2.--7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINER WÄRTERIN.
der Gegenwart (denn das Kind lebt jetzt nur noch in der Gegenwart), harmlose, einfache, liebliche oder mit einer gesunden Moral verknüpfte Genrebilder, da- zwischen zur Abwechselung einfach lustige, komi- sche Geschichtchen!
Diese erwähnten recht ernstlichen nachtheiligen Einflüsse drohen unseren Kindern sowohl von Seiten eines ziemlich um- fänglichen Theiles der gegenwärtigen Kinderliteratur, als auch von Seiten der Wärterinnen. Da nun die Kinder wohl mei- stens einen grossen Theil der Zeit den Wärterinnen allein an- vertraut sind, und gerade von dieser Seite her, oft aus Un- kenntniss, das Einschleichen jener Einflüsse am leichtesten und häufigsten erfolgt, so fragt es sich: was ist zu thun, um sich dagegen sicherzustellen? Der beste Weg, um sich eines nur heilsamen Einflusses der Erzählungen zu versichern, ist wohl der, dass man der Wärterin sorgfältig ausgewählte Kindergeschichten zu lesen gibt und es ihr zur Gewis- senssache macht, keine anderen als diese nach und nach dem Kinde zu erzählen. Die Wärterinnen gehen meistens sehr gern darauf ein, weil sie dadurch der Verlegenheit, auf Er- zählungsstoff zu sinnen, enthoben sind. Sodann möge man der Wärterin aber auch empfehlen, sich jede vorerzählte Ge- schichte von dem Kinde zu verschiedenen Zeiten nacher- zählen zu lassen. Dadurch wird die Auffassungsgabe des Kindes geschärft, das Gedächtniss und die Sprachfertigkeit ge- übt, und das Interesse an der Sache ausnehmend gehoben.
Gar häufig findet man, dass die Wärterinnen es lieben, gewisse gewaltsame Gemüthseindrücke den Kindern zu bereiten, sei es aus Neckerei, sei es als Zuchtmittel: Schreck, Furcht als Drohung oder Strafe, freudige Ueberraschung als Belohnung. Es bedarf wohl keiner weiteren Auseinander- setzung, dass alle sehr heftigen, erschütternden und gar nicht vorbereiteten Gemüthseindrücke überhaupt, besonders dem frü- hen kindlichen Alter geradezu gefährlich und durch keinerlei damit verbundene Absicht zu rechtfertigen sind. Kein Mensch kann einen urplötzlichen heftigen Gemüthseindruck, sei er ein schreckhafter oder ein freudiger, in seinen Folgen, die zuweilen
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der Gegenwart (denn das Kind lebt jetzt nur noch in der Gegenwart), harmlose, einfache, liebliche oder mit einer gesunden Moral verknüpfte Genrebilder, da- zwischen zur Abwechselung einfach lustige, komi- sche Geschichtchen!
Diese erwähnten recht ernstlichen nachtheiligen Einflüsse drohen unseren Kindern sowohl von Seiten eines ziemlich um- fänglichen Theiles der gegenwärtigen Kinderliteratur, als auch von Seiten der Wärterinnen. Da nun die Kinder wohl mei- stens einen grossen Theil der Zeit den Wärterinnen allein an- vertraut sind, und gerade von dieser Seite her, oft aus Un- kenntniss, das Einschleichen jener Einflüsse am leichtesten und häufigsten erfolgt, so fragt es sich: was ist zu thun, um sich dagegen sicherzustellen? Der beste Weg, um sich eines nur heilsamen Einflusses der Erzählungen zu versichern, ist wohl der, dass man der Wärterin sorgfältig ausgewählte Kindergeschichten zu lesen gibt und es ihr zur Gewis- senssache macht, keine anderen als diese nach und nach dem Kinde zu erzählen. Die Wärterinnen gehen meistens sehr gern darauf ein, weil sie dadurch der Verlegenheit, auf Er- zählungsstoff zu sinnen, enthoben sind. Sodann möge man der Wärterin aber auch empfehlen, sich jede vorerzählte Ge- schichte von dem Kinde zu verschiedenen Zeiten nacher- zählen zu lassen. Dadurch wird die Auffassungsgabe des Kindes geschärft, das Gedächtniss und die Sprachfertigkeit ge- übt, und das Interesse an der Sache ausnehmend gehoben.
Gar häufig findet man, dass die Wärterinnen es lieben, gewisse gewaltsame Gemüthseindrücke den Kindern zu bereiten, sei es aus Neckerei, sei es als Zuchtmittel: Schreck, Furcht als Drohung oder Strafe, freudige Ueberraschung als Belohnung. Es bedarf wohl keiner weiteren Auseinander- setzung, dass alle sehr heftigen, erschütternden und gar nicht vorbereiteten Gemüthseindrücke überhaupt, besonders dem frü- hen kindlichen Alter geradezu gefährlich und durch keinerlei damit verbundene Absicht zu rechtfertigen sind. Kein Mensch kann einen urplötzlichen heftigen Gemüthseindruck, sei er ein schreckhafter oder ein freudiger, in seinen Folgen, die zuweilen
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2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINER WÄRTERIN.
der Gegenwart (denn das Kind lebt jetzt nur noch in der
Gegenwart), harmlose, einfache, liebliche oder mit
einer gesunden Moral verknüpfte Genrebilder, da-
zwischen zur Abwechselung einfach lustige, komi-
sche Geschichtchen!
Diese erwähnten recht ernstlichen nachtheiligen Einflüsse
drohen unseren Kindern sowohl von Seiten eines ziemlich um-
fänglichen Theiles der gegenwärtigen Kinderliteratur, als auch
von Seiten der Wärterinnen. Da nun die Kinder wohl mei-
stens einen grossen Theil der Zeit den Wärterinnen allein an-
vertraut sind, und gerade von dieser Seite her, oft aus Un-
kenntniss, das Einschleichen jener Einflüsse am leichtesten und
häufigsten erfolgt, so fragt es sich: was ist zu thun, um sich
dagegen sicherzustellen? Der beste Weg, um sich eines nur
heilsamen Einflusses der Erzählungen zu versichern, ist wohl
der, dass man der Wärterin sorgfältig ausgewählte
Kindergeschichten zu lesen gibt und es ihr zur Gewis-
senssache macht, keine anderen als diese nach und nach
dem Kinde zu erzählen. Die Wärterinnen gehen meistens sehr
gern darauf ein, weil sie dadurch der Verlegenheit, auf Er-
zählungsstoff zu sinnen, enthoben sind. Sodann möge man
der Wärterin aber auch empfehlen, sich jede vorerzählte Ge-
schichte von dem Kinde zu verschiedenen Zeiten nacher-
zählen zu lassen. Dadurch wird die Auffassungsgabe des
Kindes geschärft, das Gedächtniss und die Sprachfertigkeit ge-
übt, und das Interesse an der Sache ausnehmend gehoben.
Gar häufig findet man, dass die Wärterinnen es lieben,
gewisse gewaltsame Gemüthseindrücke den Kindern zu
bereiten, sei es aus Neckerei, sei es als Zuchtmittel: Schreck,
Furcht als Drohung oder Strafe, freudige Ueberraschung als
Belohnung. Es bedarf wohl keiner weiteren Auseinander-
setzung, dass alle sehr heftigen, erschütternden und gar nicht
vorbereiteten Gemüthseindrücke überhaupt, besonders dem frü-
hen kindlichen Alter geradezu gefährlich und durch keinerlei
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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/129>, abgerufen am 24.11.2024.
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