unter dasselbe geschoben hatte. Es dauerte kein zehn Minuten, so schlief sie.
Hieram saß am Feuer und warf von Zeit zu Zeit seltsame Blicke auf die Schlafende. Dann zog er einen blanken, spitz geschliffenen Dolch aus seinem Busen hervor, besah ihn, prüfte die Spitze mit sei- nem Finger und legte ihn neben sich nieder. Mit gespannter Aufmerksamkeit horchte er auf die Athem- züge seines Opfers; dann, als diese ihm sagten, daß sie tief und fest schliefe, griff er nach dem Dolche, erhob sich und trat dicht an sie hinan, augenschein- lich in mörderischer Absicht, wenigstens verriethen seine Gesichtszüge eine solche.
-- "Verdammt!" sagte er dann vor sich hin. "Dies ist schon das sechste Mal, daß ich könnte und es doch nicht vermag! Bin ich denn eine Memme ge- worden? Daß sie aber auch eine so große Aehnlich- keit mit meiner armen Nelly haben muß, besonders wenn Sie schläft! Gerade ihr Alter hatte Nelly, und eben so schön wie sie, als Lord Cambden sie ver- führte und sie sich im Wasser den Tod gab, weil sie ihre Schande und seine Treulosigkeit nicht über- leben konnte. Die Hand, mit der ich ihm, dem Ver- räther, dem Ehr- und Gewissenslosen, den Stahl tief in die Brust bohrte, zitterte nicht; aber sie würde zittern, wenn ich ihr, die meiner armen Nelly so
unter daſſelbe geſchoben hatte. Es dauerte kein zehn Minuten, ſo ſchlief ſie.
Hieram ſaß am Feuer und warf von Zeit zu Zeit ſeltſame Blicke auf die Schlafende. Dann zog er einen blanken, ſpitz geſchliffenen Dolch aus ſeinem Buſen hervor, beſah ihn, prüfte die Spitze mit ſei- nem Finger und legte ihn neben ſich nieder. Mit geſpannter Aufmerkſamkeit horchte er auf die Athem- züge ſeines Opfers; dann, als dieſe ihm ſagten, daß ſie tief und feſt ſchliefe, griff er nach dem Dolche, erhob ſich und trat dicht an ſie hinan, augenſchein- lich in mörderiſcher Abſicht, wenigſtens verriethen ſeine Geſichtszüge eine ſolche.
— „Verdammt!“ ſagte er dann vor ſich hin. „Dies iſt ſchon das ſechſte Mal, daß ich könnte und es doch nicht vermag! Bin ich denn eine Memme ge- worden? Daß ſie aber auch eine ſo große Aehnlich- keit mit meiner armen Nelly haben muß, beſonders wenn Sie ſchläft! Gerade ihr Alter hatte Nelly, und eben ſo ſchön wie ſie, als Lord Cambden ſie ver- führte und ſie ſich im Waſſer den Tod gab, weil ſie ihre Schande und ſeine Treuloſigkeit nicht über- leben konnte. Die Hand, mit der ich ihm, dem Ver- räther, dem Ehr- und Gewiſſensloſen, den Stahl tief in die Bruſt bohrte, zitterte nicht; aber ſie würde zittern, wenn ich ihr, die meiner armen Nelly ſo
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unter daſſelbe geſchoben hatte. Es dauerte kein zehn
Minuten, ſo ſchlief ſie.
Hieram ſaß am Feuer und warf von Zeit zu
Zeit ſeltſame Blicke auf die Schlafende. Dann zog
er einen blanken, ſpitz geſchliffenen Dolch aus ſeinem
Buſen hervor, beſah ihn, prüfte die Spitze mit ſei-
nem Finger und legte ihn neben ſich nieder. Mit
geſpannter Aufmerkſamkeit horchte er auf die Athem-
züge ſeines Opfers; dann, als dieſe ihm ſagten, daß
ſie tief und feſt ſchliefe, griff er nach dem Dolche,
erhob ſich und trat dicht an ſie hinan, augenſchein-
lich in mörderiſcher Abſicht, wenigſtens verriethen ſeine
Geſichtszüge eine ſolche.
— „Verdammt!“ ſagte er dann vor ſich hin.
„Dies iſt ſchon das ſechſte Mal, daß ich könnte und
es doch nicht vermag! Bin ich denn eine Memme ge-
worden? Daß ſie aber auch eine ſo große Aehnlich-
keit mit meiner armen Nelly haben muß, beſonders
wenn Sie ſchläft! Gerade ihr Alter hatte Nelly, und
eben ſo ſchön wie ſie, als Lord Cambden ſie ver-
führte und ſie ſich im Waſſer den Tod gab, weil
ſie ihre Schande und ſeine Treuloſigkeit nicht über-
leben konnte. Die Hand, mit der ich ihm, dem Ver-
räther, dem Ehr- und Gewiſſensloſen, den Stahl tief
in die Bruſt bohrte, zitterte nicht; aber ſie würde
zittern, wenn ich ihr, die meiner armen Nelly ſo
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Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 2. Jena, 1846, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet02_1846/192>, abgerufen am 16.02.2025.
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