Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ihr gethan? -- Ich weiß nicht; aber ich sagte Ihnen wohl, Herr, daß die alte Katze Brigitte ihre ärgsten Lücken noch im Nacken hätte. An Brigitten vorbei, die eben herausging, eilte ich in Gretchens Zimmer. Sie kam mir mit einer freundlichen Begrüßung entgegen; aber ihre Augen und Wangen zeigten die frische Spur von Thränen. Sie haben geweint, theures Gretchen! sagte ich, Verhehlen Sie mir nichts! Was ist geschehen? -- Nichts, was mich erniedrigen, oder das Vertrauen, das Sie mir einflößen, mindern könnte, erwiderte sie mit großer Ruhe. -- Also doch etwas, das darauf abgesehen war? Sprechen Sie, liebes Kind; ich beschwöre Sie! -- Sie erzählte mir nun, daß Frau von Reichard sie Anfangs mit einer befremdenden Rückhaltung und Feierlichkeit aufgenommen, sie an ihre brave Tante erinnert und den Antheil, welchen sie an Gretchen nehme, durch die freundschaftliche Verbindung, worin sie mit der Tante gestanden, gerechtferigt habe. Hierauf habe sie verschiedene Fragen über Gretchens Bekanntschaft mit mir und über die Verhältnisse meines Hauses an sie gestellt. Da ihr Gretchen Alles umständlich und aufrichtig erzählt, was sie selbst davon wisse, sei Frau von Reichard nach und nach zutraulicher und endlich recht freundlich und offen geworden. Die Dame habe meinem Rufe und Charakter Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie aber doch ermahnt, gegen die Männer überhaupt auf ihrer Hut zu sein. Zum Schlusse habe ihr Frau von Reichard unverhohlen gesagt, ihr gethan? — Ich weiß nicht; aber ich sagte Ihnen wohl, Herr, daß die alte Katze Brigitte ihre ärgsten Lücken noch im Nacken hätte. An Brigitten vorbei, die eben herausging, eilte ich in Gretchens Zimmer. Sie kam mir mit einer freundlichen Begrüßung entgegen; aber ihre Augen und Wangen zeigten die frische Spur von Thränen. Sie haben geweint, theures Gretchen! sagte ich, Verhehlen Sie mir nichts! Was ist geschehen? — Nichts, was mich erniedrigen, oder das Vertrauen, das Sie mir einflößen, mindern könnte, erwiderte sie mit großer Ruhe. — Also doch etwas, das darauf abgesehen war? Sprechen Sie, liebes Kind; ich beschwöre Sie! — Sie erzählte mir nun, daß Frau von Reichard sie Anfangs mit einer befremdenden Rückhaltung und Feierlichkeit aufgenommen, sie an ihre brave Tante erinnert und den Antheil, welchen sie an Gretchen nehme, durch die freundschaftliche Verbindung, worin sie mit der Tante gestanden, gerechtferigt habe. Hierauf habe sie verschiedene Fragen über Gretchens Bekanntschaft mit mir und über die Verhältnisse meines Hauses an sie gestellt. Da ihr Gretchen Alles umständlich und aufrichtig erzählt, was sie selbst davon wisse, sei Frau von Reichard nach und nach zutraulicher und endlich recht freundlich und offen geworden. Die Dame habe meinem Rufe und Charakter Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie aber doch ermahnt, gegen die Männer überhaupt auf ihrer Hut zu sein. Zum Schlusse habe ihr Frau von Reichard unverhohlen gesagt, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="11"> <p><pb facs="#f0052"/> ihr gethan? — Ich weiß nicht; aber ich sagte Ihnen wohl, Herr, daß die alte Katze Brigitte ihre ärgsten Lücken noch im Nacken hätte.</p><lb/> <p>An Brigitten vorbei, die eben herausging, eilte ich in Gretchens Zimmer. Sie kam mir mit einer freundlichen Begrüßung entgegen; aber ihre Augen und Wangen zeigten die frische Spur von Thränen. Sie haben geweint, theures Gretchen! sagte ich, Verhehlen Sie mir nichts! Was ist geschehen? — Nichts, was mich erniedrigen, oder das Vertrauen, das Sie mir einflößen, mindern könnte, erwiderte sie mit großer Ruhe. — Also doch etwas, das darauf abgesehen war? Sprechen Sie, liebes Kind; ich beschwöre Sie! — Sie erzählte mir nun, daß Frau von Reichard sie Anfangs mit einer befremdenden Rückhaltung und Feierlichkeit aufgenommen, sie an ihre brave Tante erinnert und den Antheil, welchen sie an Gretchen nehme, durch die freundschaftliche Verbindung, worin sie mit der Tante gestanden, gerechtferigt habe. Hierauf habe sie verschiedene Fragen über Gretchens Bekanntschaft mit mir und über die Verhältnisse meines Hauses an sie gestellt. Da ihr Gretchen Alles umständlich und aufrichtig erzählt, was sie selbst davon wisse, sei Frau von Reichard nach und nach zutraulicher und endlich recht freundlich und offen geworden. Die Dame habe meinem Rufe und Charakter Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie aber doch ermahnt, gegen die Männer überhaupt auf ihrer Hut zu sein. Zum Schlusse habe ihr Frau von Reichard unverhohlen gesagt,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0052]
ihr gethan? — Ich weiß nicht; aber ich sagte Ihnen wohl, Herr, daß die alte Katze Brigitte ihre ärgsten Lücken noch im Nacken hätte.
An Brigitten vorbei, die eben herausging, eilte ich in Gretchens Zimmer. Sie kam mir mit einer freundlichen Begrüßung entgegen; aber ihre Augen und Wangen zeigten die frische Spur von Thränen. Sie haben geweint, theures Gretchen! sagte ich, Verhehlen Sie mir nichts! Was ist geschehen? — Nichts, was mich erniedrigen, oder das Vertrauen, das Sie mir einflößen, mindern könnte, erwiderte sie mit großer Ruhe. — Also doch etwas, das darauf abgesehen war? Sprechen Sie, liebes Kind; ich beschwöre Sie! — Sie erzählte mir nun, daß Frau von Reichard sie Anfangs mit einer befremdenden Rückhaltung und Feierlichkeit aufgenommen, sie an ihre brave Tante erinnert und den Antheil, welchen sie an Gretchen nehme, durch die freundschaftliche Verbindung, worin sie mit der Tante gestanden, gerechtferigt habe. Hierauf habe sie verschiedene Fragen über Gretchens Bekanntschaft mit mir und über die Verhältnisse meines Hauses an sie gestellt. Da ihr Gretchen Alles umständlich und aufrichtig erzählt, was sie selbst davon wisse, sei Frau von Reichard nach und nach zutraulicher und endlich recht freundlich und offen geworden. Die Dame habe meinem Rufe und Charakter Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie aber doch ermahnt, gegen die Männer überhaupt auf ihrer Hut zu sein. Zum Schlusse habe ihr Frau von Reichard unverhohlen gesagt,
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Zitationshilfe: | Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreyvogel_liebesgeschichte_1910/52>, abgerufen am 16.02.2025. |