Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.Auch die neueren halb biologischen, halb historischen Untersuchungen über Rassen- und Vererbungsfragen, wie die über Psychophysik und über Ermü- dungserscheinungen und Ähnliches überbauen, so wertvoll und willkommen sie sind, die Kluft nicht, die Natur- und Geisteswissenschaft, die natürliche und geistige Kausalerklärung scheidet. Die Wirkung der Natur und ihrer Ursachen auf alles menschliche, also auch auf alles wirtschaftliche Leben hat Dilthey neuerdings mit den Worten gekenn- zeichnet: "Die Natur ist nicht nur der Schauplatz der Geschichte; die phy- sischen Vorgänge, die Notwendigkeit, die in ihr liegen, und die Wirkungen, die von ihr ausgehen, bilden die Grundlage für alle Verhältnisse von Tun und Leiden, Aktion und Reaktion in der geschichtlichen Welt, und die phy- sische Welt bildet auch das Material für das ganze Reich, in welchem der Geist seine Zwecke, seine Werte, sein Wesen ausgedrückt hat: auf dieser Grundlage erhebt sich nun aber die Wirklichkeit, in welche die Geisteswissen- schaften sich immer tiefer von zwei Seiten her einbohren, vom Erleben der eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistigen aus." Das ist doch wohl wahrer und tiefer, als wenn man die Bevölkerungsbewegung oder die beschränkte Bodenfläche als zwei Natur- tatsachen heranzieht, die "störend" in die Wertbildung oder in die Produktion eingriffen. Ich möchte konkret über das natürliche Ursachensystem der Volks- wirtschaft nur noch folgende Worte hinzufügen. 12 Wenn neuerdings die erheblichsten deutschen Philosophen, W. Wundt als Führer der naturwissenschaftlichen, W. Dilthey als Führer der historischen Philosophie, die Forderung aufstellten, es müsse eine beschreibende und zer- gliedernde Psychologie als Grundlage aller Geisteswissenschaften geschaffen werden, so haben sie damit das dringlichste Bedürfnis auch für den Fort- schritt in unserer Wissenschaft ebenso ausgesprochen wie Sigwart mit dem Satze: "Die fundamentalen Gesetze alles geschichtlichen Geschehens können nur psychologische Gesetze sein". Und wenn die Gegner dieser Männer glauben diese Forderung mit Hohn abweisen zu können, indem sie sagen, man könne sich doch nicht auf eine erst zu schaffende Wissenschaft vertrösten lassen, so zeigen sie damit nur, wie wenig Bescheid sie wissen in bezug auf die um- fangreichen Vorarbeiten und Anläufe, die wir in dieser Beziehung neben den Ausführungen der eben Genannten selbst haben. Daß die Mehrzahl der wissen- schaftlich-psychologischen Arbeiten der letzten Generation nicht dahin zielen, ist wahr; und ebenso wahr, daß viele Juristen, Nationalökonomen, Historiker sich noch einbilden, ohne eine solche Grundlage auszukommen. Aber das be- weist nichts. Diltheys schöne Abhandlung "Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie" zeigt klar den Gegensatz der bisherigen erklären- den, wesentlich mit Hypothesen arbeitenden Psychologie zu der beschreibenden: er fordert, daß diese letztere ihre bisherige Unsicherheit und Einseitigkeit abstreife, indem sie ihre Resultate basiere auf Vergleichung und Entwicke- lungsgeschichte, auf Experiment und Analyse der geistesgeschichtlichen Pro- dukte, auf Analyse der Empfindungen und Gefühle, der Triebe, Willenshand- lungen und Motive; sie muß, sagt er, die Menschenrassen, Nationen, gesell- schaftlichen Klassen, Berufstypen, geschichtlichen Stufen unterscheiden, wie die Individualitäten: "eine solche Psychologie bildet die Brücke zwischen der bis- Auch die neueren halb biologischen, halb historischen Untersuchungen über Rassen- und Vererbungsfragen, wie die über Psychophysik und über Ermü- dungserscheinungen und Ähnliches überbauen, so wertvoll und willkommen sie sind, die Kluft nicht, die Natur- und Geisteswissenschaft, die natürliche und geistige Kausalerklärung scheidet. Die Wirkung der Natur und ihrer Ursachen auf alles menschliche, also auch auf alles wirtschaftliche Leben hat Dilthey neuerdings mit den Worten gekenn- zeichnet: „Die Natur ist nicht nur der Schauplatz der Geschichte; die phy- sischen Vorgänge, die Notwendigkeit, die in ihr liegen, und die Wirkungen, die von ihr ausgehen, bilden die Grundlage für alle Verhältnisse von Tun und Leiden, Aktion und Reaktion in der geschichtlichen Welt, und die phy- sische Welt bildet auch das Material für das ganze Reich, in welchem der Geist seine Zwecke, seine Werte, sein Wesen ausgedrückt hat: auf dieser Grundlage erhebt sich nun aber die Wirklichkeit, in welche die Geisteswissen- schaften sich immer tiefer von zwei Seiten her einbohren, vom Erleben der eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistigen aus.“ Das ist doch wohl wahrer und tiefer, als wenn man die Bevölkerungsbewegung oder die beschränkte Bodenfläche als zwei Natur- tatsachen heranzieht, die „störend“ in die Wertbildung oder in die Produktion eingriffen. Ich möchte konkret über das natürliche Ursachensystem der Volks- wirtschaft nur noch folgende Worte hinzufügen. 12 Wenn neuerdings die erheblichsten deutschen Philosophen, W. Wundt als Führer der naturwissenschaftlichen, W. Dilthey als Führer der historischen Philosophie, die Forderung aufstellten, es müsse eine beschreibende und zer- gliedernde Psychologie als Grundlage aller Geisteswissenschaften geschaffen werden, so haben sie damit das dringlichste Bedürfnis auch für den Fort- schritt in unserer Wissenschaft ebenso ausgesprochen wie Sigwart mit dem Satze: „Die fundamentalen Gesetze alles geschichtlichen Geschehens können nur psychologische Gesetze sein“. Und wenn die Gegner dieser Männer glauben diese Forderung mit Hohn abweisen zu können, indem sie sagen, man könne sich doch nicht auf eine erst zu schaffende Wissenschaft vertrösten lassen, so zeigen sie damit nur, wie wenig Bescheid sie wissen in bezug auf die um- fangreichen Vorarbeiten und Anläufe, die wir in dieser Beziehung neben den Ausführungen der eben Genannten selbst haben. Daß die Mehrzahl der wissen- schaftlich-psychologischen Arbeiten der letzten Generation nicht dahin zielen, ist wahr; und ebenso wahr, daß viele Juristen, Nationalökonomen, Historiker sich noch einbilden, ohne eine solche Grundlage auszukommen. Aber das be- weist nichts. Diltheys schöne Abhandlung „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“ zeigt klar den Gegensatz der bisherigen erklären- den, wesentlich mit Hypothesen arbeitenden Psychologie zu der beschreibenden: er fordert, daß diese letztere ihre bisherige Unsicherheit und Einseitigkeit abstreife, indem sie ihre Resultate basiere auf Vergleichung und Entwicke- lungsgeschichte, auf Experiment und Analyse der geistesgeschichtlichen Pro- dukte, auf Analyse der Empfindungen und Gefühle, der Triebe, Willenshand- lungen und Motive; sie muß, sagt er, die Menschenrassen, Nationen, gesell- schaftlichen Klassen, Berufstypen, geschichtlichen Stufen unterscheiden, wie die Individualitäten: „eine solche Psychologie bildet die Brücke zwischen der bis- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <note place="end" n="11"><pb facs="#f0095" n="91"/> Auch die neueren halb biologischen, halb historischen Untersuchungen über<lb/> Rassen- und Vererbungsfragen, wie die über Psychophysik und über Ermü-<lb/> dungserscheinungen und Ähnliches überbauen, so wertvoll und willkommen<lb/> sie sind, die Kluft nicht, die Natur- und Geisteswissenschaft, die natürliche<lb/> und geistige Kausalerklärung scheidet.<lb/> Die Wirkung der Natur und ihrer Ursachen auf alles menschliche, also auch<lb/> auf alles wirtschaftliche Leben hat Dilthey neuerdings mit den Worten gekenn-<lb/> zeichnet: „Die Natur ist nicht nur der Schauplatz der Geschichte; die phy-<lb/> sischen Vorgänge, die Notwendigkeit, die in ihr liegen, und die Wirkungen,<lb/> die von ihr ausgehen, bilden die Grundlage für alle Verhältnisse von Tun<lb/> und Leiden, Aktion und Reaktion in der geschichtlichen Welt, und die phy-<lb/> sische Welt bildet auch das Material für das ganze Reich, in welchem der<lb/> Geist seine Zwecke, seine Werte, sein Wesen ausgedrückt hat: auf dieser<lb/> Grundlage erhebt sich nun aber die Wirklichkeit, in welche die Geisteswissen-<lb/> schaften sich immer tiefer von zwei Seiten her einbohren, vom Erleben der<lb/> eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten<lb/> Geistigen aus.“ Das ist doch wohl wahrer und tiefer, als wenn man die<lb/> Bevölkerungsbewegung oder die beschränkte Bodenfläche als zwei Natur-<lb/> tatsachen heranzieht, die „störend“ in die Wertbildung oder in die Produktion<lb/> eingriffen. 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Und wenn die Gegner dieser Männer glauben<lb/> diese Forderung mit Hohn abweisen zu können, indem sie sagen, man könne<lb/> sich doch nicht auf eine erst zu schaffende Wissenschaft vertrösten lassen, so<lb/> zeigen sie damit nur, wie wenig Bescheid sie wissen in bezug auf die um-<lb/> fangreichen Vorarbeiten und Anläufe, die wir in dieser Beziehung neben den<lb/> Ausführungen der eben Genannten selbst haben. Daß die Mehrzahl der wissen-<lb/> schaftlich-psychologischen Arbeiten der letzten Generation nicht dahin zielen,<lb/> ist wahr; und ebenso wahr, daß viele Juristen, Nationalökonomen, Historiker<lb/> sich noch einbilden, ohne eine solche Grundlage auszukommen. Aber das be-<lb/> weist nichts. Diltheys schöne Abhandlung „Ideen über eine beschreibende und<lb/> zergliedernde Psychologie“ zeigt klar den Gegensatz der bisherigen erklären-<lb/> den, wesentlich mit Hypothesen arbeitenden Psychologie zu der beschreibenden:<lb/> er fordert, daß diese letztere ihre bisherige Unsicherheit und Einseitigkeit<lb/> abstreife, indem sie ihre Resultate basiere auf Vergleichung und Entwicke-<lb/> lungsgeschichte, auf Experiment und Analyse der geistesgeschichtlichen Pro-<lb/> dukte, auf Analyse der Empfindungen und Gefühle, der Triebe, Willenshand-<lb/> lungen und Motive; sie muß, sagt er, die Menschenrassen, Nationen, gesell-<lb/> schaftlichen Klassen, Berufstypen, geschichtlichen Stufen unterscheiden, wie die<lb/> Individualitäten: „eine solche Psychologie bildet die Brücke zwischen der bis-<lb/></note> </div> </body> </text> </TEI> [91/0095]
¹¹ Auch die neueren halb biologischen, halb historischen Untersuchungen über
Rassen- und Vererbungsfragen, wie die über Psychophysik und über Ermü-
dungserscheinungen und Ähnliches überbauen, so wertvoll und willkommen
sie sind, die Kluft nicht, die Natur- und Geisteswissenschaft, die natürliche
und geistige Kausalerklärung scheidet.
Die Wirkung der Natur und ihrer Ursachen auf alles menschliche, also auch
auf alles wirtschaftliche Leben hat Dilthey neuerdings mit den Worten gekenn-
zeichnet: „Die Natur ist nicht nur der Schauplatz der Geschichte; die phy-
sischen Vorgänge, die Notwendigkeit, die in ihr liegen, und die Wirkungen,
die von ihr ausgehen, bilden die Grundlage für alle Verhältnisse von Tun
und Leiden, Aktion und Reaktion in der geschichtlichen Welt, und die phy-
sische Welt bildet auch das Material für das ganze Reich, in welchem der
Geist seine Zwecke, seine Werte, sein Wesen ausgedrückt hat: auf dieser
Grundlage erhebt sich nun aber die Wirklichkeit, in welche die Geisteswissen-
schaften sich immer tiefer von zwei Seiten her einbohren, vom Erleben der
eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten
Geistigen aus.“ Das ist doch wohl wahrer und tiefer, als wenn man die
Bevölkerungsbewegung oder die beschränkte Bodenfläche als zwei Natur-
tatsachen heranzieht, die „störend“ in die Wertbildung oder in die Produktion
eingriffen. Ich möchte konkret über das natürliche Ursachensystem der Volks-
wirtschaft nur noch folgende Worte hinzufügen.
¹² Wenn neuerdings die erheblichsten deutschen Philosophen, W. Wundt als
Führer der naturwissenschaftlichen, W. Dilthey als Führer der historischen
Philosophie, die Forderung aufstellten, es müsse eine beschreibende und zer-
gliedernde Psychologie als Grundlage aller Geisteswissenschaften geschaffen
werden, so haben sie damit das dringlichste Bedürfnis auch für den Fort-
schritt in unserer Wissenschaft ebenso ausgesprochen wie Sigwart mit dem
Satze: „Die fundamentalen Gesetze alles geschichtlichen Geschehens können nur
psychologische Gesetze sein“. Und wenn die Gegner dieser Männer glauben
diese Forderung mit Hohn abweisen zu können, indem sie sagen, man könne
sich doch nicht auf eine erst zu schaffende Wissenschaft vertrösten lassen, so
zeigen sie damit nur, wie wenig Bescheid sie wissen in bezug auf die um-
fangreichen Vorarbeiten und Anläufe, die wir in dieser Beziehung neben den
Ausführungen der eben Genannten selbst haben. Daß die Mehrzahl der wissen-
schaftlich-psychologischen Arbeiten der letzten Generation nicht dahin zielen,
ist wahr; und ebenso wahr, daß viele Juristen, Nationalökonomen, Historiker
sich noch einbilden, ohne eine solche Grundlage auszukommen. Aber das be-
weist nichts. Diltheys schöne Abhandlung „Ideen über eine beschreibende und
zergliedernde Psychologie“ zeigt klar den Gegensatz der bisherigen erklären-
den, wesentlich mit Hypothesen arbeitenden Psychologie zu der beschreibenden:
er fordert, daß diese letztere ihre bisherige Unsicherheit und Einseitigkeit
abstreife, indem sie ihre Resultate basiere auf Vergleichung und Entwicke-
lungsgeschichte, auf Experiment und Analyse der geistesgeschichtlichen Pro-
dukte, auf Analyse der Empfindungen und Gefühle, der Triebe, Willenshand-
lungen und Motive; sie muß, sagt er, die Menschenrassen, Nationen, gesell-
schaftlichen Klassen, Berufstypen, geschichtlichen Stufen unterscheiden, wie die
Individualitäten: „eine solche Psychologie bildet die Brücke zwischen der bis-
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