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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8.--16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
zieht und am passendsten bei gegenwärtiger Altersstufe Er-
wähnung findet.

Die rechte Bildung des kindlichen Gemüthes und Cha-
rakters gedeiht nur im regelmässigen, geordneten häuslichen
Leben. Daher ist es höchst wünschenswerth, dass die ganzen
Lebensverhältnisse des Kindes bis zum erwachsenen Alter in
gemessener Einfachheit erhalten werden. Viel bewegtes,
buntes, sehr abwechselndes Leben vor erlangter Festigkeit
und Selbständigkeit macht schwankend, irre, zerstreut, raubt
vor der Zeit die Kindlichkeit, verweht den Blüthenduft der
kindlichen Seele, ehe es zum Fruchtansatze kommt. Wo also
die Lebensverhältnisse der Familie Derlei mit sich bringen,
suche man wenigstens die Kinder möglichst unberührt davon
zu erhalten. Es ist wichtig, das Interesse und die Freude
am Kleinen
durch weise Beschränkung möglichst lange rege
zu erhalten. Jeder vorzeitige Luxus vernichtet die Zufrieden-
heit, ist ein wachsender Nimmersatt, der das Leben abstumpft
und vergiftet. Diese Schwäche der Aeltern straft sich in der
Regel furchtbar.

Da, wo Sinn für die Musik herrscht, wird diese manche
freie Stunde der Kinder auf edle Weise füllen. Nur dann
auch, wenn sie zu einigem Verständnisse der Musik gelangt
sind, möge man ihnen -- aber immer nur als selten gebotene
Extrakost -- gelegentlich den Genuss eines Concertes oder
einer passenden Oper gewähren. Für den edlen bildenden
Einfluss der rein dramatischen Kunst ist noch kein richtiges
Verständniss vorhanden. Als blosses oberflächliches Vergnü-
gungs- und Unterhaltungsmittel sind aber Schauspiel, wie
Helden- und Trauerspiel kaum räthliche, wenigstens nur mit
höchster Einschränkung und Auswahl zu gewährende Genüsse.
Eher noch mag eine unschuldige Posse, die nur augenblick-
liche Eindrücke erzeugt, zuweilen sich rechtfertigen lassen.

Dagegen ist ein nicht genug zu empfehlendes Ausfüllungs-
mittel der freien Zeit, besonders der Winterabende, das ab-
wechselnde Vorlesen geeigneter Erzählungen, Reisebeschrei-
bungen, Lebens- und Charakterschilderungen, zur Abwechse-
lung jetzt auch sinnreicher Fabeln und Mährchen (vgl. S. 123),

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8.—16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
zieht und am passendsten bei gegenwärtiger Altersstufe Er-
wähnung findet.

Die rechte Bildung des kindlichen Gemüthes und Cha-
rakters gedeiht nur im regelmässigen, geordneten häuslichen
Leben. Daher ist es höchst wünschenswerth, dass die ganzen
Lebensverhältnisse des Kindes bis zum erwachsenen Alter in
gemessener Einfachheit erhalten werden. Viel bewegtes,
buntes, sehr abwechselndes Leben vor erlangter Festigkeit
und Selbständigkeit macht schwankend, irre, zerstreut, raubt
vor der Zeit die Kindlichkeit, verweht den Blüthenduft der
kindlichen Seele, ehe es zum Fruchtansatze kommt. Wo also
die Lebensverhältnisse der Familie Derlei mit sich bringen,
suche man wenigstens die Kinder möglichst unberührt davon
zu erhalten. Es ist wichtig, das Interesse und die Freude
am Kleinen
durch weise Beschränkung möglichst lange rege
zu erhalten. Jeder vorzeitige Luxus vernichtet die Zufrieden-
heit, ist ein wachsender Nimmersatt, der das Leben abstumpft
und vergiftet. Diese Schwäche der Aeltern straft sich in der
Regel furchtbar.

Da, wo Sinn für die Musik herrscht, wird diese manche
freie Stunde der Kinder auf edle Weise füllen. Nur dann
auch, wenn sie zu einigem Verständnisse der Musik gelangt
sind, möge man ihnen — aber immer nur als selten gebotene
Extrakost — gelegentlich den Genuss eines Concertes oder
einer passenden Oper gewähren. Für den edlen bildenden
Einfluss der rein dramatischen Kunst ist noch kein richtiges
Verständniss vorhanden. Als blosses oberflächliches Vergnü-
gungs- und Unterhaltungsmittel sind aber Schauspiel, wie
Helden- und Trauerspiel kaum räthliche, wenigstens nur mit
höchster Einschränkung und Auswahl zu gewährende Genüsse.
Eher noch mag eine unschuldige Posse, die nur augenblick-
liche Eindrücke erzeugt, zuweilen sich rechtfertigen lassen.

Dagegen ist ein nicht genug zu empfehlendes Ausfüllungs-
mittel der freien Zeit, besonders der Winterabende, das ab-
wechselnde Vorlesen geeigneter Erzählungen, Reisebeschrei-
bungen, Lebens- und Charakterschilderungen, zur Abwechse-
lung jetzt auch sinnreicher Fabeln und Mährchen (vgl. S. 123),

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[259/0263] 8.—16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. zieht und am passendsten bei gegenwärtiger Altersstufe Er- wähnung findet. Die rechte Bildung des kindlichen Gemüthes und Cha- rakters gedeiht nur im regelmässigen, geordneten häuslichen Leben. Daher ist es höchst wünschenswerth, dass die ganzen Lebensverhältnisse des Kindes bis zum erwachsenen Alter in gemessener Einfachheit erhalten werden. Viel bewegtes, buntes, sehr abwechselndes Leben vor erlangter Festigkeit und Selbständigkeit macht schwankend, irre, zerstreut, raubt vor der Zeit die Kindlichkeit, verweht den Blüthenduft der kindlichen Seele, ehe es zum Fruchtansatze kommt. Wo also die Lebensverhältnisse der Familie Derlei mit sich bringen, suche man wenigstens die Kinder möglichst unberührt davon zu erhalten. Es ist wichtig, das Interesse und die Freude am Kleinen durch weise Beschränkung möglichst lange rege zu erhalten. Jeder vorzeitige Luxus vernichtet die Zufrieden- heit, ist ein wachsender Nimmersatt, der das Leben abstumpft und vergiftet. Diese Schwäche der Aeltern straft sich in der Regel furchtbar. Da, wo Sinn für die Musik herrscht, wird diese manche freie Stunde der Kinder auf edle Weise füllen. Nur dann auch, wenn sie zu einigem Verständnisse der Musik gelangt sind, möge man ihnen — aber immer nur als selten gebotene Extrakost — gelegentlich den Genuss eines Concertes oder einer passenden Oper gewähren. Für den edlen bildenden Einfluss der rein dramatischen Kunst ist noch kein richtiges Verständniss vorhanden. Als blosses oberflächliches Vergnü- gungs- und Unterhaltungsmittel sind aber Schauspiel, wie Helden- und Trauerspiel kaum räthliche, wenigstens nur mit höchster Einschränkung und Auswahl zu gewährende Genüsse. Eher noch mag eine unschuldige Posse, die nur augenblick- liche Eindrücke erzeugt, zuweilen sich rechtfertigen lassen. Dagegen ist ein nicht genug zu empfehlendes Ausfüllungs- mittel der freien Zeit, besonders der Winterabende, das ab- wechselnde Vorlesen geeigneter Erzählungen, Reisebeschrei- bungen, Lebens- und Charakterschilderungen, zur Abwechse- lung jetzt auch sinnreicher Fabeln und Mährchen (vgl. S. 123), 17*

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/263>, abgerufen am 22.11.2024.