weihen. Der Schweiß perlte ihm auf der hohen Stirn; ein Zucken durchfuhr seine Glieder; eine ganze Welt von Erinnerungen ging durch den An- blick der Züge der Einzigen, die er wahrhaft, die er mit reiner Liebe geliebt hatte, in ihm auf!
Von dem Gemälde glitten dann seine Blicke auf das bleiche Antlitz Arnolds über und er konnte die Aehnlichkeit einiger Gesichtszüge des Ohnmäch- tigen mit denen des Portraits nicht länger verken- nen: so war es ihr Sohn, Sidoniens Sohn, und zugleich der seinige, der in einem todähnlichen Zu- stande vor ihm da lag!
-- "Das also war es," rief er mit seltsam veränderter Stimme und tief Athem schöpfend, "das also war es, was mich mit so unwiderstehlicher Ge- walt zu Diesem hinzog? -- Und wenn die Natur so mächtig ihre Stimme in meinem Herzen erhob," fuhr er nach einer langen Pause in seinem Selbst- gespräche fort, "weshalb schwieg sie denn gänzlich in dem seinigen? Hat er mir nicht wiederholt ge- sagt, daß er mich hasse, verachte? hat er es mir nicht, so oft er gekonnt, bewiesen? Würde seine Hand wohl gezittert haben, mich zu vernichten, wenn er es vermocht hätte? Wenn aber ein unzerreiß- bares Band, ein magisches, zwischen Eltern und Kindern durch Natur gewoben ist, wie kann sich
weihen. Der Schweiß perlte ihm auf der hohen Stirn; ein Zucken durchfuhr ſeine Glieder; eine ganze Welt von Erinnerungen ging durch den An- blick der Züge der Einzigen, die er wahrhaft, die er mit reiner Liebe geliebt hatte, in ihm auf!
Von dem Gemälde glitten dann ſeine Blicke auf das bleiche Antlitz Arnolds über und er konnte die Aehnlichkeit einiger Geſichtszüge des Ohnmäch- tigen mit denen des Portraits nicht länger verken- nen: ſo war es ihr Sohn, Sidoniens Sohn, und zugleich der ſeinige, der in einem todähnlichen Zu- ſtande vor ihm da lag!
— „Das alſo war es,“ rief er mit ſeltſam veränderter Stimme und tief Athem ſchöpfend, „das alſo war es, was mich mit ſo unwiderſtehlicher Ge- walt zu Dieſem hinzog? — Und wenn die Natur ſo mächtig ihre Stimme in meinem Herzen erhob,“ fuhr er nach einer langen Pauſe in ſeinem Selbſt- geſpräche fort, „weshalb ſchwieg ſie denn gänzlich in dem ſeinigen? Hat er mir nicht wiederholt ge- ſagt, daß er mich haſſe, verachte? hat er es mir nicht, ſo oft er gekonnt, bewieſen? Würde ſeine Hand wohl gezittert haben, mich zu vernichten, wenn er es vermocht hätte? Wenn aber ein unzerreiß- bares Band, ein magiſches, zwiſchen Eltern und Kindern durch Natur gewoben iſt, wie kann ſich
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0096"n="90"/>
weihen. Der Schweiß perlte ihm auf der hohen<lb/>
Stirn; ein Zucken durchfuhr ſeine Glieder; eine<lb/>
ganze Welt von Erinnerungen ging durch den An-<lb/>
blick der Züge der Einzigen, die er wahrhaft, die<lb/>
er mit reiner Liebe geliebt hatte, in ihm auf!</p><lb/><p>Von dem Gemälde glitten dann ſeine Blicke<lb/>
auf das bleiche Antlitz Arnolds über und er konnte<lb/>
die Aehnlichkeit einiger Geſichtszüge des Ohnmäch-<lb/>
tigen mit denen des Portraits nicht länger verken-<lb/>
nen: ſo war es <hirendition="#g">ihr</hi> Sohn, Sidoniens Sohn, und<lb/>
zugleich der ſeinige, der in einem todähnlichen Zu-<lb/>ſtande vor ihm da lag!</p><lb/><p>—„Das alſo war es,“ rief er mit ſeltſam<lb/>
veränderter Stimme und tief Athem ſchöpfend, „das<lb/>
alſo war es, was mich mit ſo unwiderſtehlicher Ge-<lb/>
walt zu Dieſem hinzog? — Und wenn die Natur<lb/>ſo mächtig ihre Stimme in meinem Herzen erhob,“<lb/>
fuhr er nach einer langen Pauſe in ſeinem Selbſt-<lb/>
geſpräche fort, „weshalb ſchwieg ſie denn gänzlich<lb/>
in dem ſeinigen? Hat er mir nicht wiederholt ge-<lb/>ſagt, daß er mich haſſe, verachte? hat er es mir<lb/>
nicht, ſo oft er gekonnt, bewieſen? Würde ſeine<lb/>
Hand wohl gezittert haben, mich zu vernichten, wenn<lb/>
er es vermocht hätte? Wenn aber ein unzerreiß-<lb/>
bares Band, ein magiſches, zwiſchen Eltern und<lb/>
Kindern durch Natur gewoben iſt, wie kann ſich<lb/></p></div></body></text></TEI>
[90/0096]
weihen. Der Schweiß perlte ihm auf der hohen
Stirn; ein Zucken durchfuhr ſeine Glieder; eine
ganze Welt von Erinnerungen ging durch den An-
blick der Züge der Einzigen, die er wahrhaft, die
er mit reiner Liebe geliebt hatte, in ihm auf!
Von dem Gemälde glitten dann ſeine Blicke
auf das bleiche Antlitz Arnolds über und er konnte
die Aehnlichkeit einiger Geſichtszüge des Ohnmäch-
tigen mit denen des Portraits nicht länger verken-
nen: ſo war es ihr Sohn, Sidoniens Sohn, und
zugleich der ſeinige, der in einem todähnlichen Zu-
ſtande vor ihm da lag!
— „Das alſo war es,“ rief er mit ſeltſam
veränderter Stimme und tief Athem ſchöpfend, „das
alſo war es, was mich mit ſo unwiderſtehlicher Ge-
walt zu Dieſem hinzog? — Und wenn die Natur
ſo mächtig ihre Stimme in meinem Herzen erhob,“
fuhr er nach einer langen Pauſe in ſeinem Selbſt-
geſpräche fort, „weshalb ſchwieg ſie denn gänzlich
in dem ſeinigen? Hat er mir nicht wiederholt ge-
ſagt, daß er mich haſſe, verachte? hat er es mir
nicht, ſo oft er gekonnt, bewieſen? Würde ſeine
Hand wohl gezittert haben, mich zu vernichten, wenn
er es vermocht hätte? Wenn aber ein unzerreiß-
bares Band, ein magiſches, zwiſchen Eltern und
Kindern durch Natur gewoben iſt, wie kann ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 3. Jena, 1846, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet03_1846/96>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.