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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Zeitalter, die Völker, die Religions- und Moralsysteme, die Einzelindividuen
und ihre Temperamente von einander abweichen, alle haben doch gleich-
mäßig Teil an dem großen Prozess, der die sittlichen Pflichten, Tugenden
und Güter, nicht im Detail aber in den Grundzügen, zu wenigen überein-
stimmenden großen und letzten Idealen emporhebt. In allen Weltteilen und
bei allen Völkern, in allen Religionen und Moralsystemen predigt man mehr
und mehr die wenigen einfachen Sätze: Behaupte und vervollkommene dich
selbst, liebe deinen Nächsten als dich selbst, fühle dich als Glied des Ganzen,
dem du angehörst; sei demütig vor Gott, selbstbewußt aber bescheiden vor
den Menschen.
Die entscheidenden sittlichen Werturteile der heutigen Katholiken und Pro-
testanten, der Christen und Juden, ja auch vielfach der Realisten und Idealisten
weichen mehr in Nebenfragen als in der Hauptsache von einander ab. Die
Verschiedenheit der Individualität schließt gemeinsame sittliche Werturteile
in den Grundfragen nicht aus. Man mag sich über vieles Einzelne, über die
Ableitung der ethischen Wahrheiten, über den wissenschaftlichen Aufbau der
sittlichen Systeme streiten, über die wichtigsten praktischen Werturteile einigen
sich die guten, hochstehenden Menschen desselben Volkes, desselben Kultur-
zeitalters doch immer mehr. Und darum handelt es sich vor allem, wenn man
nach den sittlichen Werturteilen forscht, die für Wirtschaft, Gesellschaft,
Staatsordnung von Bedeutung sind.
Dabei ist uns wohl bewußt, 1. daß verschiedene Weltanschauung stets bis auf
einen gewissen Grad verschiedene sittliche Werturteile erzeugt und 2. daß
bei der historischen Umbildung eines Teils der sittlichen Werturteile gegen-
sätzliche und getrennte Ergebnisse vorkommen müssen. Wir fügen darüber
noch einige Worte bei.
1. M. Weber sagt: die Weltanschauungen sind niemals Produkt fortschrei-
tender Erfahrungswissenschaft; er meint damit: fortschreitende Erfahrung
modifiziere das sittliche Empfinden des ernst kirchlichen Mannes und des
naturalistischen Genußmenschen, des konservativen und des liberalen Partei-
mannes nicht ganz gleichmäßig. Und damit hat er recht. Und deswegen stehen
die Partei- und die Klassenideale meist nicht auf der Höhe der objektiven
Wissenschaft. Sie zielen auf die Förderung der Klasse und der Partei, nicht
auf die des Gemeinwohls; sie enthalten leicht egoistische Tendenzen, sehen
über die gleichberechtigten Interessen anderer Klassen und Parteien weg.
Freilich je höher stehende Führer sie haben, je mehr sie in großen Zeiten
sich zur Höhe des Gesamtinteresses erheben, desto mehr nähern auch die
Klassen- und Parteiideale sich dem absolut "Guten", desto mehr treten die
Abweichungen von denen anderer Klassen und Parteien zurück. Und wir wer-
den behaupten können, je höher die sittliche und intellektuelle Bildung
eines Volkes überhaupt stehe, desto eher werde es möglich, daß die Parteien
und die Klassen sich nähern, so sehr der Tagesstreit sie immer wieder trennt.
Wir können heute z. B. sagen: Erfahrung, Wissenschaft und sittlicher Zeit-
geist haben es doch möglich gemacht, daß konservative Grundbesitzer, libe-
rale Fabrikanten und sozialistische Arbeiter in vielen Punkten der sozialen Re-
form sich nahe getreten seien.
Die allgemeine Behauptung, die Menschen würden im Laufe der Geschichte
immer individueller und subjektiver und das erzeuge eine wachsende Nicht-
Zeitalter, die Völker, die Religions- und Moralsysteme, die Einzelindividuen
und ihre Temperamente von einander abweichen, alle haben doch gleich-
mäßig Teil an dem großen Prozess, der die sittlichen Pflichten, Tugenden
und Güter, nicht im Detail aber in den Grundzügen, zu wenigen überein-
stimmenden großen und letzten Idealen emporhebt. In allen Weltteilen und
bei allen Völkern, in allen Religionen und Moralsystemen predigt man mehr
und mehr die wenigen einfachen Sätze: Behaupte und vervollkommene dich
selbst, liebe deinen Nächsten als dich selbst, fühle dich als Glied des Ganzen,
dem du angehörst; sei demütig vor Gott, selbstbewußt aber bescheiden vor
den Menschen.
Die entscheidenden sittlichen Werturteile der heutigen Katholiken und Pro-
testanten, der Christen und Juden, ja auch vielfach der Realisten und Idealisten
weichen mehr in Nebenfragen als in der Hauptsache von einander ab. Die
Verschiedenheit der Individualität schließt gemeinsame sittliche Werturteile
in den Grundfragen nicht aus. Man mag sich über vieles Einzelne, über die
Ableitung der ethischen Wahrheiten, über den wissenschaftlichen Aufbau der
sittlichen Systeme streiten, über die wichtigsten praktischen Werturteile einigen
sich die guten, hochstehenden Menschen desselben Volkes, desselben Kultur-
zeitalters doch immer mehr. Und darum handelt es sich vor allem, wenn man
nach den sittlichen Werturteilen forscht, die für Wirtschaft, Gesellschaft,
Staatsordnung von Bedeutung sind.
Dabei ist uns wohl bewußt, 1. daß verschiedene Weltanschauung stets bis auf
einen gewissen Grad verschiedene sittliche Werturteile erzeugt und 2. daß
bei der historischen Umbildung eines Teils der sittlichen Werturteile gegen-
sätzliche und getrennte Ergebnisse vorkommen müssen. Wir fügen darüber
noch einige Worte bei.
1. M. Weber sagt: die Weltanschauungen sind niemals Produkt fortschrei-
tender Erfahrungswissenschaft; er meint damit: fortschreitende Erfahrung
modifiziere das sittliche Empfinden des ernst kirchlichen Mannes und des
naturalistischen Genußmenschen, des konservativen und des liberalen Partei-
mannes nicht ganz gleichmäßig. Und damit hat er recht. Und deswegen stehen
die Partei- und die Klassenideale meist nicht auf der Höhe der objektiven
Wissenschaft. Sie zielen auf die Förderung der Klasse und der Partei, nicht
auf die des Gemeinwohls; sie enthalten leicht egoistische Tendenzen, sehen
über die gleichberechtigten Interessen anderer Klassen und Parteien weg.
Freilich je höher stehende Führer sie haben, je mehr sie in großen Zeiten
sich zur Höhe des Gesamtinteresses erheben, desto mehr nähern auch die
Klassen- und Parteiideale sich dem absolut „Guten“, desto mehr treten die
Abweichungen von denen anderer Klassen und Parteien zurück. Und wir wer-
den behaupten können, je höher die sittliche und intellektuelle Bildung
eines Volkes überhaupt stehe, desto eher werde es möglich, daß die Parteien
und die Klassen sich nähern, so sehr der Tagesstreit sie immer wieder trennt.
Wir können heute z. B. sagen: Erfahrung, Wissenschaft und sittlicher Zeit-
geist haben es doch möglich gemacht, daß konservative Grundbesitzer, libe-
rale Fabrikanten und sozialistische Arbeiter in vielen Punkten der sozialen Re-
form sich nahe getreten seien.
Die allgemeine Behauptung, die Menschen würden im Laufe der Geschichte
immer individueller und subjektiver und das erzeuge eine wachsende Nicht-
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[80/0084] ⁶ Zeitalter, die Völker, die Religions- und Moralsysteme, die Einzelindividuen und ihre Temperamente von einander abweichen, alle haben doch gleich- mäßig Teil an dem großen Prozess, der die sittlichen Pflichten, Tugenden und Güter, nicht im Detail aber in den Grundzügen, zu wenigen überein- stimmenden großen und letzten Idealen emporhebt. In allen Weltteilen und bei allen Völkern, in allen Religionen und Moralsystemen predigt man mehr und mehr die wenigen einfachen Sätze: Behaupte und vervollkommene dich selbst, liebe deinen Nächsten als dich selbst, fühle dich als Glied des Ganzen, dem du angehörst; sei demütig vor Gott, selbstbewußt aber bescheiden vor den Menschen. Die entscheidenden sittlichen Werturteile der heutigen Katholiken und Pro- testanten, der Christen und Juden, ja auch vielfach der Realisten und Idealisten weichen mehr in Nebenfragen als in der Hauptsache von einander ab. Die Verschiedenheit der Individualität schließt gemeinsame sittliche Werturteile in den Grundfragen nicht aus. Man mag sich über vieles Einzelne, über die Ableitung der ethischen Wahrheiten, über den wissenschaftlichen Aufbau der sittlichen Systeme streiten, über die wichtigsten praktischen Werturteile einigen sich die guten, hochstehenden Menschen desselben Volkes, desselben Kultur- zeitalters doch immer mehr. Und darum handelt es sich vor allem, wenn man nach den sittlichen Werturteilen forscht, die für Wirtschaft, Gesellschaft, Staatsordnung von Bedeutung sind. Dabei ist uns wohl bewußt, 1. daß verschiedene Weltanschauung stets bis auf einen gewissen Grad verschiedene sittliche Werturteile erzeugt und 2. daß bei der historischen Umbildung eines Teils der sittlichen Werturteile gegen- sätzliche und getrennte Ergebnisse vorkommen müssen. Wir fügen darüber noch einige Worte bei. 1. M. Weber sagt: die Weltanschauungen sind niemals Produkt fortschrei- tender Erfahrungswissenschaft; er meint damit: fortschreitende Erfahrung modifiziere das sittliche Empfinden des ernst kirchlichen Mannes und des naturalistischen Genußmenschen, des konservativen und des liberalen Partei- mannes nicht ganz gleichmäßig. Und damit hat er recht. Und deswegen stehen die Partei- und die Klassenideale meist nicht auf der Höhe der objektiven Wissenschaft. Sie zielen auf die Förderung der Klasse und der Partei, nicht auf die des Gemeinwohls; sie enthalten leicht egoistische Tendenzen, sehen über die gleichberechtigten Interessen anderer Klassen und Parteien weg. Freilich je höher stehende Führer sie haben, je mehr sie in großen Zeiten sich zur Höhe des Gesamtinteresses erheben, desto mehr nähern auch die Klassen- und Parteiideale sich dem absolut „Guten“, desto mehr treten die Abweichungen von denen anderer Klassen und Parteien zurück. Und wir wer- den behaupten können, je höher die sittliche und intellektuelle Bildung eines Volkes überhaupt stehe, desto eher werde es möglich, daß die Parteien und die Klassen sich nähern, so sehr der Tagesstreit sie immer wieder trennt. Wir können heute z. B. sagen: Erfahrung, Wissenschaft und sittlicher Zeit- geist haben es doch möglich gemacht, daß konservative Grundbesitzer, libe- rale Fabrikanten und sozialistische Arbeiter in vielen Punkten der sozialen Re- form sich nahe getreten seien. Die allgemeine Behauptung, die Menschen würden im Laufe der Geschichte immer individueller und subjektiver und das erzeuge eine wachsende Nicht-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/84>, abgerufen am 27.11.2024.