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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Schlüssen und Hoffnungen Anlaß gaben; die Zahlen erschienen Quetelet, Buckle
und Anderen als der vollendetste Schlüssel zur Lösung aller sozialen Erkenntnis-
probleme. Nun schien endlich klar, daß auch alle Geisteswissenschaften der
naturwissenschaftlichen Methode, der zahlenmäßigen Fassung zugänglich seien.
Man vergaß, auf wie wenige Fragen sich diese Massenzählung anwenden
läßt, wie roh und äußerlich die Fragestellung bleibt, wie die Statistik sich
überwiegend im Gebiete des Naturgeschehens bewegt.
Und so hat sich naturgemäß eine starke geisteswissenschaftliche, haupt-
sächlich historische Opposition gegen diese Übertreibungen gebildet. Sie schießt
nun aber ihrerseits übers Ziel hinaus, wenn sie sagt, wer historische Gesetze
leugne, müßte auch die statistischen verwerfen; hier wie dort schließe die
Unbestimmbarkeit der individuellen Entschließungen das Gesetz aus (Bernheim).
Darauf ist zu sagen, daß auch alle individuellen Entschließungen unter psycho-
logischen Ursachen stehen, daß nur die psychologischen Gesetze noch nicht für
alle historischen Erscheinungen voll erkannt sind; daß diese vielleicht niemals
soweit werden erkannt werden, um die Entschlüsse der großen Männer, die Ge-
setzgebung verschiedener Epochen, die großen Völkerschicksale ganz zu erklä-
ren. In der Statistik und ihren Gesetzen handelt es sich aber um das viel
bescheidenere Ziel, die in engen Schwankungen verlaufenden überwiegend
natürlichen Menschenschicksale in ihrem Durchschnitt und nach den Durch-
schnittseigenschaften gewisser fest abgegrenzter psychologisch erforschter Men-
schengruppen zahlenmäßig zu fassen und kausal zu erklären. Simmel sagt
nicht in bezug auf die Zahl der Todesfälle und Geburten, sondern in bezug auf
die der Selbstmörder (x Selbstmörder auf 10000 Menschen), also auf eine der
überwiegend auch durch geistige Ursachen bedingten statistischen Erscheinun-
gen: wenn wir von einem innerlich verbundenen Sozialwesen, einem Volke,
das als solches besondere Eigenschaften habe, aussagen: so und so viel Selbst-
mörder fallen jährlich auf 10000 Menschen, so nähere sich diese Aussage
"dem Sinne eines wirklichen Gesetzes".
Ob man auch von einem Gesetz des abnehmenden Bodenertrags oder von
einem Malthusschen Bevölkerungsgesetz sprechen könne, möchte ich dagegen
meinerseits sehr bezweifeln. Doch versagt mir der Raum hierauf einzugehen.
Nur darüber, ob man von Entwickelungsgesetzen der Volkswirtschaft spre-
chen solle, möchte ich noch einige Worte sagen. Es wird leichter sein, wenn
ich vorher meine Stellung gegenüber den Philosophen und Volkswirten kurz
feststelle, die überhaupt alles Suchen nach Gesetzen in den Geisteswissenschaf-
ten ablehnen. Erst nachdem das geschehen, kann ich mich über wirtschaftliche
Entwicklungsgesetze und über historische Gesetze überhaupt definitiv aus-
sprechen.
Wir haben oben (§ 3) schon darauf aufmerksam gemacht, wie der an
sich berechtigte Kampf gegen das Vorherrschen naturwissenschaftlicher Me-
thoden in den Geisteswissenschaften bei Windelband und Rickert, noch mehr
bei einzelnen ihrer Schüler zur Verwerfung aller Gesetze in den Geisteswissen-
schaften geführt haben. Für Windelband sind nur die Naturwissenschaften
nomothetisch, d. h. gesetzaufstellend; die Geisteswissenschaften haben das
Individuelle idiographisch nachempfindend und anschaulich darzustellen; "das
Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte inkommensurable Größen unserer
Weltvorstellung nebeneinander bestehen". Ähnlich Rickert: "historische Ge-
Schlüssen und Hoffnungen Anlaß gaben; die Zahlen erschienen Quetelet, Buckle
und Anderen als der vollendetste Schlüssel zur Lösung aller sozialen Erkenntnis-
probleme. Nun schien endlich klar, daß auch alle Geisteswissenschaften der
naturwissenschaftlichen Methode, der zahlenmäßigen Fassung zugänglich seien.
Man vergaß, auf wie wenige Fragen sich diese Massenzählung anwenden
läßt, wie roh und äußerlich die Fragestellung bleibt, wie die Statistik sich
überwiegend im Gebiete des Naturgeschehens bewegt.
Und so hat sich naturgemäß eine starke geisteswissenschaftliche, haupt-
sächlich historische Opposition gegen diese Übertreibungen gebildet. Sie schießt
nun aber ihrerseits übers Ziel hinaus, wenn sie sagt, wer historische Gesetze
leugne, müßte auch die statistischen verwerfen; hier wie dort schließe die
Unbestimmbarkeit der individuellen Entschließungen das Gesetz aus (Bernheim).
Darauf ist zu sagen, daß auch alle individuellen Entschließungen unter psycho-
logischen Ursachen stehen, daß nur die psychologischen Gesetze noch nicht für
alle historischen Erscheinungen voll erkannt sind; daß diese vielleicht niemals
soweit werden erkannt werden, um die Entschlüsse der großen Männer, die Ge-
setzgebung verschiedener Epochen, die großen Völkerschicksale ganz zu erklä-
ren. In der Statistik und ihren Gesetzen handelt es sich aber um das viel
bescheidenere Ziel, die in engen Schwankungen verlaufenden überwiegend
natürlichen Menschenschicksale in ihrem Durchschnitt und nach den Durch-
schnittseigenschaften gewisser fest abgegrenzter psychologisch erforschter Men-
schengruppen zahlenmäßig zu fassen und kausal zu erklären. Simmel sagt
nicht in bezug auf die Zahl der Todesfälle und Geburten, sondern in bezug auf
die der Selbstmörder (x Selbstmörder auf 10000 Menschen), also auf eine der
überwiegend auch durch geistige Ursachen bedingten statistischen Erscheinun-
gen: wenn wir von einem innerlich verbundenen Sozialwesen, einem Volke,
das als solches besondere Eigenschaften habe, aussagen: so und so viel Selbst-
mörder fallen jährlich auf 10000 Menschen, so nähere sich diese Aussage
„dem Sinne eines wirklichen Gesetzes“.
Ob man auch von einem Gesetz des abnehmenden Bodenertrags oder von
einem Malthusschen Bevölkerungsgesetz sprechen könne, möchte ich dagegen
meinerseits sehr bezweifeln. Doch versagt mir der Raum hierauf einzugehen.
Nur darüber, ob man von Entwickelungsgesetzen der Volkswirtschaft spre-
chen solle, möchte ich noch einige Worte sagen. Es wird leichter sein, wenn
ich vorher meine Stellung gegenüber den Philosophen und Volkswirten kurz
feststelle, die überhaupt alles Suchen nach Gesetzen in den Geisteswissenschaf-
ten ablehnen. Erst nachdem das geschehen, kann ich mich über wirtschaftliche
Entwicklungsgesetze und über historische Gesetze überhaupt definitiv aus-
sprechen.
Wir haben oben (§ 3) schon darauf aufmerksam gemacht, wie der an
sich berechtigte Kampf gegen das Vorherrschen naturwissenschaftlicher Me-
thoden in den Geisteswissenschaften bei Windelband und Rickert, noch mehr
bei einzelnen ihrer Schüler zur Verwerfung aller Gesetze in den Geisteswissen-
schaften geführt haben. Für Windelband sind nur die Naturwissenschaften
nomothetisch, d. h. gesetzaufstellend; die Geisteswissenschaften haben das
Individuelle idiographisch nachempfindend und anschaulich darzustellen; „das
Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte inkommensurable Größen unserer
Weltvorstellung nebeneinander bestehen“. Ähnlich Rickert: „historische Ge-
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[99/0103] ¹⁴ Schlüssen und Hoffnungen Anlaß gaben; die Zahlen erschienen Quetelet, Buckle und Anderen als der vollendetste Schlüssel zur Lösung aller sozialen Erkenntnis- probleme. Nun schien endlich klar, daß auch alle Geisteswissenschaften der naturwissenschaftlichen Methode, der zahlenmäßigen Fassung zugänglich seien. Man vergaß, auf wie wenige Fragen sich diese Massenzählung anwenden läßt, wie roh und äußerlich die Fragestellung bleibt, wie die Statistik sich überwiegend im Gebiete des Naturgeschehens bewegt. Und so hat sich naturgemäß eine starke geisteswissenschaftliche, haupt- sächlich historische Opposition gegen diese Übertreibungen gebildet. Sie schießt nun aber ihrerseits übers Ziel hinaus, wenn sie sagt, wer historische Gesetze leugne, müßte auch die statistischen verwerfen; hier wie dort schließe die Unbestimmbarkeit der individuellen Entschließungen das Gesetz aus (Bernheim). Darauf ist zu sagen, daß auch alle individuellen Entschließungen unter psycho- logischen Ursachen stehen, daß nur die psychologischen Gesetze noch nicht für alle historischen Erscheinungen voll erkannt sind; daß diese vielleicht niemals soweit werden erkannt werden, um die Entschlüsse der großen Männer, die Ge- setzgebung verschiedener Epochen, die großen Völkerschicksale ganz zu erklä- ren. In der Statistik und ihren Gesetzen handelt es sich aber um das viel bescheidenere Ziel, die in engen Schwankungen verlaufenden überwiegend natürlichen Menschenschicksale in ihrem Durchschnitt und nach den Durch- schnittseigenschaften gewisser fest abgegrenzter psychologisch erforschter Men- schengruppen zahlenmäßig zu fassen und kausal zu erklären. Simmel sagt nicht in bezug auf die Zahl der Todesfälle und Geburten, sondern in bezug auf die der Selbstmörder (x Selbstmörder auf 10000 Menschen), also auf eine der überwiegend auch durch geistige Ursachen bedingten statistischen Erscheinun- gen: wenn wir von einem innerlich verbundenen Sozialwesen, einem Volke, das als solches besondere Eigenschaften habe, aussagen: so und so viel Selbst- mörder fallen jährlich auf 10000 Menschen, so nähere sich diese Aussage „dem Sinne eines wirklichen Gesetzes“. Ob man auch von einem Gesetz des abnehmenden Bodenertrags oder von einem Malthusschen Bevölkerungsgesetz sprechen könne, möchte ich dagegen meinerseits sehr bezweifeln. Doch versagt mir der Raum hierauf einzugehen. Nur darüber, ob man von Entwickelungsgesetzen der Volkswirtschaft spre- chen solle, möchte ich noch einige Worte sagen. Es wird leichter sein, wenn ich vorher meine Stellung gegenüber den Philosophen und Volkswirten kurz feststelle, die überhaupt alles Suchen nach Gesetzen in den Geisteswissenschaf- ten ablehnen. Erst nachdem das geschehen, kann ich mich über wirtschaftliche Entwicklungsgesetze und über historische Gesetze überhaupt definitiv aus- sprechen. Wir haben oben (§ 3) schon darauf aufmerksam gemacht, wie der an sich berechtigte Kampf gegen das Vorherrschen naturwissenschaftlicher Me- thoden in den Geisteswissenschaften bei Windelband und Rickert, noch mehr bei einzelnen ihrer Schüler zur Verwerfung aller Gesetze in den Geisteswissen- schaften geführt haben. Für Windelband sind nur die Naturwissenschaften nomothetisch, d. h. gesetzaufstellend; die Geisteswissenschaften haben das Individuelle idiographisch nachempfindend und anschaulich darzustellen; „das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen“. Ähnlich Rickert: „historische Ge-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/103>, abgerufen am 22.11.2024.