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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

Die einzelnen und die socialen Gruppen standen so stets zugleich zueinander in
einem Verhältnis der Attraktion und der Repulsion, des Friedens und des Streites.
Überall herrschen zwischen denselben Personen und Gruppen heute feindliche, morgen
freundliche Beziehungen; man liebt sich heute, wirkt zusammen, fördert sich, und morgen
haßt und beneidet, bekämpft und vernichtet man sich. Die zwei Seiten aller Menschen-
natur konnten nur durch dieses Doppelspiel der egoistischen und der sympathischen
Willensanstöße entwickelt werden: die Thatkraft konnte nur durch die kraftvolle Selbst-
behauptung, die gesellschaftlichen Instinkte konnten nur durch Frieden und Streitvermeidung
ausgebildet werden. Und da der Kampf selbst stets ein doppelter, ein individueller und
ein kollektiver war, so ist es wohl verständlich, wie beides in den verschiedensten Kombi-
nationen nebeneinander sich ausbildete. Der kollektive Kampf war stets nur durch die
Gemeinschaft möglich; innerhalb der Stämme und Völker fanden sich meist und über-
wiegend Menschen ähnlicher Körper- und Geisteskräfte zusammen, die auch ohne heftige
innere Kämpfe eine tüchtige, unter Umständen eine durch Variation sich vervollkommnende
Nachkommenschaft haben konnten, die jedenfalls nur durch ihr friedliches Zusammenleben
und Zusammenwirken die großen Fortschritte der Sprachbildung, der Ausbildung der
sympathischen Gefühle, der Religion, des Rechtes vollziehen konnten, die nur unter der
Herrschaft dieser Friedenseinrichtungen zur Ausbildung der politischen Tugenden, des
Patriotismus, der Treue, des Gehorsams kommen konnten. Alle staatliche, zumal alle
kriegerische Organisation und Disciplin konnte nur durch starke Verbote und Ein-
schränkungen des individuellen Daseinskampfes entstehen, welche gewiß oftmals den
Fähigeren und Stärkeren hinderten, den Schwächeren zu vernichten. Aber das that
nichts; denn die Kindersterblichkeit, die Krankheiten, der Kampf mit den Tieren und
den fremden Stämmen, die wirtschaftliche Konkurrenz schafften Auslese genug. Und nicht
aller menschliche Fortschritt beruht doch auf der Auslese. Darwin selbst muß gestehen,
daß die moralischen Eigenschaften, auf denen die Gesellschaft beruhe, mehr durch Ge-
wohnheit, vernünftige Überlegung, Unterricht und Religion gefördert wurden. Die Lebens-
bedingungen der menschlichen Gesellschaft lassen sich eben mit denen der Tiere und Pflanzen
nicht ganz direkt parallelisieren, weder in Beziehung auf die Fortpflanzung und Ver-
erbung, noch in Beziehung auf die Kämpfe der Individuen untereinander, noch in Be-
ziehung auf die der Gruppen und Gesellschaften. Es waren voreilige Analogieschlüsse,
durch welche man sich der konkreten Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse und
der speciellen Natur der in der Gesellschaft sich abspielenden Kämpfe und Kampfschranken
überhoben glaubte.

Wir haben hier nun die einzelnen Anwendungen der Analogieschlüsse nicht erschöpfend
zu erörtern, wollen nur noch kurz andeuten, welche Rolle der Kampfgedanke in der
Ausbildung der neueren Volkswirtschaftslehre gespielt hat, wie er zwar fruchtbar auf
der einen Seite wirkte, auf der anderen aber auch Irrtum erzeugte, weil man meist die
richtige Begrenzung des Gedankens nicht sofort erkannte.

Die Merkantilisten sahen in allem Handel, in allen wirtschaftlichen Beziehungen
der Staaten untereinander wesentlich nur einen Kampf, wobei der eine Teil gewinne,
was der andere verliere; ihre wirtschaftliche Politik war Kampfpolitik in übertriebener
Weise; die Staaten sollten sich möglichst gegenseitig wehe thun; die Individuen im
Staate sollten umgekehrt durch alle denkbaren Schranken und polizeilichen Vorschriften
in freundlichen, förderlichen Kontakt und Tauschverkehr gesetzt werden. Die liberale
Naturlehre der Volkswirtschaft, festgefügte, wohlgeordnete Staaten vorfindend und von
idealistischen Harmonievorstellungen ausgehend, glaubte, die Staaten und Völker könnten
sich kaum wirtschaftlich schaden, nützten sich durch freien Verkehr immer; aber die
Individuen, ihren Erwerb und Gewinn, ihre Bemühung um den Markt und gute
Preise stellte man sich um so mehr als einen Kampf vor, als einen Verdrängungs-
prozeß der schlechteren Produzenten durch die besseren: der rücksichtslose, freie, individuelle
Konkurrenzkampf erschien als das einzige Ideal; seine Schranken durch Moral, Sitte und
Recht, die niemals in der Wirklichkeit verschwanden, übersah man in der Theorie.
Malthus hat dann den Kampf der Individuen um den Nahrungsspielraum für die

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

Die einzelnen und die ſocialen Gruppen ſtanden ſo ſtets zugleich zueinander in
einem Verhältnis der Attraktion und der Repulſion, des Friedens und des Streites.
Überall herrſchen zwiſchen denſelben Perſonen und Gruppen heute feindliche, morgen
freundliche Beziehungen; man liebt ſich heute, wirkt zuſammen, fördert ſich, und morgen
haßt und beneidet, bekämpft und vernichtet man ſich. Die zwei Seiten aller Menſchen-
natur konnten nur durch dieſes Doppelſpiel der egoiſtiſchen und der ſympathiſchen
Willensanſtöße entwickelt werden: die Thatkraft konnte nur durch die kraftvolle Selbſt-
behauptung, die geſellſchaftlichen Inſtinkte konnten nur durch Frieden und Streitvermeidung
ausgebildet werden. Und da der Kampf ſelbſt ſtets ein doppelter, ein individueller und
ein kollektiver war, ſo iſt es wohl verſtändlich, wie beides in den verſchiedenſten Kombi-
nationen nebeneinander ſich ausbildete. Der kollektive Kampf war ſtets nur durch die
Gemeinſchaft möglich; innerhalb der Stämme und Völker fanden ſich meiſt und über-
wiegend Menſchen ähnlicher Körper- und Geiſteskräfte zuſammen, die auch ohne heftige
innere Kämpfe eine tüchtige, unter Umſtänden eine durch Variation ſich vervollkommnende
Nachkommenſchaft haben konnten, die jedenfalls nur durch ihr friedliches Zuſammenleben
und Zuſammenwirken die großen Fortſchritte der Sprachbildung, der Ausbildung der
ſympathiſchen Gefühle, der Religion, des Rechtes vollziehen konnten, die nur unter der
Herrſchaft dieſer Friedenseinrichtungen zur Ausbildung der politiſchen Tugenden, des
Patriotismus, der Treue, des Gehorſams kommen konnten. Alle ſtaatliche, zumal alle
kriegeriſche Organiſation und Disciplin konnte nur durch ſtarke Verbote und Ein-
ſchränkungen des individuellen Daſeinskampfes entſtehen, welche gewiß oftmals den
Fähigeren und Stärkeren hinderten, den Schwächeren zu vernichten. Aber das that
nichts; denn die Kinderſterblichkeit, die Krankheiten, der Kampf mit den Tieren und
den fremden Stämmen, die wirtſchaftliche Konkurrenz ſchafften Ausleſe genug. Und nicht
aller menſchliche Fortſchritt beruht doch auf der Ausleſe. Darwin ſelbſt muß geſtehen,
daß die moraliſchen Eigenſchaften, auf denen die Geſellſchaft beruhe, mehr durch Ge-
wohnheit, vernünftige Überlegung, Unterricht und Religion gefördert wurden. Die Lebens-
bedingungen der menſchlichen Geſellſchaft laſſen ſich eben mit denen der Tiere und Pflanzen
nicht ganz direkt paralleliſieren, weder in Beziehung auf die Fortpflanzung und Ver-
erbung, noch in Beziehung auf die Kämpfe der Individuen untereinander, noch in Be-
ziehung auf die der Gruppen und Geſellſchaften. Es waren voreilige Analogieſchlüſſe,
durch welche man ſich der konkreten Unterſuchung der geſellſchaftlichen Verhältniſſe und
der ſpeciellen Natur der in der Geſellſchaft ſich abſpielenden Kämpfe und Kampfſchranken
überhoben glaubte.

Wir haben hier nun die einzelnen Anwendungen der Analogieſchlüſſe nicht erſchöpfend
zu erörtern, wollen nur noch kurz andeuten, welche Rolle der Kampfgedanke in der
Ausbildung der neueren Volkswirtſchaftslehre geſpielt hat, wie er zwar fruchtbar auf
der einen Seite wirkte, auf der anderen aber auch Irrtum erzeugte, weil man meiſt die
richtige Begrenzung des Gedankens nicht ſofort erkannte.

Die Merkantiliſten ſahen in allem Handel, in allen wirtſchaftlichen Beziehungen
der Staaten untereinander weſentlich nur einen Kampf, wobei der eine Teil gewinne,
was der andere verliere; ihre wirtſchaftliche Politik war Kampfpolitik in übertriebener
Weiſe; die Staaten ſollten ſich möglichſt gegenſeitig wehe thun; die Individuen im
Staate ſollten umgekehrt durch alle denkbaren Schranken und polizeilichen Vorſchriften
in freundlichen, förderlichen Kontakt und Tauſchverkehr geſetzt werden. Die liberale
Naturlehre der Volkswirtſchaft, feſtgefügte, wohlgeordnete Staaten vorfindend und von
idealiſtiſchen Harmonievorſtellungen ausgehend, glaubte, die Staaten und Völker könnten
ſich kaum wirtſchaftlich ſchaden, nützten ſich durch freien Verkehr immer; aber die
Individuen, ihren Erwerb und Gewinn, ihre Bemühung um den Markt und gute
Preiſe ſtellte man ſich um ſo mehr als einen Kampf vor, als einen Verdrängungs-
prozeß der ſchlechteren Produzenten durch die beſſeren: der rückſichtsloſe, freie, individuelle
Konkurrenzkampf erſchien als das einzige Ideal; ſeine Schranken durch Moral, Sitte und
Recht, die niemals in der Wirklichkeit verſchwanden, überſah man in der Theorie.
Malthus hat dann den Kampf der Individuen um den Nahrungsſpielraum für die

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[66/0082] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Die einzelnen und die ſocialen Gruppen ſtanden ſo ſtets zugleich zueinander in einem Verhältnis der Attraktion und der Repulſion, des Friedens und des Streites. Überall herrſchen zwiſchen denſelben Perſonen und Gruppen heute feindliche, morgen freundliche Beziehungen; man liebt ſich heute, wirkt zuſammen, fördert ſich, und morgen haßt und beneidet, bekämpft und vernichtet man ſich. Die zwei Seiten aller Menſchen- natur konnten nur durch dieſes Doppelſpiel der egoiſtiſchen und der ſympathiſchen Willensanſtöße entwickelt werden: die Thatkraft konnte nur durch die kraftvolle Selbſt- behauptung, die geſellſchaftlichen Inſtinkte konnten nur durch Frieden und Streitvermeidung ausgebildet werden. Und da der Kampf ſelbſt ſtets ein doppelter, ein individueller und ein kollektiver war, ſo iſt es wohl verſtändlich, wie beides in den verſchiedenſten Kombi- nationen nebeneinander ſich ausbildete. Der kollektive Kampf war ſtets nur durch die Gemeinſchaft möglich; innerhalb der Stämme und Völker fanden ſich meiſt und über- wiegend Menſchen ähnlicher Körper- und Geiſteskräfte zuſammen, die auch ohne heftige innere Kämpfe eine tüchtige, unter Umſtänden eine durch Variation ſich vervollkommnende Nachkommenſchaft haben konnten, die jedenfalls nur durch ihr friedliches Zuſammenleben und Zuſammenwirken die großen Fortſchritte der Sprachbildung, der Ausbildung der ſympathiſchen Gefühle, der Religion, des Rechtes vollziehen konnten, die nur unter der Herrſchaft dieſer Friedenseinrichtungen zur Ausbildung der politiſchen Tugenden, des Patriotismus, der Treue, des Gehorſams kommen konnten. Alle ſtaatliche, zumal alle kriegeriſche Organiſation und Disciplin konnte nur durch ſtarke Verbote und Ein- ſchränkungen des individuellen Daſeinskampfes entſtehen, welche gewiß oftmals den Fähigeren und Stärkeren hinderten, den Schwächeren zu vernichten. Aber das that nichts; denn die Kinderſterblichkeit, die Krankheiten, der Kampf mit den Tieren und den fremden Stämmen, die wirtſchaftliche Konkurrenz ſchafften Ausleſe genug. Und nicht aller menſchliche Fortſchritt beruht doch auf der Ausleſe. Darwin ſelbſt muß geſtehen, daß die moraliſchen Eigenſchaften, auf denen die Geſellſchaft beruhe, mehr durch Ge- wohnheit, vernünftige Überlegung, Unterricht und Religion gefördert wurden. Die Lebens- bedingungen der menſchlichen Geſellſchaft laſſen ſich eben mit denen der Tiere und Pflanzen nicht ganz direkt paralleliſieren, weder in Beziehung auf die Fortpflanzung und Ver- erbung, noch in Beziehung auf die Kämpfe der Individuen untereinander, noch in Be- ziehung auf die der Gruppen und Geſellſchaften. Es waren voreilige Analogieſchlüſſe, durch welche man ſich der konkreten Unterſuchung der geſellſchaftlichen Verhältniſſe und der ſpeciellen Natur der in der Geſellſchaft ſich abſpielenden Kämpfe und Kampfſchranken überhoben glaubte. Wir haben hier nun die einzelnen Anwendungen der Analogieſchlüſſe nicht erſchöpfend zu erörtern, wollen nur noch kurz andeuten, welche Rolle der Kampfgedanke in der Ausbildung der neueren Volkswirtſchaftslehre geſpielt hat, wie er zwar fruchtbar auf der einen Seite wirkte, auf der anderen aber auch Irrtum erzeugte, weil man meiſt die richtige Begrenzung des Gedankens nicht ſofort erkannte. Die Merkantiliſten ſahen in allem Handel, in allen wirtſchaftlichen Beziehungen der Staaten untereinander weſentlich nur einen Kampf, wobei der eine Teil gewinne, was der andere verliere; ihre wirtſchaftliche Politik war Kampfpolitik in übertriebener Weiſe; die Staaten ſollten ſich möglichſt gegenſeitig wehe thun; die Individuen im Staate ſollten umgekehrt durch alle denkbaren Schranken und polizeilichen Vorſchriften in freundlichen, förderlichen Kontakt und Tauſchverkehr geſetzt werden. Die liberale Naturlehre der Volkswirtſchaft, feſtgefügte, wohlgeordnete Staaten vorfindend und von idealiſtiſchen Harmonievorſtellungen ausgehend, glaubte, die Staaten und Völker könnten ſich kaum wirtſchaftlich ſchaden, nützten ſich durch freien Verkehr immer; aber die Individuen, ihren Erwerb und Gewinn, ihre Bemühung um den Markt und gute Preiſe ſtellte man ſich um ſo mehr als einen Kampf vor, als einen Verdrängungs- prozeß der ſchlechteren Produzenten durch die beſſeren: der rückſichtsloſe, freie, individuelle Konkurrenzkampf erſchien als das einzige Ideal; ſeine Schranken durch Moral, Sitte und Recht, die niemals in der Wirklichkeit verſchwanden, überſah man in der Theorie. Malthus hat dann den Kampf der Individuen um den Nahrungsſpielraum für die

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/82>, abgerufen am 22.11.2024.