Jahrhunderte lang waren einzelne privat- und sozialwirtschaftliche Tatsachen beobachtet und beschrieben, einzelne volkswirtschaftliche Wahrheiten erkannt, in den Moral- und Rechtssystemen wirtschaftliche Fragen erörtert worden. Zu einer besonderen Wissenschaft konnten die einzelnen hierher gehörigen Teile sich erst vereinigen, als die volks- wirtschaftlichen Fragen zu früher nie geahnter Bedeutung für die Lei- tung und Verwaltung der Staaten im 17.--19. Jahrhundert gelang- ten, zahlreiche Schriftsteller sich mit ihnen beschäftigten, eine Unter- weisung der studierenden Jugend in ihnen nötig wurde und zugleich der Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt dazu führte, die gesammelten volkswirtschaftlichen Sätze und Wahrheiten zu einem selbständigen, durch gewisse Grundgedanken, -- wie Geld- und Tausch- verkehr, staatliche Wirtschaftspolitik, Arbeit und Arbeitsteilung -- ver- bundenen Systeme zu verknüpfen, wie es die bedeutenden Schrift- steller des 18. Jahrhunderts versuchten. Seither besteht die Volkswirt- schaftslehre oder Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft. Sie wird teilweise heute auch Nationalökonomik oder Lehre von der na- tionalen Ökonomie genannt oder politische Ökonomie, wobei freilich der letztere Ausdruck den Nebensinn hat, die aus der Volkswirtschafts- lehre heraus entstandenen selbständigen Teile, wie Finanzwirtschaft oder gar auch die Hilfswissenschaften, wie Statistik, mit zu umfassen. J. St. Mill definierte sie als die Wissenschaft, welche die Natur des Reichtums und die Gesetze seiner Produktion und Verteilung unter- sucht. Aber die Natur des Reichtums ist wesentlich auch technischer Art, und die Gesetze der Reichtumserzeugung und -verteilung er- schöpfen das Problem nicht, ganz abgesehen von der Frage, ob wir solche bereits besitzen. Rau definierte: "die Wissenschaft, welche die Natur der Volkswirtschaft entwickelt oder welche zeigt, wie ein Volk durch die wirtschaftlichen Bestrebungen seiner Mitglieder fortwährend mit Sachgütern versorgt wird." Roscher "die Lehre von den Entwik- kelungsgesetzen der Volkswirtschaft", womit nur die dynamischen Ver- änderungen, nicht die statischen Formen der Organisation, die dauern- den gleichmäßigen Lebensäußerungen erfaßt sind. Mangoldt äußert sich so: "wissenschaftliche Darlegung der der Wirtschaft zu Grunde liegenden Kräfte, der Richtungen, in denen sie sich äußern, der Ge- setze ihrer Wirksamkeit und der Bedingungen ihres Erfolges". Das gesellschaftliche Moment betonte Fr. J. Neumann zuerst scharf, indem er unsere Wissenschaft "die Lehre von dem Verhalten der Einzelwirt- schaften untereinander und zum Staatsganzen" nennt. Doch genug der Beispiele. Ich möchte sagen: sie ist die Wissenschaft, welche die volks- wirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, definieren und aus Ur- sachen erklären sowie als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen will, wobei freilich vorausgesetzt ist, daß die Volkswirtschaft vorher
Jahrhunderte lang waren einzelne privat- und sozialwirtschaftliche Tatsachen beobachtet und beschrieben, einzelne volkswirtschaftliche Wahrheiten erkannt, in den Moral- und Rechtssystemen wirtschaftliche Fragen erörtert worden. Zu einer besonderen Wissenschaft konnten die einzelnen hierher gehörigen Teile sich erst vereinigén, als die volks- wirtschaftlichen Fragen zu früher nie geahnter Bedeutung für die Lei- tung und Verwaltung der Staaten im 17.—19. Jahrhundert gelang- ten, zahlreiche Schriftsteller sich mit ihnen beschäftigten, eine Unter- weisung der studierenden Jugend in ihnen nötig wurde und zugleich der Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt dazu führte, die gesammelten volkswirtschaftlichen Sätze und Wahrheiten zu einem selbständigen, durch gewisse Grundgedanken, — wie Geld- und Tausch- verkehr, staatliche Wirtschaftspolitik, Arbeit und Arbeitsteilung — ver- bundenen Systeme zu verknüpfen, wie es die bedeutenden Schrift- steller des 18. Jahrhunderts versuchten. Seither besteht die Volkswirt- schaftslehre oder Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft. Sie wird teilweise heute auch Nationalökonomik oder Lehre von der na- tionalen Ökonomie genannt oder politische Ökonomie, wobei freilich der letztere Ausdruck den Nebensinn hat, die aus der Volkswirtschafts- lehre heraus entstandenen selbständigen Teile, wie Finanzwirtschaft oder gar auch die Hilfswissenschaften, wie Statistik, mit zu umfassen. J. St. Mill definierte sie als die Wissenschaft, welche die Natur des Reichtums und die Gesetze seiner Produktion und Verteilung unter- sucht. Aber die Natur des Reichtums ist wesentlich auch technischer Art, und die Gesetze der Reichtumserzeugung und -verteilung er- schöpfen das Problem nicht, ganz abgesehen von der Frage, ob wir solche bereits besitzen. Rau definierte: „die Wissenschaft, welche die Natur der Volkswirtschaft entwickelt oder welche zeigt, wie ein Volk durch die wirtschaftlichen Bestrebungen seiner Mitglieder fortwährend mit Sachgütern versorgt wird.“ Roscher „die Lehre von den Entwik- kelungsgesetzen der Volkswirtschaft“, womit nur die dynamischen Ver- änderungen, nicht die statischen Formen der Organisation, die dauern- den gleichmäßigen Lebensäußerungen erfaßt sind. Mangoldt äußert sich so: „wissenschaftliche Darlegung der der Wirtschaft zu Grunde liegenden Kräfte, der Richtungen, in denen sie sich äußern, der Ge- setze ihrer Wirksamkeit und der Bedingungen ihres Erfolges“. Das gesellschaftliche Moment betonte Fr. J. Neumann zuerst scharf, indem er unsere Wissenschaft „die Lehre von dem Verhalten der Einzelwirt- schaften untereinander und zum Staatsganzen“ nennt. Doch genug der Beispiele. Ich möchte sagen: sie ist die Wissenschaft, welche die volks- wirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, definieren und aus Ur- sachen erklären sowie als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen will, wobei freilich vorausgesetzt ist, daß die Volkswirtschaft vorher
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[14/0018]
Jahrhunderte lang waren einzelne privat- und sozialwirtschaftliche
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Fragen erörtert worden. Zu einer besonderen Wissenschaft konnten
die einzelnen hierher gehörigen Teile sich erst vereinigén, als die volks-
wirtschaftlichen Fragen zu früher nie geahnter Bedeutung für die Lei-
tung und Verwaltung der Staaten im 17.—19. Jahrhundert gelang-
ten, zahlreiche Schriftsteller sich mit ihnen beschäftigten, eine Unter-
weisung der studierenden Jugend in ihnen nötig wurde und zugleich
der Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt dazu führte,
die gesammelten volkswirtschaftlichen Sätze und Wahrheiten zu einem
selbständigen, durch gewisse Grundgedanken, — wie Geld- und Tausch-
verkehr, staatliche Wirtschaftspolitik, Arbeit und Arbeitsteilung — ver-
bundenen Systeme zu verknüpfen, wie es die bedeutenden Schrift-
steller des 18. Jahrhunderts versuchten. Seither besteht die Volkswirt-
schaftslehre oder Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft. Sie
wird teilweise heute auch Nationalökonomik oder Lehre von der na-
tionalen Ökonomie genannt oder politische Ökonomie, wobei freilich
der letztere Ausdruck den Nebensinn hat, die aus der Volkswirtschafts-
lehre heraus entstandenen selbständigen Teile, wie Finanzwirtschaft
oder gar auch die Hilfswissenschaften, wie Statistik, mit zu umfassen.
J. St. Mill definierte sie als die Wissenschaft, welche die Natur des
Reichtums und die Gesetze seiner Produktion und Verteilung unter-
sucht. Aber die Natur des Reichtums ist wesentlich auch technischer
Art, und die Gesetze der Reichtumserzeugung und -verteilung er-
schöpfen das Problem nicht, ganz abgesehen von der Frage, ob wir
solche bereits besitzen. Rau definierte: „die Wissenschaft, welche die
Natur der Volkswirtschaft entwickelt oder welche zeigt, wie ein Volk
durch die wirtschaftlichen Bestrebungen seiner Mitglieder fortwährend
mit Sachgütern versorgt wird.“ Roscher „die Lehre von den Entwik-
kelungsgesetzen der Volkswirtschaft“, womit nur die dynamischen Ver-
änderungen, nicht die statischen Formen der Organisation, die dauern-
den gleichmäßigen Lebensäußerungen erfaßt sind. Mangoldt äußert
sich so: „wissenschaftliche Darlegung der der Wirtschaft zu Grunde
liegenden Kräfte, der Richtungen, in denen sie sich äußern, der Ge-
setze ihrer Wirksamkeit und der Bedingungen ihres Erfolges“. Das
gesellschaftliche Moment betonte Fr. J. Neumann zuerst scharf, indem
er unsere Wissenschaft „die Lehre von dem Verhalten der Einzelwirt-
schaften untereinander und zum Staatsganzen“ nennt. Doch genug der
Beispiele. Ich möchte sagen: sie ist die Wissenschaft, welche die volks-
wirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, definieren und aus Ur-
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will, wobei freilich vorausgesetzt ist, daß die Volkswirtschaft vorher
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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/18>, abgerufen am 23.07.2024.
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