weilte und im neun und vierzigsten Jahr die Welt verließ. Antonellos Gemälde stellt den Heiland zwischen den beiden mit ihm zugleich gekreuzigten Verbrechern dar. An einem Baum, zur Rechten des Kreuzes, an welchem der reuige Verbrecher hängt, lehnt die Mutter, tief versunken in laut- losem Jammer; ihr gegenüber steht Johannes, an- betend in Liebe und Demuth. Der Ausdruck der Gestalt des todten Christus ist durchaus edel und ruhig; die Verbrecher sind augenscheinlich in pein- licher Quaal verschieden, der zur Linken in gewalt- samen Zuckungen, die der Künstler zwar furchtbar darstellt, doch ohne in das Gräßliche zu fallen. Jm Mittelgrunde erblickt man einen Theil der Stadt Jerusalem, im Hintergrunde das wild empörte Meer. Jn der Form und dem durchsichtigen Schimmer der Wogen wollen aufmerksame Beobach- ter den Charackter des mittelländischen oder adriati- schen Meers erkennen, auch die warmen Töne der Luft gehören dem leuchtenden Süden. Antonello hielt mit Liebe und Treue an den Vorzügen seines schönen Vaterlandes, aber alles Technische in diesem
weilte und im neun und vierzigſten Jahr die Welt verließ. Antonellos Gemälde ſtellt den Heiland zwiſchen den beiden mit ihm zugleich gekreuzigten Verbrechern dar. An einem Baum, zur Rechten des Kreuzes, an welchem der reuige Verbrecher hängt, lehnt die Mutter, tief verſunken in laut- loſem Jammer; ihr gegenüber ſteht Johannes, an- betend in Liebe und Demuth. Der Ausdruck der Geſtalt des todten Chriſtus iſt durchaus edel und ruhig; die Verbrecher ſind augenſcheinlich in pein- licher Quaal verſchieden, der zur Linken in gewalt- ſamen Zuckungen, die der Künſtler zwar furchtbar darſtellt, doch ohne in das Gräßliche zu fallen. Jm Mittelgrunde erblickt man einen Theil der Stadt Jeruſalem, im Hintergrunde das wild empörte Meer. Jn der Form und dem durchſichtigen Schimmer der Wogen wollen aufmerkſame Beobach- ter den Charackter des mittelländiſchen oder adriati- ſchen Meers erkennen, auch die warmen Töne der Luft gehören dem leuchtenden Süden. Antonello hielt mit Liebe und Treue an den Vorzügen ſeines ſchönen Vaterlandes, aber alles Techniſche in dieſem
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[102/0114]
weilte und im neun und vierzigſten Jahr die Welt
verließ. Antonellos Gemälde ſtellt den Heiland
zwiſchen den beiden mit ihm zugleich gekreuzigten
Verbrechern dar. An einem Baum, zur Rechten
des Kreuzes, an welchem der reuige Verbrecher
hängt, lehnt die Mutter, tief verſunken in laut-
loſem Jammer; ihr gegenüber ſteht Johannes, an-
betend in Liebe und Demuth. Der Ausdruck der
Geſtalt des todten Chriſtus iſt durchaus edel und
ruhig; die Verbrecher ſind augenſcheinlich in pein-
licher Quaal verſchieden, der zur Linken in gewalt-
ſamen Zuckungen, die der Künſtler zwar furchtbar
darſtellt, doch ohne in das Gräßliche zu fallen. Jm
Mittelgrunde erblickt man einen Theil der Stadt
Jeruſalem, im Hintergrunde das wild empörte
Meer. Jn der Form und dem durchſichtigen
Schimmer der Wogen wollen aufmerkſame Beobach-
ter den Charackter des mittelländiſchen oder adriati-
ſchen Meers erkennen, auch die warmen Töne der
Luft gehören dem leuchtenden Süden. Antonello
hielt mit Liebe und Treue an den Vorzügen ſeines
ſchönen Vaterlandes, aber alles Techniſche in dieſem
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Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/114>, abgerufen am 25.11.2024.
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