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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND IM UNTERRICHTE.
allgemeine verkehrte Begriff, und noch dazu von officieller
Seite her, im Kinde bekräftigt, dass Alles, was ausserhalb des
sinnlichen Lebensgenusses liegt, die Berufsarbeit überhaupt,
als eine Strafe oder mindestens eine Last zu betrachten sei,
der man sich je eher je lieber zu entledigen trachten müsse.
Wenn der Lehrer die Schularbeit zur Strafe stempelt, wie
kann da der Schüler sie anders betrachten und innere Neigung
dazu behalten? Arbeit soll Freude sein und, wo sie es
nicht ist, werden!
Also lieber jede andere Strafe, nur diese
nicht! Handelt es sich bei Einsperrungsstrafen um Ausfüllung
der Zeit, so gebe man irgend eine in dieser Beziehung gleich-
giltige mechanische Beschäftigung auf. Versäumte und des-
halb nachzuholende Arbeiten sind nicht Strafen -- denn sie
sind ja auch bei unverschuldeter Versäumniss zu leisten --
sondern durch den Lehrgang erforderlich gemachte Ausglei-
chungen, und der Begriff der Strafe, wenn eine solche ausser-
dem ertheilt werden soll, muss scharf getrennt davon gehal-
ten werden.

In umgekehrter Richtung muss auf alle Weise gewirkt,
in das Lernen, in die Arbeit selbst, jeder nur mögliche edle
Reiz gelegt, wo es also irgend geschehen kann, im Kinde das
Gefühl der Selbstbefriedigung (durch Rückblick auf die
Leistungen) und die Hoffnung auf das weitere Gelingen ge-
nährt, sowie die praktische Anwendung des Gelernten oft her-
vorgehoben werden. Als ein besonderer Weg nach dieser
Richtung hin dürfte sich vielleicht eignen, wenn für jede Classe
wöchentlich nur 1 oder 2 Extra-Lectionen, gleichsam als höhere
Stufe eines passenden interessanten Lehrgegenstandes (z. B. Zeich-
nen, Singen, Sprachen, Naturwissenschaften) eingerichtet wür-
den, die als Belohnungs-Lectionen nur für die in den all-
gemeinen Lectionen fleissigen und tüchtigen Schüler zugängig
sein dürften, und welchen sicherlich ein allgemeines Zustreben
zu Theil werden würde. Zeitweiliger Wiederausschluss bereits
Eingetretener böte dann zugleich ein psychologisch richtig wir-
kendes Strafmittel.

Der zweite jener Grundsätze ist: Anschaulichkeit.
Die Nothwendigkeit, jeden Unterricht soweit als eben irgend

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND IM UNTERRICHTE.
allgemeine verkehrte Begriff, und noch dazu von officieller
Seite her, im Kinde bekräftigt, dass Alles, was ausserhalb des
sinnlichen Lebensgenusses liegt, die Berufsarbeit überhaupt,
als eine Strafe oder mindestens eine Last zu betrachten sei,
der man sich je eher je lieber zu entledigen trachten müsse.
Wenn der Lehrer die Schularbeit zur Strafe stempelt, wie
kann da der Schüler sie anders betrachten und innere Neigung
dazu behalten? Arbeit soll Freude sein und, wo sie es
nicht ist, werden!
Also lieber jede andere Strafe, nur diese
nicht! Handelt es sich bei Einsperrungsstrafen um Ausfüllung
der Zeit, so gebe man irgend eine in dieser Beziehung gleich-
giltige mechanische Beschäftigung auf. Versäumte und des-
halb nachzuholende Arbeiten sind nicht Strafen — denn sie
sind ja auch bei unverschuldeter Versäumniss zu leisten —
sondern durch den Lehrgang erforderlich gemachte Ausglei-
chungen, und der Begriff der Strafe, wenn eine solche ausser-
dem ertheilt werden soll, muss scharf getrennt davon gehal-
ten werden.

In umgekehrter Richtung muss auf alle Weise gewirkt,
in das Lernen, in die Arbeit selbst, jeder nur mögliche edle
Reiz gelegt, wo es also irgend geschehen kann, im Kinde das
Gefühl der Selbstbefriedigung (durch Rückblick auf die
Leistungen) und die Hoffnung auf das weitere Gelingen ge-
nährt, sowie die praktische Anwendung des Gelernten oft her-
vorgehoben werden. Als ein besonderer Weg nach dieser
Richtung hin dürfte sich vielleicht eignen, wenn für jede Classe
wöchentlich nur 1 oder 2 Extra-Lectionen, gleichsam als höhere
Stufe eines passenden interessanten Lehrgegenstandes (z. B. Zeich-
nen, Singen, Sprachen, Naturwissenschaften) eingerichtet wür-
den, die als Belohnungs-Lectionen nur für die in den all-
gemeinen Lectionen fleissigen und tüchtigen Schüler zugängig
sein dürften, und welchen sicherlich ein allgemeines Zustreben
zu Theil werden würde. Zeitweiliger Wiederausschluss bereits
Eingetretener böte dann zugleich ein psychologisch richtig wir-
kendes Strafmittel.

Der zweite jener Grundsätze ist: Anschaulichkeit.
Die Nothwendigkeit, jeden Unterricht soweit als eben irgend

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[230/0234] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND IM UNTERRICHTE. allgemeine verkehrte Begriff, und noch dazu von officieller Seite her, im Kinde bekräftigt, dass Alles, was ausserhalb des sinnlichen Lebensgenusses liegt, die Berufsarbeit überhaupt, als eine Strafe oder mindestens eine Last zu betrachten sei, der man sich je eher je lieber zu entledigen trachten müsse. Wenn der Lehrer die Schularbeit zur Strafe stempelt, wie kann da der Schüler sie anders betrachten und innere Neigung dazu behalten? Arbeit soll Freude sein und, wo sie es nicht ist, werden! Also lieber jede andere Strafe, nur diese nicht! Handelt es sich bei Einsperrungsstrafen um Ausfüllung der Zeit, so gebe man irgend eine in dieser Beziehung gleich- giltige mechanische Beschäftigung auf. Versäumte und des- halb nachzuholende Arbeiten sind nicht Strafen — denn sie sind ja auch bei unverschuldeter Versäumniss zu leisten — sondern durch den Lehrgang erforderlich gemachte Ausglei- chungen, und der Begriff der Strafe, wenn eine solche ausser- dem ertheilt werden soll, muss scharf getrennt davon gehal- ten werden. In umgekehrter Richtung muss auf alle Weise gewirkt, in das Lernen, in die Arbeit selbst, jeder nur mögliche edle Reiz gelegt, wo es also irgend geschehen kann, im Kinde das Gefühl der Selbstbefriedigung (durch Rückblick auf die Leistungen) und die Hoffnung auf das weitere Gelingen ge- nährt, sowie die praktische Anwendung des Gelernten oft her- vorgehoben werden. Als ein besonderer Weg nach dieser Richtung hin dürfte sich vielleicht eignen, wenn für jede Classe wöchentlich nur 1 oder 2 Extra-Lectionen, gleichsam als höhere Stufe eines passenden interessanten Lehrgegenstandes (z. B. Zeich- nen, Singen, Sprachen, Naturwissenschaften) eingerichtet wür- den, die als Belohnungs-Lectionen nur für die in den all- gemeinen Lectionen fleissigen und tüchtigen Schüler zugängig sein dürften, und welchen sicherlich ein allgemeines Zustreben zu Theil werden würde. Zeitweiliger Wiederausschluss bereits Eingetretener böte dann zugleich ein psychologisch richtig wir- kendes Strafmittel. Der zweite jener Grundsätze ist: Anschaulichkeit. Die Nothwendigkeit, jeden Unterricht soweit als eben irgend

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/234>, abgerufen am 22.11.2024.