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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
ner der letzteren und die Lehrer buchstabenstreng gebun-
den sind. Denn die Lehrsätze bilden ja die mehr oder weni-
ger durch menschliche Bearbeitung geschaffene (confessionell
verschiedene) allgemeine Norm der religiösen Auffassungs-
und Einkleidungsform, oder vielmehr der Durchgangsform zur
Erreichung des Höchsten, können aber die Aneignungsfähig-
keit für die individuellen geistigen Besonderheiten der Men-
schen hinsichtlich aller einzelner untergeordneter Punkte der
Auffassung unmöglich zugleich in sich schliessen. Sie sind
die Marksteine und Wegweiser zum Ziele, welches hinter ihnen
liegt, dürfen aber nicht abschliessende Mauern sein. Für die-
sen weiteren Weg und für alle jene untergeordneten Auffas-
sungen bleibt also immer ein gewisser Spielraum, und er soll
auch bleiben für die geistige Selbstthätigkeit, weil alles gei-
stige Besitzthum, mithin auch das der Religion, erst durch
Erwerbung möglich ist. Zu Allem, was unser Geist und Herz
sich aneignen soll, gehört selbstverarbeitende Mitwirkung, oft
ein ringendes Zustreben desselben. Ausserdem bleibt es höch-
stens an der Oberfläche hängen, wird nicht wirkliches, inne-
res, geistiges Besitzthum. Der religiöse Glaube muss von in-
nen her zur Ueberzeugung sich ausbilden, wenn er wahrhaft
segensvolle und unzerstörbare Lebenskräftigkeit erhalten und
auf sittliche Veredelung hinwirken soll. Ein solcher überzeu-
gungskräftiger Glaube kann Vieles umfassen, was über der
Sehweite der Vernunft liegt, nur nicht was innerhalb dieser
Sehweite gegen die Vernunft ist.

Ein gänzlich passives Aufnehmen geistiger Nahrung ist
dem Grundprincipe des geistigen Lebens, der geistigen Frei-
heit und persönlichen Selbständigkeit, dem tief eingepflanzten
geistigen Entwickelungsdrange, den auch der ungebildetste
Mensch in sich fühlt, entgegen, eine psychologische Unmög-
lichkeit. Daher ist auch für religiöse Auffassungen eine indi-
viduelle Verarbeitung des Gegebenen die Bedingung der An-
eignung. Gleichwie nicht jedes menschliche Auge durch einen
und denselben Stand eines Perspectivglases, sondern erst durch
ein individuelles Zurechtrichten und Anpassen desselben, sein
Sehbild erfassen kann, so muss auch das geistige Auge seine

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
ner der letzteren und die Lehrer buchstabenstreng gebun-
den sind. Denn die Lehrsätze bilden ja die mehr oder weni-
ger durch menschliche Bearbeitung geschaffene (confessionell
verschiedene) allgemeine Norm der religiösen Auffassungs-
und Einkleidungsform, oder vielmehr der Durchgangsform zur
Erreichung des Höchsten, können aber die Aneignungsfähig-
keit für die individuellen geistigen Besonderheiten der Men-
schen hinsichtlich aller einzelner untergeordneter Punkte der
Auffassung unmöglich zugleich in sich schliessen. Sie sind
die Marksteine und Wegweiser zum Ziele, welches hinter ihnen
liegt, dürfen aber nicht abschliessende Mauern sein. Für die-
sen weiteren Weg und für alle jene untergeordneten Auffas-
sungen bleibt also immer ein gewisser Spielraum, und er soll
auch bleiben für die geistige Selbstthätigkeit, weil alles gei-
stige Besitzthum, mithin auch das der Religion, erst durch
Erwerbung möglich ist. Zu Allem, was unser Geist und Herz
sich aneignen soll, gehört selbstverarbeitende Mitwirkung, oft
ein ringendes Zustreben desselben. Ausserdem bleibt es höch-
stens an der Oberfläche hängen, wird nicht wirkliches, inne-
res, geistiges Besitzthum. Der religiöse Glaube muss von in-
nen her zur Ueberzeugung sich ausbilden, wenn er wahrhaft
segensvolle und unzerstörbare Lebenskräftigkeit erhalten und
auf sittliche Veredelung hinwirken soll. Ein solcher überzeu-
gungskräftiger Glaube kann Vieles umfassen, was über der
Sehweite der Vernunft liegt, nur nicht was innerhalb dieser
Sehweite gegen die Vernunft ist.

Ein gänzlich passives Aufnehmen geistiger Nahrung ist
dem Grundprincipe des geistigen Lebens, der geistigen Frei-
heit und persönlichen Selbständigkeit, dem tief eingepflanzten
geistigen Entwickelungsdrange, den auch der ungebildetste
Mensch in sich fühlt, entgegen, eine psychologische Unmög-
lichkeit. Daher ist auch für religiöse Auffassungen eine indi-
viduelle Verarbeitung des Gegebenen die Bedingung der An-
eignung. Gleichwie nicht jedes menschliche Auge durch einen
und denselben Stand eines Perspectivglases, sondern erst durch
ein individuelles Zurechtrichten und Anpassen desselben, sein
Sehbild erfassen kann, so muss auch das geistige Auge seine

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[252/0256] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. ner der letzteren und die Lehrer buchstabenstreng gebun- den sind. Denn die Lehrsätze bilden ja die mehr oder weni- ger durch menschliche Bearbeitung geschaffene (confessionell verschiedene) allgemeine Norm der religiösen Auffassungs- und Einkleidungsform, oder vielmehr der Durchgangsform zur Erreichung des Höchsten, können aber die Aneignungsfähig- keit für die individuellen geistigen Besonderheiten der Men- schen hinsichtlich aller einzelner untergeordneter Punkte der Auffassung unmöglich zugleich in sich schliessen. Sie sind die Marksteine und Wegweiser zum Ziele, welches hinter ihnen liegt, dürfen aber nicht abschliessende Mauern sein. Für die- sen weiteren Weg und für alle jene untergeordneten Auffas- sungen bleibt also immer ein gewisser Spielraum, und er soll auch bleiben für die geistige Selbstthätigkeit, weil alles gei- stige Besitzthum, mithin auch das der Religion, erst durch Erwerbung möglich ist. Zu Allem, was unser Geist und Herz sich aneignen soll, gehört selbstverarbeitende Mitwirkung, oft ein ringendes Zustreben desselben. Ausserdem bleibt es höch- stens an der Oberfläche hängen, wird nicht wirkliches, inne- res, geistiges Besitzthum. Der religiöse Glaube muss von in- nen her zur Ueberzeugung sich ausbilden, wenn er wahrhaft segensvolle und unzerstörbare Lebenskräftigkeit erhalten und auf sittliche Veredelung hinwirken soll. Ein solcher überzeu- gungskräftiger Glaube kann Vieles umfassen, was über der Sehweite der Vernunft liegt, nur nicht was innerhalb dieser Sehweite gegen die Vernunft ist. Ein gänzlich passives Aufnehmen geistiger Nahrung ist dem Grundprincipe des geistigen Lebens, der geistigen Frei- heit und persönlichen Selbständigkeit, dem tief eingepflanzten geistigen Entwickelungsdrange, den auch der ungebildetste Mensch in sich fühlt, entgegen, eine psychologische Unmög- lichkeit. Daher ist auch für religiöse Auffassungen eine indi- viduelle Verarbeitung des Gegebenen die Bedingung der An- eignung. Gleichwie nicht jedes menschliche Auge durch einen und denselben Stand eines Perspectivglases, sondern erst durch ein individuelles Zurechtrichten und Anpassen desselben, sein Sehbild erfassen kann, so muss auch das geistige Auge seine

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/256>, abgerufen am 25.11.2024.