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Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846.

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Am meisten wunderte er sich darüber, daß dieses,
von einem so kenntniß- und geistreichen Vater erzo-
gene Mädchen so unbedeutend geblieben war; denn
auch nicht ein einziges von Marien gesprochenes Wort
hatte ihm verrathen, daß ihre Gedanken und Ansich-
ten sich über das Allergewöhnlichste erhöben.

Ein solches Wesen war aber nicht dazu geschaf-
fen, Eindruck auf einen Mann wie Arnold zu machen,
der die höchsten Ansprüche an das Wesen stellte, das
er mit der ganzen Kraft seines noch unentweihten
Herzens lieben sollte. Seiner Seele schwebte ein Jdeal
vor und Marie war weit davon entfernt, demselben
ähnlich zu seyn.

Er war also in Hinsicht ihrer vollkommen ru-
hig. Ruhig, sagen wir, denn wie er den Prophe-
ten erkannt zu haben glaubte; bei der Verachtung, die
er dem Wesen und Treiben dieses Mannes weihte;
bei dem Mißtrauen, das er gegen ihn fühlte, würde
er es für ein großes Unglück haben ansehen müssen,
in irgend eine nähere Beziehung zu ihm zu treten.
Es beschäftigte zwar seinen Geist auf eine angenehme
und besonders auf eine anregende Weise, diesen Mann,
der jedenfalls eine bedeutende Erscheinung war, zu
beobachten, den Fäden des von ihm angelegten Ge-
spinnstes mit den Augen seines Geistes zu folgen, um
zu sehen, wo er endlich damit hinaus wolle; allein

Am meiſten wunderte er ſich darüber, daß dieſes,
von einem ſo kenntniß- und geiſtreichen Vater erzo-
gene Mädchen ſo unbedeutend geblieben war; denn
auch nicht ein einziges von Marien geſprochenes Wort
hatte ihm verrathen, daß ihre Gedanken und Anſich-
ten ſich über das Allergewöhnlichſte erhöben.

Ein ſolches Weſen war aber nicht dazu geſchaf-
fen, Eindruck auf einen Mann wie Arnold zu machen,
der die höchſten Anſprüche an das Weſen ſtellte, das
er mit der ganzen Kraft ſeines noch unentweihten
Herzens lieben ſollte. Seiner Seele ſchwebte ein Jdeal
vor und Marie war weit davon entfernt, demſelben
ähnlich zu ſeyn.

Er war alſo in Hinſicht ihrer vollkommen ru-
hig. Ruhig, ſagen wir, denn wie er den Prophe-
ten erkannt zu haben glaubte; bei der Verachtung, die
er dem Weſen und Treiben dieſes Mannes weihte;
bei dem Mißtrauen, das er gegen ihn fühlte, würde
er es für ein großes Unglück haben anſehen müſſen,
in irgend eine nähere Beziehung zu ihm zu treten.
Es beſchäftigte zwar ſeinen Geiſt auf eine angenehme
und beſonders auf eine anregende Weiſe, dieſen Mann,
der jedenfalls eine bedeutende Erſcheinung war, zu
beobachten, den Fäden des von ihm angelegten Ge-
ſpinnſtes mit den Augen ſeines Geiſtes zu folgen, um
zu ſehen, wo er endlich damit hinaus wolle; allein

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[122/0130] Am meiſten wunderte er ſich darüber, daß dieſes, von einem ſo kenntniß- und geiſtreichen Vater erzo- gene Mädchen ſo unbedeutend geblieben war; denn auch nicht ein einziges von Marien geſprochenes Wort hatte ihm verrathen, daß ihre Gedanken und Anſich- ten ſich über das Allergewöhnlichſte erhöben. Ein ſolches Weſen war aber nicht dazu geſchaf- fen, Eindruck auf einen Mann wie Arnold zu machen, der die höchſten Anſprüche an das Weſen ſtellte, das er mit der ganzen Kraft ſeines noch unentweihten Herzens lieben ſollte. Seiner Seele ſchwebte ein Jdeal vor und Marie war weit davon entfernt, demſelben ähnlich zu ſeyn. Er war alſo in Hinſicht ihrer vollkommen ru- hig. Ruhig, ſagen wir, denn wie er den Prophe- ten erkannt zu haben glaubte; bei der Verachtung, die er dem Weſen und Treiben dieſes Mannes weihte; bei dem Mißtrauen, das er gegen ihn fühlte, würde er es für ein großes Unglück haben anſehen müſſen, in irgend eine nähere Beziehung zu ihm zu treten. Es beſchäftigte zwar ſeinen Geiſt auf eine angenehme und beſonders auf eine anregende Weiſe, dieſen Mann, der jedenfalls eine bedeutende Erſcheinung war, zu beobachten, den Fäden des von ihm angelegten Ge- ſpinnſtes mit den Augen ſeines Geiſtes zu folgen, um zu ſehen, wo er endlich damit hinaus wolle; allein

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Zitationshilfe: Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846/130>, abgerufen am 24.11.2024.