinsam unter-
bringen. Da diese beiden Sätze -- jeder einzelne als gültig oder erfüllt
angenommen
, als glaubhaft hingestellt -- einen Widerspruch involviren,
da sie m. a. W. miteinander "unverträglich" erscheinen, vermag der
menschliche Geist nicht, sie zu vereinigen; wir können immer nur den
einen oder aber den andern dieser beiden Sätze gelten lassen.

A priori, von vornherein, ist ((1+)) daher nicht sowol als ein
"Postulat" sondern vielmehr als eine Voraussetzung oder Annahme zu
qualifiziren, durch welche die zu betrachtende Mannigfaltigkeit cha-
rakterisirt wird als eine "konsistente Mannigfaltigkeit", deren Elemente
sämtlich miteinander verträglich sind -- im Gegensatz zu den "inkonsi-
stenten
Mannigfaltigkeiten", deren Elemente nicht alle verträglich sind
miteinander. Auf diesen Sachverhalt sollte oben schon das in eckige
Klammer gesetzte [seien resp.] vorsichtig hinweisen. (Vergl. hiezu
§ 31, Fussnote.)

Um das Gebiet 1 zu veranschaulichen, müssten wir die ganze
Bild- oder Tafelfläche schraffiren; die Veranschaulichung des Null-
Gebietes ergäbe sich, wenn wir sie ganz leer liessen, nichts, auch nicht
einen Punkt
in sie einzeichneten und sagten, das Eingezeichnete eben
sei das Nullgebiet.

Die Symbole 0 und 1 erscheinen als die beiden Extreme, als die
äussersten Werte unter den denkbaren Gebieten der Mannigfaltigkeit,
und zwar ist das Nullgebiet als das minimale, das Gebiet 1 als das
Maximalgebiet zu bezeichnen. Ebenso stellen 0 und 1 die entgegen-
gesetzten Extreme (Grenzfälle, limits) unter den Klassensymbolen vor,
indem keine Klasse weniger als keines und keine mehr als alle Indi-
viduen einer vorausgesetzten Mannigfaltigkeit (wo nicht von Objekten
des Denkens überhaupt) enthalten kann.

§ 7. Deutung von 0, 1 als Gebiete. Konsistente Mannigfaltigkeit.

Als Postulat ist ((1+)) eigentlich nur dann zu bezeichnen, wenn
der Satz für eine bestimmte Mannigfaltigkeit in Anspruch genommen
wird — wie z. B. für diejenige der Punkte der Tafelfläche. Es gibt
nämlich auch Mannigfaltigkeiten, bei denen das Postulat ((1+)) nicht
erfüllbar ist
, und solche finden wir ausschliesslich auf geistigem Gebiete,
im Bereich der Lehren, Meinungen und Behauptungen. Es gibt
Meinungen und Behauptungen, auch Anforderungen oder Bedingungen,
die miteinander unvereinbar sind.

Beispielsweise der Satz: „die Funktion f (x, y) ist symmetrisch“
lässt sich mit dem Satze: „die(selbe) Funktion f (x, y) ist nicht sym-
metrisch“ unmöglich zu einer Mannigfaltigkeit der früher gedachten
Art vereinigen, oder mit vielleicht noch anderen Sätzen in einer als
Ganzes denkbaren Mannigfaltigkeit zusammenfassen, gemeinsam unter-
bringen. Da diese beiden Sätze — jeder einzelne als gültig oder erfüllt
angenommen
, als glaubhaft hingestellt — einen Widerspruch involviren,
da sie m. a. W. miteinander „unverträglich“ erscheinen, vermag der
menschliche Geist nicht, sie zu vereinigen; wir können immer nur den
einen oder aber den andern dieser beiden Sätze gelten lassen.

A priori, von vornherein, ist ((1+)) daher nicht sowol als ein
„Postulat“ sondern vielmehr als eine Voraussetzung oder Annahme zu
qualifiziren, durch welche die zu betrachtende Mannigfaltigkeit cha-
rakterisirt wird als eine „konsistente Mannigfaltigkeit“, deren Elemente
sämtlich miteinander verträglich sind — im Gegensatz zu den „inkonsi-
stenten
Mannigfaltigkeiten“, deren Elemente nicht alle verträglich sind
miteinander. Auf diesen Sachverhalt sollte oben schon das in eckige
Klammer gesetzte [seien resp.] vorsichtig hinweisen. (Vergl. hiezu
§ 31, Fussnote.)

Um das Gebiet 1 zu veranschaulichen, müssten wir die ganze
Bild- oder Tafelfläche schraffiren; die Veranschaulichung des Null-
Gebietes ergäbe sich, wenn wir sie ganz leer liessen, nichts, auch nicht
einen Punkt
in sie einzeichneten und sagten, das Eingezeichnete eben
sei das Nullgebiet.

Die Symbole 0 und 1 erscheinen als die beiden Extreme, als die
äussersten Werte unter den denkbaren Gebieten der Mannigfaltigkeit,
und zwar ist das Nullgebiet als das minimale, das Gebiet 1 als das
Maximalgebiet zu bezeichnen. Ebenso stellen 0 und 1 die entgegen-
gesetzten Extreme (Grenzfälle, limits) unter den Klassensymbolen vor,
indem keine Klasse weniger als keines und keine mehr als alle Indi-
viduen einer vorausgesetzten Mannigfaltigkeit (wo nicht von Objekten
des Denkens überhaupt) enthalten kann.

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[213/0233] § 7. Deutung von 0, 1 als Gebiete. Konsistente Mannigfaltigkeit. Als Postulat ist ((1+)) eigentlich nur dann zu bezeichnen, wenn der Satz für eine bestimmte Mannigfaltigkeit in Anspruch genommen wird — wie z. B. für diejenige der Punkte der Tafelfläche. Es gibt nämlich auch Mannigfaltigkeiten, bei denen das Postulat ((1+)) nicht erfüllbar ist, und solche finden wir ausschliesslich auf geistigem Gebiete, im Bereich der Lehren, Meinungen und Behauptungen. Es gibt Meinungen und Behauptungen, auch Anforderungen oder Bedingungen, die miteinander unvereinbar sind. Beispielsweise der Satz: „die Funktion f (x, y) ist symmetrisch“ lässt sich mit dem Satze: „die(selbe) Funktion f (x, y) ist nicht sym- metrisch“ unmöglich zu einer Mannigfaltigkeit der früher gedachten Art vereinigen, oder mit vielleicht noch anderen Sätzen in einer als Ganzes denkbaren Mannigfaltigkeit zusammenfassen, gemeinsam unter- bringen. Da diese beiden Sätze — jeder einzelne als gültig oder erfüllt angenommen, als glaubhaft hingestellt — einen Widerspruch involviren, da sie m. a. W. miteinander „unverträglich“ erscheinen, vermag der menschliche Geist nicht, sie zu vereinigen; wir können immer nur den einen oder aber den andern dieser beiden Sätze gelten lassen. A priori, von vornherein, ist ((1+)) daher nicht sowol als ein „Postulat“ sondern vielmehr als eine Voraussetzung oder Annahme zu qualifiziren, durch welche die zu betrachtende Mannigfaltigkeit cha- rakterisirt wird als eine „konsistente Mannigfaltigkeit“, deren Elemente sämtlich miteinander verträglich sind — im Gegensatz zu den „inkonsi- stenten Mannigfaltigkeiten“, deren Elemente nicht alle verträglich sind miteinander. Auf diesen Sachverhalt sollte oben schon das in eckige Klammer gesetzte [seien resp.] vorsichtig hinweisen. (Vergl. hiezu § 31, Fussnote.) Um das Gebiet 1 zu veranschaulichen, müssten wir die ganze Bild- oder Tafelfläche schraffiren; die Veranschaulichung des Null- Gebietes ergäbe sich, wenn wir sie ganz leer liessen, nichts, auch nicht einen Punkt in sie einzeichneten und sagten, das Eingezeichnete eben sei das Nullgebiet. Die Symbole 0 und 1 erscheinen als die beiden Extreme, als die äussersten Werte unter den denkbaren Gebieten der Mannigfaltigkeit, und zwar ist das Nullgebiet als das minimale, das Gebiet 1 als das Maximalgebiet zu bezeichnen. Ebenso stellen 0 und 1 die entgegen- gesetzten Extreme (Grenzfälle, limits) unter den Klassensymbolen vor, indem keine Klasse weniger als keines und keine mehr als alle Indi- viduen einer vorausgesetzten Mannigfaltigkeit (wo nicht von Objekten des Denkens überhaupt) enthalten kann.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/233>, abgerufen am 23.11.2024.