wachten Nacht, theils in Folge der gezwungenen Un- terhaltung, die er mit Marien geführt hatte; denn Nichts ermüdet zugleich Geist und Körper so sehr, als eine Conversation, bei der man jedes Wort auf die Waagschale legen muß.
Er suchte also zeitig sein Lager auf und ver- schob es bis zum Anbruch des folgenden Tages, die ihm von Dina hinterlassenen Papiere zu lesen.
Da er sich früh zur Ruhe niedergelegt und gut geschlafen hatte, erwachte er fast mit Aufgang der Sonne, kleidete sich an und setzte sich an das offene Fenster, durch das die frischeste, erquicklichste Mor- genluft in das Zimmer strömte. Mit einer Bewe- gung, der er nicht Herr zu werden vermochte und die die Hände zittern machte, mit denen er das Con- volut Papiere öffnete, ging er an die Lectüre. Es waren die kleinen, überaus zierlichen Schriftzüge ei- ner Frauenhand, die ihm entgegenleuchteten, so schöne und regelmäßige, wie er noch nie zuvor er- blickt hatte. Er konnte, im liebenden Andenken an die theure Geschiedene, nicht unterlassen, seine Lippen auf dieses Vermächtniß zu drücken und mit nie zuvor gekannten Empfindungen schritt er zu dieser für ihn so verhängnißvollen Lectüre.
wachten Nacht, theils in Folge der gezwungenen Un- terhaltung, die er mit Marien geführt hatte; denn Nichts ermüdet zugleich Geiſt und Körper ſo ſehr, als eine Converſation, bei der man jedes Wort auf die Waagſchale legen muß.
Er ſuchte alſo zeitig ſein Lager auf und ver- ſchob es bis zum Anbruch des folgenden Tages, die ihm von Dina hinterlaſſenen Papiere zu leſen.
Da er ſich früh zur Ruhe niedergelegt und gut geſchlafen hatte, erwachte er faſt mit Aufgang der Sonne, kleidete ſich an und ſetzte ſich an das offene Fenſter, durch das die friſcheſte, erquicklichſte Mor- genluft in das Zimmer ſtrömte. Mit einer Bewe- gung, der er nicht Herr zu werden vermochte und die die Hände zittern machte, mit denen er das Con- volut Papiere öffnete, ging er an die Lectüre. Es waren die kleinen, überaus zierlichen Schriftzüge ei- ner Frauenhand, die ihm entgegenleuchteten, ſo ſchöne und regelmäßige, wie er noch nie zuvor er- blickt hatte. Er konnte, im liebenden Andenken an die theure Geſchiedene, nicht unterlaſſen, ſeine Lippen auf dieſes Vermächtniß zu drücken und mit nie zuvor gekannten Empfindungen ſchritt er zu dieſer für ihn ſo verhängnißvollen Lectüre.
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wachten Nacht, theils in Folge der gezwungenen Un-
terhaltung, die er mit Marien geführt hatte; denn
Nichts ermüdet zugleich Geiſt und Körper ſo ſehr, als
eine Converſation, bei der man jedes Wort auf die
Waagſchale legen muß.
Er ſuchte alſo zeitig ſein Lager auf und ver-
ſchob es bis zum Anbruch des folgenden Tages, die
ihm von Dina hinterlaſſenen Papiere zu leſen.
Da er ſich früh zur Ruhe niedergelegt und gut
geſchlafen hatte, erwachte er faſt mit Aufgang der
Sonne, kleidete ſich an und ſetzte ſich an das offene
Fenſter, durch das die friſcheſte, erquicklichſte Mor-
genluft in das Zimmer ſtrömte. Mit einer Bewe-
gung, der er nicht Herr zu werden vermochte und
die die Hände zittern machte, mit denen er das Con-
volut Papiere öffnete, ging er an die Lectüre. Es
waren die kleinen, überaus zierlichen Schriftzüge ei-
ner Frauenhand, die ihm entgegenleuchteten, ſo
ſchöne und regelmäßige, wie er noch nie zuvor er-
blickt hatte. Er konnte, im liebenden Andenken an
die theure Geſchiedene, nicht unterlaſſen, ſeine Lippen
auf dieſes Vermächtniß zu drücken und mit nie zuvor
gekannten Empfindungen ſchritt er zu dieſer für ihn
ſo verhängnißvollen Lectüre.
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Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 2. Jena, 1846, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet02_1846/97>, abgerufen am 16.02.2025.
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