aufzuathmen, war mit jedem Tage größer geworden und hatte selbst eine solche Herrschaft über ihn ge- wonnen, daß er seinen Mißmuth kaum mehr verber- gen konnte. Marie aber, deren Eitelkeit einen sol- chen Zustand, ihren Reizen gegenüber, niemals hätte zugeben können, deutete sich die Wolken auf der Stirn des geliebten Mannes ganz nach ihren Wünschen und suchte dem vermeintlich Schüchternen durch noch mehr Zuvorkommen Muth und Selbstvertrauen einzuflößen.
Nur Eins war unserm Freunde an der Koketten unerklärlich: wie konnte ein so völlig geist- und ge- müthloses Wesen, wie Marie war, so singen und spielen? Es waren also gewissermaßen zwei Naturen in ihr, wovon die eine völlig gemein und erbärmlich, die andere groß, ja erhaben war, denn wie sie konnte kein gewöhnliches Geschöpf singen. Hätte sie ahnen können, welche Gewalt sie auf diese Weise über ihn ausübte, so würde sie ihn öfter durch Gesang und Spiel entzückt und dadurch vielleicht gänzlich gefesselt haben; allein sie erfüllte seine Wünsche in dieser Hin- sicht nur mit großem Widerstreben und nur, wenn er gar nicht mit Bitten nachlassen wollte. Auch ihr Talent für die Malerei mußte er bewundern, wenn er gleich ihre Trägheit in Ausübung desselben zu ta- deln nicht umhin konnte; das von ihr angefangene, sehr hübsche Gemälde rückte während seiner Anwesen-
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aufzuathmen, war mit jedem Tage größer geworden und hatte ſelbſt eine ſolche Herrſchaft über ihn ge- wonnen, daß er ſeinen Mißmuth kaum mehr verber- gen konnte. Marie aber, deren Eitelkeit einen ſol- chen Zuſtand, ihren Reizen gegenüber, niemals hätte zugeben können, deutete ſich die Wolken auf der Stirn des geliebten Mannes ganz nach ihren Wünſchen und ſuchte dem vermeintlich Schüchternen durch noch mehr Zuvorkommen Muth und Selbſtvertrauen einzuflößen.
Nur Eins war unſerm Freunde an der Koketten unerklärlich: wie konnte ein ſo völlig geiſt- und ge- müthloſes Weſen, wie Marie war, ſo ſingen und ſpielen? Es waren alſo gewiſſermaßen zwei Naturen in ihr, wovon die eine völlig gemein und erbärmlich, die andere groß, ja erhaben war, denn wie ſie konnte kein gewöhnliches Geſchöpf ſingen. Hätte ſie ahnen können, welche Gewalt ſie auf dieſe Weiſe über ihn ausübte, ſo würde ſie ihn öfter durch Geſang und Spiel entzückt und dadurch vielleicht gänzlich gefeſſelt haben; allein ſie erfüllte ſeine Wünſche in dieſer Hin- ſicht nur mit großem Widerſtreben und nur, wenn er gar nicht mit Bitten nachlaſſen wollte. Auch ihr Talent für die Malerei mußte er bewundern, wenn er gleich ihre Trägheit in Ausübung deſſelben zu ta- deln nicht umhin konnte; das von ihr angefangene, ſehr hübſche Gemälde rückte während ſeiner Anweſen-
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[3/0009]
aufzuathmen, war mit jedem Tage größer geworden
und hatte ſelbſt eine ſolche Herrſchaft über ihn ge-
wonnen, daß er ſeinen Mißmuth kaum mehr verber-
gen konnte. Marie aber, deren Eitelkeit einen ſol-
chen Zuſtand, ihren Reizen gegenüber, niemals hätte
zugeben können, deutete ſich die Wolken auf der Stirn
des geliebten Mannes ganz nach ihren Wünſchen und
ſuchte dem vermeintlich Schüchternen durch noch mehr
Zuvorkommen Muth und Selbſtvertrauen einzuflößen.
Nur Eins war unſerm Freunde an der Koketten
unerklärlich: wie konnte ein ſo völlig geiſt- und ge-
müthloſes Weſen, wie Marie war, ſo ſingen und
ſpielen? Es waren alſo gewiſſermaßen zwei Naturen
in ihr, wovon die eine völlig gemein und erbärmlich,
die andere groß, ja erhaben war, denn wie ſie konnte
kein gewöhnliches Geſchöpf ſingen. Hätte ſie ahnen
können, welche Gewalt ſie auf dieſe Weiſe über ihn
ausübte, ſo würde ſie ihn öfter durch Geſang und
Spiel entzückt und dadurch vielleicht gänzlich gefeſſelt
haben; allein ſie erfüllte ſeine Wünſche in dieſer Hin-
ſicht nur mit großem Widerſtreben und nur, wenn
er gar nicht mit Bitten nachlaſſen wollte. Auch ihr
Talent für die Malerei mußte er bewundern, wenn
er gleich ihre Trägheit in Ausübung deſſelben zu ta-
deln nicht umhin konnte; das von ihr angefangene,
ſehr hübſche Gemälde rückte während ſeiner Anweſen-
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Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 2. Jena, 1846, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet02_1846/9>, abgerufen am 17.02.2025.
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