Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

8. -- 16.JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. BEWEGUNG.
das Turnen. Hierunter begreift man die systematische
Uebung und Ausbildung der Muskelthätigkeit des ganzen Kör-
pers, sowohl ohne als mit und an verschiedenen Geräthschaf-
ten. Das Turnen ist vermöge seiner unbegrenzten Mannich-
faltigkeit und vollständigsten Allseitigkeit unstreitig das voll-
kommenste Mittel körperlicher Ausbildung, was wir besitzen.
Nur soll dabei nicht das Erlernen von turnerischen Kunstfertig-
keiten an sich, sondern stets der Gesundheits- und Lebens-
zweck das Hauptziel bleiben. Die Haupt-Functionen des or-
ganischen Lebensprocesses werden dadurch, direct und indi-
rect, in heilsamen Schwung versetzt, die Entwickelung dauer-
haft fester Gesundheit, wahrer Schönheit der Körperform, Ge-
wandtheit und praktische Sicherheit aller Bewegungen, sowie
auf geistiger Seite besonnener Muth, Geistesgegenwart und
Thatkraft begünstigt. Volle Herrschaft über den Körper hebt
die Willenskraft überhaupt auf eine höhere Stufe, ist die Vor-
bedingung geistiger Freiheit.

In unseren jetzigen Lebensverhältnissen bedürfen wir
eines derartigen künstlichen Mittels allerdings, schon deshalb,
weil bei den hoch gestiegenen Ansprüchen an die gei-
stige und technische Ausbildung auch unsere Jugend nicht
mehr so viel Zeit übrig hat, um dem Bedürfnisse körperlicher
Bewegung und Ausbildung auf sonst gewöhnlichem und natür-
lichem Wege genügend zu entsprechen. Der grössere Theil
der Tageszeit kann in der jetzigen Altersperiode nicht mehr
auf beliebiges planloses Austummeln verwendet werden. Auch
fehlt den meisten, besonders den Stadtkindern, dazu Gelegen-
heit und Anregung. Das Turnen bietet nun für diese einan-
der entgegenstehenden Rücksichten eine sehr zweckmässige
Aushilfe. Einerseits entspricht es den Gesundheitsrücksichten
auf die vollständigste Weise, alle sonst gewöhnlichen Bewe-
gungsarten darin weit übertreffend, ohne andererseits der für
andere Beschäftigungen nothwendigen Zeit Abbruch zu thun.
Wenn wöchentlich nur 3--4 mal eine Zeit von einer Stunde
auf geregelte Turnübungen verwendet wird, so geschieht dem
Bedürfnisse der Entwickelung und Ausbildung der Körper-
kräfte vollständigere Genüge, als wenn täglich mehrere Stunden

8. — 16.JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. BEWEGUNG.
das Turnen. Hierunter begreift man die systematische
Uebung und Ausbildung der Muskelthätigkeit des ganzen Kör-
pers, sowohl ohne als mit und an verschiedenen Geräthschaf-
ten. Das Turnen ist vermöge seiner unbegrenzten Mannich-
faltigkeit und vollständigsten Allseitigkeit unstreitig das voll-
kommenste Mittel körperlicher Ausbildung, was wir besitzen.
Nur soll dabei nicht das Erlernen von turnerischen Kunstfertig-
keiten an sich, sondern stets der Gesundheits- und Lebens-
zweck das Hauptziel bleiben. Die Haupt-Functionen des or-
ganischen Lebensprocesses werden dadurch, direct und indi-
rect, in heilsamen Schwung versetzt, die Entwickelung dauer-
haft fester Gesundheit, wahrer Schönheit der Körperform, Ge-
wandtheit und praktische Sicherheit aller Bewegungen, sowie
auf geistiger Seite besonnener Muth, Geistesgegenwart und
Thatkraft begünstigt. Volle Herrschaft über den Körper hebt
die Willenskraft überhaupt auf eine höhere Stufe, ist die Vor-
bedingung geistiger Freiheit.

In unseren jetzigen Lebensverhältnissen bedürfen wir
eines derartigen künstlichen Mittels allerdings, schon deshalb,
weil bei den hoch gestiegenen Ansprüchen an die gei-
stige und technische Ausbildung auch unsere Jugend nicht
mehr so viel Zeit übrig hat, um dem Bedürfnisse körperlicher
Bewegung und Ausbildung auf sonst gewöhnlichem und natür-
lichem Wege genügend zu entsprechen. Der grössere Theil
der Tageszeit kann in der jetzigen Altersperiode nicht mehr
auf beliebiges planloses Austummeln verwendet werden. Auch
fehlt den meisten, besonders den Stadtkindern, dazu Gelegen-
heit und Anregung. Das Turnen bietet nun für diese einan-
der entgegenstehenden Rücksichten eine sehr zweckmässige
Aushilfe. Einerseits entspricht es den Gesundheitsrücksichten
auf die vollständigste Weise, alle sonst gewöhnlichen Bewe-
gungsarten darin weit übertreffend, ohne andererseits der für
andere Beschäftigungen nothwendigen Zeit Abbruch zu thun.
Wenn wöchentlich nur 3—4 mal eine Zeit von einer Stunde
auf geregelte Turnübungen verwendet wird, so geschieht dem
Bedürfnisse der Entwickelung und Ausbildung der Körper-
kräfte vollständigere Genüge, als wenn täglich mehrere Stunden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0180" n="176"/><fw place="top" type="header">8. &#x2014; 16.JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. BEWEGUNG.</fw><lb/><hi rendition="#et">das <hi rendition="#g">Turnen</hi>. Hierunter begreift man die systematische</hi><lb/>
Uebung und Ausbildung der Muskelthätigkeit des ganzen Kör-<lb/>
pers, sowohl ohne als mit und an verschiedenen Geräthschaf-<lb/>
ten. Das Turnen ist vermöge seiner unbegrenzten Mannich-<lb/>
faltigkeit und vollständigsten Allseitigkeit unstreitig das voll-<lb/>
kommenste Mittel körperlicher Ausbildung, was wir besitzen.<lb/>
Nur soll dabei nicht das Erlernen von turnerischen Kunstfertig-<lb/>
keiten an sich, sondern stets der Gesundheits- und Lebens-<lb/>
zweck das Hauptziel bleiben. Die Haupt-Functionen des or-<lb/>
ganischen Lebensprocesses werden dadurch, direct und indi-<lb/>
rect, in heilsamen Schwung versetzt, die Entwickelung dauer-<lb/>
haft fester Gesundheit, wahrer Schönheit der Körperform, Ge-<lb/>
wandtheit und praktische Sicherheit aller Bewegungen, sowie<lb/>
auf geistiger Seite besonnener Muth, Geistesgegenwart und<lb/>
Thatkraft begünstigt. Volle Herrschaft über den Körper hebt<lb/>
die Willenskraft überhaupt auf eine höhere Stufe, ist die Vor-<lb/>
bedingung geistiger Freiheit.</p><lb/>
            <p>In unseren jetzigen Lebensverhältnissen bedürfen wir<lb/>
eines derartigen künstlichen Mittels allerdings, schon deshalb,<lb/>
weil bei den hoch gestiegenen Ansprüchen an die gei-<lb/>
stige und technische Ausbildung auch unsere Jugend nicht<lb/>
mehr so viel Zeit übrig hat, um dem Bedürfnisse körperlicher<lb/>
Bewegung und Ausbildung auf sonst gewöhnlichem und natür-<lb/>
lichem Wege genügend zu entsprechen. Der grössere Theil<lb/>
der Tageszeit kann in der jetzigen Altersperiode nicht mehr<lb/>
auf beliebiges planloses Austummeln verwendet werden. Auch<lb/>
fehlt den meisten, besonders den Stadtkindern, dazu Gelegen-<lb/>
heit und Anregung. Das Turnen bietet nun für diese einan-<lb/>
der entgegenstehenden Rücksichten eine sehr zweckmässige<lb/>
Aushilfe. Einerseits entspricht es den Gesundheitsrücksichten<lb/>
auf die vollständigste Weise, alle sonst gewöhnlichen Bewe-<lb/>
gungsarten darin weit übertreffend, ohne andererseits der für<lb/>
andere Beschäftigungen nothwendigen Zeit Abbruch zu thun.<lb/>
Wenn wöchentlich nur 3&#x2014;4 mal eine Zeit von einer Stunde<lb/>
auf geregelte Turnübungen verwendet wird, so geschieht dem<lb/>
Bedürfnisse der Entwickelung und Ausbildung der Körper-<lb/>
kräfte vollständigere Genüge, als wenn täglich mehrere Stunden<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0180] 8. — 16.JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. BEWEGUNG. das Turnen. Hierunter begreift man die systematische Uebung und Ausbildung der Muskelthätigkeit des ganzen Kör- pers, sowohl ohne als mit und an verschiedenen Geräthschaf- ten. Das Turnen ist vermöge seiner unbegrenzten Mannich- faltigkeit und vollständigsten Allseitigkeit unstreitig das voll- kommenste Mittel körperlicher Ausbildung, was wir besitzen. Nur soll dabei nicht das Erlernen von turnerischen Kunstfertig- keiten an sich, sondern stets der Gesundheits- und Lebens- zweck das Hauptziel bleiben. Die Haupt-Functionen des or- ganischen Lebensprocesses werden dadurch, direct und indi- rect, in heilsamen Schwung versetzt, die Entwickelung dauer- haft fester Gesundheit, wahrer Schönheit der Körperform, Ge- wandtheit und praktische Sicherheit aller Bewegungen, sowie auf geistiger Seite besonnener Muth, Geistesgegenwart und Thatkraft begünstigt. Volle Herrschaft über den Körper hebt die Willenskraft überhaupt auf eine höhere Stufe, ist die Vor- bedingung geistiger Freiheit. In unseren jetzigen Lebensverhältnissen bedürfen wir eines derartigen künstlichen Mittels allerdings, schon deshalb, weil bei den hoch gestiegenen Ansprüchen an die gei- stige und technische Ausbildung auch unsere Jugend nicht mehr so viel Zeit übrig hat, um dem Bedürfnisse körperlicher Bewegung und Ausbildung auf sonst gewöhnlichem und natür- lichem Wege genügend zu entsprechen. Der grössere Theil der Tageszeit kann in der jetzigen Altersperiode nicht mehr auf beliebiges planloses Austummeln verwendet werden. Auch fehlt den meisten, besonders den Stadtkindern, dazu Gelegen- heit und Anregung. Das Turnen bietet nun für diese einan- der entgegenstehenden Rücksichten eine sehr zweckmässige Aushilfe. Einerseits entspricht es den Gesundheitsrücksichten auf die vollständigste Weise, alle sonst gewöhnlichen Bewe- gungsarten darin weit übertreffend, ohne andererseits der für andere Beschäftigungen nothwendigen Zeit Abbruch zu thun. Wenn wöchentlich nur 3—4 mal eine Zeit von einer Stunde auf geregelte Turnübungen verwendet wird, so geschieht dem Bedürfnisse der Entwickelung und Ausbildung der Körper- kräfte vollständigere Genüge, als wenn täglich mehrere Stunden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/180
Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/180>, abgerufen am 21.11.2024.