Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.IX. DIE GESCHICHTE UND DIE HISTORISCHE METHODE Die Statistik ist eine ebenso junge, als die Geschichte eine alte Wissen- Was will die Geschichte? Sybel sagt, sie wolle das Leben der Mensch- IX. DIE GESCHICHTE UND DIE HISTORISCHE METHODE Die Statistik ist eine ebenso junge, als die Geschichte eine alte Wissén- Was will die Geschichte? Sybel sagt, sie wolle das Leben der Mensch- <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0043" n="39"/> <div n="1"> <head>IX.<lb/> DIE GESCHICHTE UND DIE HISTORISCHE METHODE</head><lb/> <p>Die Statistik ist eine ebenso junge, als die Geschichte eine alte Wissén-<lb/> schaft ist. Die Statistik ist eine spezialisierte Hilfswissenschaft. Die Ge-<lb/> schichte ist neben der Philosophie die universalste aller Wissenschaften.<lb/> Und doch stehen beide zur Volkswirtschaftslehre in einem ähnlichen<lb/> Verhältnisse, beide sind für sie in erster Linie Hilfswissenschaften,<lb/> welche ihr ein gesichtetes, geprüftes, geordnetes Beobachtungsmaterial<lb/> liefern. Freilich ist damit die Einwirkung der Geschichte auf die Volks-<lb/> wirtschaftslehre nicht erschöpft.</p><lb/> <p>Was will die Geschichte? Sybel sagt, sie wolle das Leben der Mensch-<lb/> heit, wie es sich in dem Zusammen- und Auseinandergehen der Völker-<lb/> individualitäten gestalte, in seiner Entwickelung begreifen. Bernheim<lb/> hat sie neuerdings als die Wissenschaft von der Entwickelung der<lb/> Menschen in deren Betätigung als soziale Wesen definiert. Ich möchte<lb/> lieber beschreibend sagen: sie will die gesamte Überlieferung von der<lb/> politischen und sonstigen kulturellen Entwickelung der Völker und der<lb/> Menschheit sammeln, prüfen und zu einem verständnisvollen, in sich<lb/> zusammenhängenden Ganzen verbinden. Ihre Tätigkeit hat zwei Ziele<lb/> im Auge: die Kritik und Ordnung der Überlieferung und die Benut-<lb/> zung derselben zur Erzählung und Darstellung. Das erstere ist ihr<lb/> eigenstes ausschließliches Gebiet; hier hat sie im Anschluß an die Philo-<lb/> logie, besonders in den letzten hundert Jahren, eine so strenge Me-<lb/> thode ausgebildet und hat so sichere Ergebnisse geliefert, daß sie den<lb/> höchsten Maßstäben der Erkenntnis entsprechen, den Resultaten alles<lb/> anderen Wissens gleichstehen; daher die Gepflogenheit der Historie,<lb/> sie nach dem Vorbilde der Naturwissenschaften als exakt zu bezeich-<lb/> nen; hier hat sie ihre eigentümlichsten Kunstgriffe ausgebildet, die<lb/> größten Triumphe gefeiert. Aber ihr idealer Wert, ihre große Wirk-<lb/> samkeit liegt auf dem Gebiete der Erzählung und Darstellung, sowie<lb/> der Werturteile, Schlüsse und allgemeinen Wahrheiten, die aus der<lb/> Erzählung und Darstellung sich ergeben. Indem sich die bloß refe-<lb/> riernde Geschichte zur pragmatisch-lehrhaften und diese zur ge-<lb/> netischen ausbildete, welche den inneren und kausalen Zusammenhang<lb/> der Ereignisse, den Einfluß der Natur und der Rasse, der überlieferten<lb/> Ideen und der neuen Kenntnisse, der großen Männer und der Insti-<lb/> tutionen erklären will, mußte sie alles menschliche Wissen, die Philo-<lb/> sophie und alle Spezialwissenschaft direkt oder indirekt heranziehen<lb/> und konnte naturgemäß doch dieses letzte und höchste Ziel nie voll<lb/> erreichen; sie muß sich häufig begnügen, die letzten Rätsel der Welt-<lb/> geschichte begreiflich und denkbar zu machen, teleologisch auszudeu-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [39/0043]
IX.
DIE GESCHICHTE UND DIE HISTORISCHE METHODE
Die Statistik ist eine ebenso junge, als die Geschichte eine alte Wissén-
schaft ist. Die Statistik ist eine spezialisierte Hilfswissenschaft. Die Ge-
schichte ist neben der Philosophie die universalste aller Wissenschaften.
Und doch stehen beide zur Volkswirtschaftslehre in einem ähnlichen
Verhältnisse, beide sind für sie in erster Linie Hilfswissenschaften,
welche ihr ein gesichtetes, geprüftes, geordnetes Beobachtungsmaterial
liefern. Freilich ist damit die Einwirkung der Geschichte auf die Volks-
wirtschaftslehre nicht erschöpft.
Was will die Geschichte? Sybel sagt, sie wolle das Leben der Mensch-
heit, wie es sich in dem Zusammen- und Auseinandergehen der Völker-
individualitäten gestalte, in seiner Entwickelung begreifen. Bernheim
hat sie neuerdings als die Wissenschaft von der Entwickelung der
Menschen in deren Betätigung als soziale Wesen definiert. Ich möchte
lieber beschreibend sagen: sie will die gesamte Überlieferung von der
politischen und sonstigen kulturellen Entwickelung der Völker und der
Menschheit sammeln, prüfen und zu einem verständnisvollen, in sich
zusammenhängenden Ganzen verbinden. Ihre Tätigkeit hat zwei Ziele
im Auge: die Kritik und Ordnung der Überlieferung und die Benut-
zung derselben zur Erzählung und Darstellung. Das erstere ist ihr
eigenstes ausschließliches Gebiet; hier hat sie im Anschluß an die Philo-
logie, besonders in den letzten hundert Jahren, eine so strenge Me-
thode ausgebildet und hat so sichere Ergebnisse geliefert, daß sie den
höchsten Maßstäben der Erkenntnis entsprechen, den Resultaten alles
anderen Wissens gleichstehen; daher die Gepflogenheit der Historie,
sie nach dem Vorbilde der Naturwissenschaften als exakt zu bezeich-
nen; hier hat sie ihre eigentümlichsten Kunstgriffe ausgebildet, die
größten Triumphe gefeiert. Aber ihr idealer Wert, ihre große Wirk-
samkeit liegt auf dem Gebiete der Erzählung und Darstellung, sowie
der Werturteile, Schlüsse und allgemeinen Wahrheiten, die aus der
Erzählung und Darstellung sich ergeben. Indem sich die bloß refe-
riernde Geschichte zur pragmatisch-lehrhaften und diese zur ge-
netischen ausbildete, welche den inneren und kausalen Zusammenhang
der Ereignisse, den Einfluß der Natur und der Rasse, der überlieferten
Ideen und der neuen Kenntnisse, der großen Männer und der Insti-
tutionen erklären will, mußte sie alles menschliche Wissen, die Philo-
sophie und alle Spezialwissenschaft direkt oder indirekt heranziehen
und konnte naturgemäß doch dieses letzte und höchste Ziel nie voll
erreichen; sie muß sich häufig begnügen, die letzten Rätsel der Welt-
geschichte begreiflich und denkbar zu machen, teleologisch auszudeu-
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