Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

EINLEITUNG.
licher wie geistiger Seite theils edle, welche aufwärts zur Ver-
vollkommnung, theils unedle, lebensfeindliche, welche abwärts
zur Mangelhaftigkeit und Vernichtung führen. Die edlen sind:
die Keime der körperlichen und geistigen Gesundheit und Schön-
heit, die Keime des Lebens; die unedlen: die Keime der kör-
perlichen und geistigen Krankheit und Entartung, die Keime
des Todes. Die edlen Keime sollen durch den Kampf mit
den unedlen sich kräftigen und entwickeln und möglichst frei
von ihnen machen. Zwar sind die unedlen im Leben nie ganz
zu unterdrücken, weil ihr oppositionelles Fortwirken nothwen-
dig ist zur Erregung der immer höheren Entwickelung der
edlen. Es liegt aber in der Grundidee des Lebens, dass das
menschliche Streben nichtsdestoweniger immer auf die Unter-
drückung jener gerichtet bleibe, um wenigstens ihre möglichste
Beschränkung zu erreichen, und dass auch wieder die edlen
Keime unter sich je nach ihrem Werthe für das höchste Lebens-
ziel in das richtige Verhältniss der Unter- und Ueberordnung
gestellt werden sollen.

Aufgabe der Aeltern ist es, die edlen Keime richtig zu
pflegen und bis zu denjenigen Graden zu entwickeln, von wo
aus sie nach erreichter Selbständigkeit des jungen Menschen
zur bestimmungsgemässen Fortentwickelung am besten be-
fähigt sind. Denn diese Keime sind des Menschen Mitgabe:
ob und wie er sie entwickelt und verwendet, das ist während
seiner kindlichen Lebensperiode das Werk seiner Aeltern, von
da ab sein eigenes Werk, an welchem unablässig zu arbeiten
seine Aufgabe ist. Ohne richtige Pflege und Entwickelung
sind die angeborenen edlen Keime -- und gerade die obersten
unter ihnen am meisten -- der Verkümmerung oder Entartung
preisgegeben. Durch die Erziehung legen die Aeltern den
Grund, der Ausbau und die ganze künftige Beschaffenheit des
Menschen, die körperliche ebenso als die geistige, wurzeln auf
diesem Grunde. Der Mensch -- und wenn er Jahrhunderte
lebte -- wird nicht fertig an sich zu arbeiten, auf sich, auf
sein Leben so oder so gestaltend einzuwirken. Es kann daher
niemals Aufgabe der Erziehung sein, allseitig fertige Menschen
zu bilden. Vielmehr besteht dieselbe, insofern sie als eine

EINLEITUNG.
licher wie geistiger Seite theils edle, welche aufwärts zur Ver-
vollkommnung, theils unedle, lebensfeindliche, welche abwärts
zur Mangelhaftigkeit und Vernichtung führen. Die edlen sind:
die Keime der körperlichen und geistigen Gesundheit und Schön-
heit, die Keime des Lebens; die unedlen: die Keime der kör-
perlichen und geistigen Krankheit und Entartung, die Keime
des Todes. Die edlen Keime sollen durch den Kampf mit
den unedlen sich kräftigen und entwickeln und möglichst frei
von ihnen machen. Zwar sind die unedlen im Leben nie ganz
zu unterdrücken, weil ihr oppositionelles Fortwirken nothwen-
dig ist zur Erregung der immer höheren Entwickelung der
edlen. Es liegt aber in der Grundidee des Lebens, dass das
menschliche Streben nichtsdestoweniger immer auf die Unter-
drückung jener gerichtet bleibe, um wenigstens ihre möglichste
Beschränkung zu erreichen, und dass auch wieder die edlen
Keime unter sich je nach ihrem Werthe für das höchste Lebens-
ziel in das richtige Verhältniss der Unter- und Ueberordnung
gestellt werden sollen.

Aufgabe der Aeltern ist es, die edlen Keime richtig zu
pflegen und bis zu denjenigen Graden zu entwickeln, von wo
aus sie nach erreichter Selbständigkeit des jungen Menschen
zur bestimmungsgemässen Fortentwickelung am besten be-
fähigt sind. Denn diese Keime sind des Menschen Mitgabe:
ob und wie er sie entwickelt und verwendet, das ist während
seiner kindlichen Lebensperiode das Werk seiner Aeltern, von
da ab sein eigenes Werk, an welchem unablässig zu arbeiten
seine Aufgabe ist. Ohne richtige Pflege und Entwickelung
sind die angeborenen edlen Keime — und gerade die obersten
unter ihnen am meisten — der Verkümmerung oder Entartung
preisgegeben. Durch die Erziehung legen die Aeltern den
Grund, der Ausbau und die ganze künftige Beschaffenheit des
Menschen, die körperliche ebenso als die geistige, wurzeln auf
diesem Grunde. Der Mensch — und wenn er Jahrhunderte
lebte — wird nicht fertig an sich zu arbeiten, auf sich, auf
sein Leben so oder so gestaltend einzuwirken. Es kann daher
niemals Aufgabe der Erziehung sein, allseitig fertige Menschen
zu bilden. Vielmehr besteht dieselbe, insofern sie als eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0027" n="23"/><fw place="top" type="header">EINLEITUNG.</fw><lb/>
licher wie geistiger Seite theils edle, welche aufwärts zur Ver-<lb/>
vollkommnung, theils unedle, lebensfeindliche, welche abwärts<lb/>
zur Mangelhaftigkeit und Vernichtung führen. Die edlen sind:<lb/>
die Keime der körperlichen und geistigen Gesundheit und Schön-<lb/>
heit, die Keime des Lebens; die unedlen: die Keime der kör-<lb/>
perlichen und geistigen Krankheit und Entartung, die Keime<lb/>
des Todes. Die edlen Keime sollen durch den Kampf mit<lb/>
den unedlen sich kräftigen und entwickeln und möglichst frei<lb/>
von ihnen machen. Zwar sind die unedlen im Leben nie ganz<lb/>
zu unterdrücken, weil ihr oppositionelles Fortwirken nothwen-<lb/>
dig ist zur Erregung der immer höheren Entwickelung der<lb/>
edlen. Es liegt aber in der Grundidee des Lebens, dass das<lb/>
menschliche Streben nichtsdestoweniger immer auf die Unter-<lb/>
drückung jener gerichtet bleibe, um wenigstens ihre möglichste<lb/>
Beschränkung zu erreichen, und dass auch wieder die edlen<lb/>
Keime unter sich je nach ihrem Werthe für das höchste Lebens-<lb/>
ziel in das richtige Verhältniss der Unter- und Ueberordnung<lb/>
gestellt werden sollen.</p><lb/>
        <p>Aufgabe der Aeltern ist es, die edlen Keime richtig zu<lb/>
pflegen und bis zu denjenigen Graden zu entwickeln, von wo<lb/>
aus sie nach erreichter Selbständigkeit des jungen Menschen<lb/>
zur bestimmungsgemässen Fortentwickelung am besten be-<lb/>
fähigt sind. Denn diese Keime sind des Menschen Mitgabe:<lb/><hi rendition="#g">ob</hi> und <hi rendition="#g">wie</hi> er sie entwickelt und verwendet, das ist während<lb/>
seiner kindlichen Lebensperiode das Werk seiner Aeltern, von<lb/>
da ab sein eigenes Werk, an welchem unablässig zu arbeiten<lb/>
seine Aufgabe ist. Ohne richtige Pflege und Entwickelung<lb/>
sind die angeborenen edlen Keime &#x2014; und gerade die obersten<lb/>
unter ihnen am meisten &#x2014; der Verkümmerung oder Entartung<lb/>
preisgegeben. Durch die Erziehung legen die Aeltern den<lb/>
Grund, der Ausbau und die ganze künftige Beschaffenheit des<lb/>
Menschen, die körperliche ebenso als die geistige, wurzeln auf<lb/>
diesem Grunde. Der Mensch &#x2014; und wenn er Jahrhunderte<lb/>
lebte &#x2014; wird nicht fertig an sich zu arbeiten, auf sich, auf<lb/>
sein Leben so oder so gestaltend einzuwirken. Es kann daher<lb/>
niemals Aufgabe der Erziehung sein, allseitig fertige Menschen<lb/>
zu bilden. Vielmehr besteht dieselbe, insofern sie als eine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0027] EINLEITUNG. licher wie geistiger Seite theils edle, welche aufwärts zur Ver- vollkommnung, theils unedle, lebensfeindliche, welche abwärts zur Mangelhaftigkeit und Vernichtung führen. Die edlen sind: die Keime der körperlichen und geistigen Gesundheit und Schön- heit, die Keime des Lebens; die unedlen: die Keime der kör- perlichen und geistigen Krankheit und Entartung, die Keime des Todes. Die edlen Keime sollen durch den Kampf mit den unedlen sich kräftigen und entwickeln und möglichst frei von ihnen machen. Zwar sind die unedlen im Leben nie ganz zu unterdrücken, weil ihr oppositionelles Fortwirken nothwen- dig ist zur Erregung der immer höheren Entwickelung der edlen. Es liegt aber in der Grundidee des Lebens, dass das menschliche Streben nichtsdestoweniger immer auf die Unter- drückung jener gerichtet bleibe, um wenigstens ihre möglichste Beschränkung zu erreichen, und dass auch wieder die edlen Keime unter sich je nach ihrem Werthe für das höchste Lebens- ziel in das richtige Verhältniss der Unter- und Ueberordnung gestellt werden sollen. Aufgabe der Aeltern ist es, die edlen Keime richtig zu pflegen und bis zu denjenigen Graden zu entwickeln, von wo aus sie nach erreichter Selbständigkeit des jungen Menschen zur bestimmungsgemässen Fortentwickelung am besten be- fähigt sind. Denn diese Keime sind des Menschen Mitgabe: ob und wie er sie entwickelt und verwendet, das ist während seiner kindlichen Lebensperiode das Werk seiner Aeltern, von da ab sein eigenes Werk, an welchem unablässig zu arbeiten seine Aufgabe ist. Ohne richtige Pflege und Entwickelung sind die angeborenen edlen Keime — und gerade die obersten unter ihnen am meisten — der Verkümmerung oder Entartung preisgegeben. Durch die Erziehung legen die Aeltern den Grund, der Ausbau und die ganze künftige Beschaffenheit des Menschen, die körperliche ebenso als die geistige, wurzeln auf diesem Grunde. Der Mensch — und wenn er Jahrhunderte lebte — wird nicht fertig an sich zu arbeiten, auf sich, auf sein Leben so oder so gestaltend einzuwirken. Es kann daher niemals Aufgabe der Erziehung sein, allseitig fertige Menschen zu bilden. Vielmehr besteht dieselbe, insofern sie als eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/27
Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/27>, abgerufen am 18.12.2024.