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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.

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Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
der Geschäftsorganisation, das nach allen Seiten ver-
giftet und verdorben, die wirthschaftliche Noth nur noch
steigerte, die Bevölkerung ganzer Dörfer und Gegenden
moralisch so tief herabdrückte, daß von da an das
System einer in den Hütten der kleinen Leute zerstreuten
Hausindustrie in manchen Kreisen für identisch galt
mit der Zulassung von Betrug und Diebstahl aller Art.

Man könnte glauben, die billigen Lebensmittel der
zwanziger Jahre hätten die Existenz der Spinner erleich-
tert; aber in Wahrheit war diese Billigkeit für sie eher
verhängnißvoll. Sie ließen sich leichter die sinkenden
Löhne gefallen, und als von 1828 an die Preise wieder
stiegen, da war die Lage um so schlimmer. Der Ver-
dienst eines westfälischen Spinners betrug 1828 selten
mehr als 2 Groschen täglich. 1 Und daneben trieb die
Landbaukrisis viele kleine Bauern, welche früher nicht
gesponnen hatten, zu diesem Nebenerwerb. Es war ein
zunehmendes Angebot bei sinkender Nachfrage und über-
dieß lieferten die Bauern oft noch schlechteres Garn,
als die professionsmäßigen Spinner.

Da die Garne der deutschen Länder, wo die
strengste Leggeordnung stets aufrecht erhalten worden
war, wie z. B. die Hannover'schen, entschieden besser
blieben, ihren Ruf im Ausland behaupteten, so suchte
auch die preußische Regierung den täglich sinkenden Ruf
des preußischen besonders schlesischen Handgarns durch
theilweise Wiederherstellung der Reglements noch zu
retten, dem unreellen Geschäftsbetrieb entgegen zu arbei-

1 Gülich II, 489.

Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
der Geſchäftsorganiſation, das nach allen Seiten ver-
giftet und verdorben, die wirthſchaftliche Noth nur noch
ſteigerte, die Bevölkerung ganzer Dörfer und Gegenden
moraliſch ſo tief herabdrückte, daß von da an das
Syſtem einer in den Hütten der kleinen Leute zerſtreuten
Hausinduſtrie in manchen Kreiſen für identiſch galt
mit der Zulaſſung von Betrug und Diebſtahl aller Art.

Man könnte glauben, die billigen Lebensmittel der
zwanziger Jahre hätten die Exiſtenz der Spinner erleich-
tert; aber in Wahrheit war dieſe Billigkeit für ſie eher
verhängnißvoll. Sie ließen ſich leichter die ſinkenden
Löhne gefallen, und als von 1828 an die Preiſe wieder
ſtiegen, da war die Lage um ſo ſchlimmer. Der Ver-
dienſt eines weſtfäliſchen Spinners betrug 1828 ſelten
mehr als 2 Groſchen täglich. 1 Und daneben trieb die
Landbaukriſis viele kleine Bauern, welche früher nicht
geſponnen hatten, zu dieſem Nebenerwerb. Es war ein
zunehmendes Angebot bei ſinkender Nachfrage und über-
dieß lieferten die Bauern oft noch ſchlechteres Garn,
als die profeſſionsmäßigen Spinner.

Da die Garne der deutſchen Länder, wo die
ſtrengſte Leggeordnung ſtets aufrecht erhalten worden
war, wie z. B. die Hannover’ſchen, entſchieden beſſer
blieben, ihren Ruf im Ausland behaupteten, ſo ſuchte
auch die preußiſche Regierung den täglich ſinkenden Ruf
des preußiſchen beſonders ſchleſiſchen Handgarns durch
theilweiſe Wiederherſtellung der Reglements noch zu
retten, dem unreellen Geſchäftsbetrieb entgegen zu arbei-

1 Gülich II, 489.
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[462/0484] Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. der Geſchäftsorganiſation, das nach allen Seiten ver- giftet und verdorben, die wirthſchaftliche Noth nur noch ſteigerte, die Bevölkerung ganzer Dörfer und Gegenden moraliſch ſo tief herabdrückte, daß von da an das Syſtem einer in den Hütten der kleinen Leute zerſtreuten Hausinduſtrie in manchen Kreiſen für identiſch galt mit der Zulaſſung von Betrug und Diebſtahl aller Art. Man könnte glauben, die billigen Lebensmittel der zwanziger Jahre hätten die Exiſtenz der Spinner erleich- tert; aber in Wahrheit war dieſe Billigkeit für ſie eher verhängnißvoll. Sie ließen ſich leichter die ſinkenden Löhne gefallen, und als von 1828 an die Preiſe wieder ſtiegen, da war die Lage um ſo ſchlimmer. Der Ver- dienſt eines weſtfäliſchen Spinners betrug 1828 ſelten mehr als 2 Groſchen täglich. 1 Und daneben trieb die Landbaukriſis viele kleine Bauern, welche früher nicht geſponnen hatten, zu dieſem Nebenerwerb. Es war ein zunehmendes Angebot bei ſinkender Nachfrage und über- dieß lieferten die Bauern oft noch ſchlechteres Garn, als die profeſſionsmäßigen Spinner. Da die Garne der deutſchen Länder, wo die ſtrengſte Leggeordnung ſtets aufrecht erhalten worden war, wie z. B. die Hannover’ſchen, entſchieden beſſer blieben, ihren Ruf im Ausland behaupteten, ſo ſuchte auch die preußiſche Regierung den täglich ſinkenden Ruf des preußiſchen beſonders ſchleſiſchen Handgarns durch theilweiſe Wiederherſtellung der Reglements noch zu retten, dem unreellen Geſchäftsbetrieb entgegen zu arbei- 1 Gülich II, 489.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/484>, abgerufen am 22.11.2024.