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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
eine Fürsorge für die Armen und Schwachen, die man im Altertum vergeblich sucht.
Die Idee der Gleichheit vor Gott trat den bestehenden harten Gesellschaftsunterschieden
versöhnend, mildernd zur Seite; in jedem, selbst dem Niedrigsten, wurde die Würde des
Menschen anerkannt, wenn auch die spätere aristokratische Kirchenlehre den Ständeunter-
schied wieder als eine göttliche Fügung deutete.

Die ethische und die praktische Einseitigkeit der mittelalterlich-christlichen Ideale
fand ihre Auflösung in der weltlichen Entartung der romanisch-regimentalen, hierarchischen,
nach politischer Weltherrschaft statt nach religiös-sittlicher Verbesserung strebenden Kirche,
in den veränderten wirtschaftlich-socialen Lebensbedingungen der abendländischen Völker
seit dem 13. Jahrhundert, in dem Wiederaufleben der antiken Studien und des wissen-
schaftlichen Betriebes. Schon Thomas von Aquino trägt im 13. Jahrhundert in vielem
wieder die nationalökonomischen Lehren von Aristoteles vor; und in der politischen und
ethischen Gedankenbewegung der folgenden Jahrhunderte wächst der Einfluß des römischen
Rechtes, der Stoa und Epikurs neben der Macht der neuen wirtschaftlichen Thatsachen.
In der italienischen Renaissance des 15. Jahrhunderts entdeckt das Individuum gleichsam
sich selbst und sein Recht an eine lebensvolle Wirklichkeit. In der deutschen Reformation
des 16. Jahrhunderts schüttelt die germanische Welt das geistige Joch der entarteten
römischen Kirche ab und findet eine neue, höhere Form der Frömmigkeit, welche nicht
mehr mystischen Quietismus und Weltflucht fordert, welche jedem einzelnen den freien
Zugang zu Gott läßt, diesen nicht mehr allein durch die Priesterkirche vermittelt, welche
mit dem höchsten Gottvertrauen träftigstes aktives Handeln in dieser Welt verbinden
will. Eine Lehre, welche in der Arbeit jedes Hauses, jeder Werkstatt, jeder Gemeinde
ein Werk Gottes sah, führte erst recht die christlichen Tugenden in das Leben ein und
gab den germanisch-protestantischen Staaten jene aktiv ethischen Eigenschaften, jene Ver-
tiefung des Volkscharakters, jene Stärkung der Familien- und Gemeingefühle, welche
sie bis heute an die Spitze des geistigen, politischen und volkswirtschaftlichen Fortschrittes
stellte. Wie großes aber praktisch so die Reformation leistete, wie sehr sie sich bemühte,
aus ihren dogmatischen und philosophischen Prämissen und Idealen heraus zu gewissen
Lehren über Staat, Gesellschaft und sociales Leben zu kommen, eine selbständige und
große Leistung auf diesem Gebiete war ihr doch versagt. Was die Reformatoren über
wirtschaftliche und sociale Dinge lehrten, knüpft halb an die Kirchenväter und das Ur-
christentum, halb an die Stoa an; was sie praktisch vorschlugen, war von den ver-
schiedenen realen Zuständen ihrer Umgebung bedingt und war so in Wittenberg etwas
anderes als in Zürich oder Genf. Es kam teilweise über theoretische Anläufe nicht hinaus;
die Wirtschafts- und Socialpolitik Luthers war nicht frei von Fehlgriffen, mißverstand
die Gärung der Bauern, wußte das brüderliche Gemeindeleben nicht zu beleben, wie es
den Reformierten gelang. Die Bedeutung der Reformatoren für die Staatswissenschaft liegt
so nicht sowohl in dem, was sie etwa über Wucher, Geld, sociale Klassen, Obrigkeit
sagten, als in dem sittlichen Ernst ihrer dem Leben zugewendeten Moral, in dem Hauche
geistiger Freiheit, der von ihnen ausging, in dem Versuche, die Überlieferung antiker
Wissenschaft mit christlicher Gesittung und Empfindung zu verbinden. Aus diesen Ten-
denzen entsprang dann zu Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts jenes
Naturrecht, das zum erstenmal seit den Alten den selbständigen wissenschaftlichen Versuch
einer Lehre von Staat, Recht, Gesellschaft und Volkswirtschaft enthält.

2. Das Wiedererwachen der Wissenschaft und das Naturrecht des 17. Jahr-
hunderts.
Zur Litteraturgesch. der Volkswirtschaftslehre überhaupt: Kautz, Die geschichtl. Entwickelung
der Nationalökonomik und ihrer Litteratur. 1860. --
Dühring, Kritische Geschichte der National-
ökonomie und des Socialismus. 1871. 3. Aufl. 1879. --
Roscher, Geschichte der Nationalökonomik.
1881. 2. Aufl. 1891. --
Eisenhart, Geschichte der Nationalökonomik. 1881 u. 91. -- Schmoller,
Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Socialwissenschaften. 1888. --
Ingram, Geschichte der
Volkswirtschaftslehre. Deutsch 1890.

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
eine Fürſorge für die Armen und Schwachen, die man im Altertum vergeblich ſucht.
Die Idee der Gleichheit vor Gott trat den beſtehenden harten Geſellſchaftsunterſchieden
verſöhnend, mildernd zur Seite; in jedem, ſelbſt dem Niedrigſten, wurde die Würde des
Menſchen anerkannt, wenn auch die ſpätere ariſtokratiſche Kirchenlehre den Ständeunter-
ſchied wieder als eine göttliche Fügung deutete.

Die ethiſche und die praktiſche Einſeitigkeit der mittelalterlich-chriſtlichen Ideale
fand ihre Auflöſung in der weltlichen Entartung der romaniſch-regimentalen, hierarchiſchen,
nach politiſcher Weltherrſchaft ſtatt nach religiös-ſittlicher Verbeſſerung ſtrebenden Kirche,
in den veränderten wirtſchaftlich-ſocialen Lebensbedingungen der abendländiſchen Völker
ſeit dem 13. Jahrhundert, in dem Wiederaufleben der antiken Studien und des wiſſen-
ſchaftlichen Betriebes. Schon Thomas von Aquino trägt im 13. Jahrhundert in vielem
wieder die nationalökonomiſchen Lehren von Ariſtoteles vor; und in der politiſchen und
ethiſchen Gedankenbewegung der folgenden Jahrhunderte wächſt der Einfluß des römiſchen
Rechtes, der Stoa und Epikurs neben der Macht der neuen wirtſchaftlichen Thatſachen.
In der italieniſchen Renaiſſance des 15. Jahrhunderts entdeckt das Individuum gleichſam
ſich ſelbſt und ſein Recht an eine lebensvolle Wirklichkeit. In der deutſchen Reformation
des 16. Jahrhunderts ſchüttelt die germaniſche Welt das geiſtige Joch der entarteten
römiſchen Kirche ab und findet eine neue, höhere Form der Frömmigkeit, welche nicht
mehr myſtiſchen Quietismus und Weltflucht fordert, welche jedem einzelnen den freien
Zugang zu Gott läßt, dieſen nicht mehr allein durch die Prieſterkirche vermittelt, welche
mit dem höchſten Gottvertrauen träftigſtes aktives Handeln in dieſer Welt verbinden
will. Eine Lehre, welche in der Arbeit jedes Hauſes, jeder Werkſtatt, jeder Gemeinde
ein Werk Gottes ſah, führte erſt recht die chriſtlichen Tugenden in das Leben ein und
gab den germaniſch-proteſtantiſchen Staaten jene aktiv ethiſchen Eigenſchaften, jene Ver-
tiefung des Volkscharakters, jene Stärkung der Familien- und Gemeingefühle, welche
ſie bis heute an die Spitze des geiſtigen, politiſchen und volkswirtſchaftlichen Fortſchrittes
ſtellte. Wie großes aber praktiſch ſo die Reformation leiſtete, wie ſehr ſie ſich bemühte,
aus ihren dogmatiſchen und philoſophiſchen Prämiſſen und Idealen heraus zu gewiſſen
Lehren über Staat, Geſellſchaft und ſociales Leben zu kommen, eine ſelbſtändige und
große Leiſtung auf dieſem Gebiete war ihr doch verſagt. Was die Reformatoren über
wirtſchaftliche und ſociale Dinge lehrten, knüpft halb an die Kirchenväter und das Ur-
chriſtentum, halb an die Stoa an; was ſie praktiſch vorſchlugen, war von den ver-
ſchiedenen realen Zuſtänden ihrer Umgebung bedingt und war ſo in Wittenberg etwas
anderes als in Zürich oder Genf. Es kam teilweiſe über theoretiſche Anläufe nicht hinaus;
die Wirtſchafts- und Socialpolitik Luthers war nicht frei von Fehlgriffen, mißverſtand
die Gärung der Bauern, wußte das brüderliche Gemeindeleben nicht zu beleben, wie es
den Reformierten gelang. Die Bedeutung der Reformatoren für die Staatswiſſenſchaft liegt
ſo nicht ſowohl in dem, was ſie etwa über Wucher, Geld, ſociale Klaſſen, Obrigkeit
ſagten, als in dem ſittlichen Ernſt ihrer dem Leben zugewendeten Moral, in dem Hauche
geiſtiger Freiheit, der von ihnen ausging, in dem Verſuche, die Überlieferung antiker
Wiſſenſchaft mit chriſtlicher Geſittung und Empfindung zu verbinden. Aus dieſen Ten-
denzen entſprang dann zu Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts jenes
Naturrecht, das zum erſtenmal ſeit den Alten den ſelbſtändigen wiſſenſchaftlichen Verſuch
einer Lehre von Staat, Recht, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft enthält.

2. Das Wiedererwachen der Wiſſenſchaft und das Naturrecht des 17. Jahr-
hunderts.
Zur Litteraturgeſch. der Volkswirtſchaftslehre überhaupt: Kautz, Die geſchichtl. Entwickelung
der Nationalökonomik und ihrer Litteratur. 1860. —
Dühring, Kritiſche Geſchichte der National-
ökonomie und des Socialismus. 1871. 3. Aufl. 1879. —
Roſcher, Geſchichte der Nationalökonomik.
1881. 2. Aufl. 1891. —
Eiſenhart, Geſchichte der Nationalökonomik. 1881 u. 91. — Schmoller,
Zur Litteraturgeſchichte der Staats- und Socialwiſſenſchaften. 1888. —
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[80/0096] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. eine Fürſorge für die Armen und Schwachen, die man im Altertum vergeblich ſucht. Die Idee der Gleichheit vor Gott trat den beſtehenden harten Geſellſchaftsunterſchieden verſöhnend, mildernd zur Seite; in jedem, ſelbſt dem Niedrigſten, wurde die Würde des Menſchen anerkannt, wenn auch die ſpätere ariſtokratiſche Kirchenlehre den Ständeunter- ſchied wieder als eine göttliche Fügung deutete. Die ethiſche und die praktiſche Einſeitigkeit der mittelalterlich-chriſtlichen Ideale fand ihre Auflöſung in der weltlichen Entartung der romaniſch-regimentalen, hierarchiſchen, nach politiſcher Weltherrſchaft ſtatt nach religiös-ſittlicher Verbeſſerung ſtrebenden Kirche, in den veränderten wirtſchaftlich-ſocialen Lebensbedingungen der abendländiſchen Völker ſeit dem 13. Jahrhundert, in dem Wiederaufleben der antiken Studien und des wiſſen- ſchaftlichen Betriebes. Schon Thomas von Aquino trägt im 13. Jahrhundert in vielem wieder die nationalökonomiſchen Lehren von Ariſtoteles vor; und in der politiſchen und ethiſchen Gedankenbewegung der folgenden Jahrhunderte wächſt der Einfluß des römiſchen Rechtes, der Stoa und Epikurs neben der Macht der neuen wirtſchaftlichen Thatſachen. In der italieniſchen Renaiſſance des 15. Jahrhunderts entdeckt das Individuum gleichſam ſich ſelbſt und ſein Recht an eine lebensvolle Wirklichkeit. In der deutſchen Reformation des 16. Jahrhunderts ſchüttelt die germaniſche Welt das geiſtige Joch der entarteten römiſchen Kirche ab und findet eine neue, höhere Form der Frömmigkeit, welche nicht mehr myſtiſchen Quietismus und Weltflucht fordert, welche jedem einzelnen den freien Zugang zu Gott läßt, dieſen nicht mehr allein durch die Prieſterkirche vermittelt, welche mit dem höchſten Gottvertrauen träftigſtes aktives Handeln in dieſer Welt verbinden will. Eine Lehre, welche in der Arbeit jedes Hauſes, jeder Werkſtatt, jeder Gemeinde ein Werk Gottes ſah, führte erſt recht die chriſtlichen Tugenden in das Leben ein und gab den germaniſch-proteſtantiſchen Staaten jene aktiv ethiſchen Eigenſchaften, jene Ver- tiefung des Volkscharakters, jene Stärkung der Familien- und Gemeingefühle, welche ſie bis heute an die Spitze des geiſtigen, politiſchen und volkswirtſchaftlichen Fortſchrittes ſtellte. Wie großes aber praktiſch ſo die Reformation leiſtete, wie ſehr ſie ſich bemühte, aus ihren dogmatiſchen und philoſophiſchen Prämiſſen und Idealen heraus zu gewiſſen Lehren über Staat, Geſellſchaft und ſociales Leben zu kommen, eine ſelbſtändige und große Leiſtung auf dieſem Gebiete war ihr doch verſagt. Was die Reformatoren über wirtſchaftliche und ſociale Dinge lehrten, knüpft halb an die Kirchenväter und das Ur- chriſtentum, halb an die Stoa an; was ſie praktiſch vorſchlugen, war von den ver- ſchiedenen realen Zuſtänden ihrer Umgebung bedingt und war ſo in Wittenberg etwas anderes als in Zürich oder Genf. Es kam teilweiſe über theoretiſche Anläufe nicht hinaus; die Wirtſchafts- und Socialpolitik Luthers war nicht frei von Fehlgriffen, mißverſtand die Gärung der Bauern, wußte das brüderliche Gemeindeleben nicht zu beleben, wie es den Reformierten gelang. Die Bedeutung der Reformatoren für die Staatswiſſenſchaft liegt ſo nicht ſowohl in dem, was ſie etwa über Wucher, Geld, ſociale Klaſſen, Obrigkeit ſagten, als in dem ſittlichen Ernſt ihrer dem Leben zugewendeten Moral, in dem Hauche geiſtiger Freiheit, der von ihnen ausging, in dem Verſuche, die Überlieferung antiker Wiſſenſchaft mit chriſtlicher Geſittung und Empfindung zu verbinden. Aus dieſen Ten- denzen entſprang dann zu Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts jenes Naturrecht, das zum erſtenmal ſeit den Alten den ſelbſtändigen wiſſenſchaftlichen Verſuch einer Lehre von Staat, Recht, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft enthält. 2. Das Wiedererwachen der Wiſſenſchaft und das Naturrecht des 17. Jahr- hunderts. Zur Litteraturgeſch. der Volkswirtſchaftslehre überhaupt: Kautz, Die geſchichtl. Entwickelung der Nationalökonomik und ihrer Litteratur. 1860. — Dühring, Kritiſche Geſchichte der National- ökonomie und des Socialismus. 1871. 3. Aufl. 1879. — Roſcher, Geſchichte der Nationalökonomik. 1881. 2. Aufl. 1891. — Eiſenhart, Geſchichte der Nationalökonomik. 1881 u. 91. — Schmoller, Zur Litteraturgeſchichte der Staats- und Socialwiſſenſchaften. 1888. — Ingram, Geſchichte der Volkswirtſchaftslehre. Deutſch 1890.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/96>, abgerufen am 25.11.2024.