Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.Die einseitigen Fortschritte unserer Zeit. wie das andere Element allein in Bewegung kommenkann, daß das Pflichtgefühl der höhern Klassen ebenso schwer Neuem zugänglich ist, wie die technische Durch- schnittsbildung der untern Klassen, der wird es sehr begreiflich ja nothwendig finden, daß wir uns zunächst in einem Chaos, in einem Kampfe der sozialen Klassen befinden, der wird nicht erwarten, daß die Folge so großer theilweise unter sich gar nicht zusammenhängender Ursachen eine vollständig harmonische Entwickelung sei, daß wir für alle die Aenderungen unseres äußeren wirth- schaftlichen Lebens auch schon die absolut richtigen sitt- lichen und rechtlichen Kulturformen gefunden haben. Die reine Wissenschaft wird sich daher nicht scheuen, von diesem Standpunkte aus alle Grundlagen unseres sozialen Lebens in Frage zu stellen; denn nur, was vor erneuter Prüfung Stich hält, soll bleiben. Aber sie wird sich nicht der sonderbaren Inkonsequenz unserer radikalen Volkswirthe schuldig machen, die so leicht und vielfach mit Recht das bestehende Privat- und Staats- recht als ein unhaltbares historisch überlebtes an- greifen, dagegen vor dem zufällig heute so festgestellten Recht des Privateigenthums, vor dem heute zufällig bestehenden Obligationsrecht der Arbeitsmiethe als einem unantastbaren Noli me tangere stehen bleiben und in diesen Punkten nicht bloß konservativ, sondern reak- tionär und altgläubig bis zum Uebermaß werden. Nicht als wollten wir ohne Weiteres diese Rechtsformen an sich angreifen, aber das geben wir zu: auch sie sind in ihrer augenblicklichen Gestaltung doch nur historisch gewordene, durch bestimmte Zustände und Sitten bedingte Die einſeitigen Fortſchritte unſerer Zeit. wie das andere Element allein in Bewegung kommenkann, daß das Pflichtgefühl der höhern Klaſſen ebenſo ſchwer Neuem zugänglich iſt, wie die techniſche Durch- ſchnittsbildung der untern Klaſſen, der wird es ſehr begreiflich ja nothwendig finden, daß wir uns zunächſt in einem Chaos, in einem Kampfe der ſozialen Klaſſen befinden, der wird nicht erwarten, daß die Folge ſo großer theilweiſe unter ſich gar nicht zuſammenhängender Urſachen eine vollſtändig harmoniſche Entwickelung ſei, daß wir für alle die Aenderungen unſeres äußeren wirth- ſchaftlichen Lebens auch ſchon die abſolut richtigen ſitt- lichen und rechtlichen Kulturformen gefunden haben. Die reine Wiſſenſchaft wird ſich daher nicht ſcheuen, von dieſem Standpunkte aus alle Grundlagen unſeres ſozialen Lebens in Frage zu ſtellen; denn nur, was vor erneuter Prüfung Stich hält, ſoll bleiben. Aber ſie wird ſich nicht der ſonderbaren Inkonſequenz unſerer radikalen Volkswirthe ſchuldig machen, die ſo leicht und vielfach mit Recht das beſtehende Privat- und Staats- recht als ein unhaltbares hiſtoriſch überlebtes an- greifen, dagegen vor dem zufällig heute ſo feſtgeſtellten Recht des Privateigenthums, vor dem heute zufällig beſtehenden Obligationsrecht der Arbeitsmiethe als einem unantaſtbaren Noli me tangere ſtehen bleiben und in dieſen Punkten nicht bloß konſervativ, ſondern reak- tionär und altgläubig bis zum Uebermaß werden. Nicht als wollten wir ohne Weiteres dieſe Rechtsformen an ſich angreifen, aber das geben wir zu: auch ſie ſind in ihrer augenblicklichen Geſtaltung doch nur hiſtoriſch gewordene, durch beſtimmte Zuſtände und Sitten bedingte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0685" n="663"/><fw place="top" type="header">Die einſeitigen Fortſchritte unſerer Zeit.</fw><lb/> wie das andere Element allein in Bewegung kommen<lb/> kann, daß das Pflichtgefühl der höhern Klaſſen ebenſo<lb/> ſchwer Neuem zugänglich iſt, wie die techniſche Durch-<lb/> ſchnittsbildung der untern Klaſſen, der wird es ſehr<lb/> begreiflich ja nothwendig finden, daß wir uns zunächſt<lb/> in einem Chaos, in einem Kampfe der ſozialen Klaſſen<lb/> befinden, der wird nicht erwarten, daß die Folge ſo<lb/> großer theilweiſe unter ſich gar nicht zuſammenhängender<lb/> Urſachen eine vollſtändig harmoniſche Entwickelung ſei,<lb/> daß wir für alle die Aenderungen unſeres äußeren wirth-<lb/> ſchaftlichen Lebens auch ſchon die abſolut richtigen ſitt-<lb/> lichen und rechtlichen Kulturformen gefunden haben.<lb/> Die reine Wiſſenſchaft wird ſich daher nicht ſcheuen,<lb/> von dieſem Standpunkte aus alle Grundlagen unſeres<lb/> ſozialen Lebens in Frage zu ſtellen; denn nur, was vor<lb/> erneuter Prüfung Stich hält, ſoll bleiben. 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Die einſeitigen Fortſchritte unſerer Zeit.
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kann, daß das Pflichtgefühl der höhern Klaſſen ebenſo
ſchwer Neuem zugänglich iſt, wie die techniſche Durch-
ſchnittsbildung der untern Klaſſen, der wird es ſehr
begreiflich ja nothwendig finden, daß wir uns zunächſt
in einem Chaos, in einem Kampfe der ſozialen Klaſſen
befinden, der wird nicht erwarten, daß die Folge ſo
großer theilweiſe unter ſich gar nicht zuſammenhängender
Urſachen eine vollſtändig harmoniſche Entwickelung ſei,
daß wir für alle die Aenderungen unſeres äußeren wirth-
ſchaftlichen Lebens auch ſchon die abſolut richtigen ſitt-
lichen und rechtlichen Kulturformen gefunden haben.
Die reine Wiſſenſchaft wird ſich daher nicht ſcheuen,
von dieſem Standpunkte aus alle Grundlagen unſeres
ſozialen Lebens in Frage zu ſtellen; denn nur, was vor
erneuter Prüfung Stich hält, ſoll bleiben. Aber ſie
wird ſich nicht der ſonderbaren Inkonſequenz unſerer
radikalen Volkswirthe ſchuldig machen, die ſo leicht und
vielfach mit Recht das beſtehende Privat- und Staats-
recht als ein unhaltbares hiſtoriſch überlebtes an-
greifen, dagegen vor dem zufällig heute ſo feſtgeſtellten
Recht des Privateigenthums, vor dem heute zufällig
beſtehenden Obligationsrecht der Arbeitsmiethe als einem
unantaſtbaren Noli me tangere ſtehen bleiben und
in dieſen Punkten nicht bloß konſervativ, ſondern reak-
tionär und altgläubig bis zum Uebermaß werden. Nicht
als wollten wir ohne Weiteres dieſe Rechtsformen an
ſich angreifen, aber das geben wir zu: auch ſie ſind in
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