Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die formale Natur des Rechtes und seine Grenzen. der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt so dem Egoismus und derGemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten sinkender Moral und Sitte freieren Spielraum. Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und schwankend, sie ist unter Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächst; Je vollendeter Sitte und Recht sind, desto mehr stimmen sie mit den sittlichen 28. Die Entstehung der Moral neben und über Sitte und Recht. Die formale Natur des Rechtes und ſeine Grenzen. der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt ſo dem Egoismus und derGemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten ſinkender Moral und Sitte freieren Spielraum. Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und ſchwankend, ſie iſt unter Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächſt; Je vollendeter Sitte und Recht ſind, deſto mehr ſtimmen ſie mit den ſittlichen 28. Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0071" n="55"/><fw place="top" type="header">Die formale Natur des Rechtes und ſeine Grenzen.</fw><lb/> der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt ſo dem Egoismus und der<lb/> Gemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten ſinkender Moral und Sitte<lb/> freieren Spielraum.</p><lb/> <p>Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und ſchwankend, ſie iſt unter<lb/> Umſtänden leicht im Fluß begriffen, oft aber auch äußerſt zähe und konſervativ; ſie<lb/> iſt leicht an jedem Orte, in jedem Stande wieder eine andere; unaufgezeichnet hat ſie<lb/> keinen ſtrengen Exekutor hinter ſich, wie das Recht. Die älteren Preſſionsmittel der Sitte,<lb/> cenſoriſche, kirchliche und ſociale Ächtungen kommen eher ab, werden teilweiſe verboten.<lb/> Die Sitte verliert ſo an Kraft und Erzwingbarkeit in eben dem Maße, als das Recht<lb/> dieſe Eigenſchaften immer mehr gewinnt. Aber dafür greift ſie in alle Gebiete ein, wo<lb/> das Recht mit ſeinem ſchwerfälligen Apparate nicht hindringen kann. Sitte und Recht<lb/> ſind beide Regeln für das äußere Leben; ſie ſtehen beide als ein Äußerliches der Moral<lb/> und der Sittlichkeit als einem Inneren gegenüber. Aber beide haben, wie jene, ihre<lb/> letzten Wurzeln im ſittlichen Urteil und bezwecken beide, wie jene, die gute, die normale<lb/> Ordnung der Geſellſchaft. Sie können aber beide mit der Moral und unter ſich in<lb/> Widerſpruch kommen, weil ſie noch am Alten kleben, während das feinere ſittliche Urteil<lb/> ſchon ein anderes geworden, weil ſie je mit eigenen Organen verſchieden raſch, verſchieden<lb/> konſequent ſich ausbilden. Daher kann die Sitte und das Recht mit den ſittlichen<lb/> Gefühlen und Urteilen einzelner Kreiſe, ja der Beſten eines Volkes zeitweiſe in Wider-<lb/> ſpruch kommen.</p><lb/> <p>Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächſt;<lb/> oft will die kühnſte Reformgeſetzgebung nur erzwingen, was in den Kreiſen einer Elite<lb/> ſchon Sitte geworden. Die deutſchen Genoſſenſchaften waren längſt durch Übung und<lb/> Sitte eingelebt, als ein Geſetz ihnen den Stempel des Rechtes aufdrückte. Aber aus den<lb/> angeführten formellen Gründen kann doch entfernt nicht alle Sitte in Recht umgewandelt<lb/> werden. Daher iſt das Gebiet der Sitte ein unendlich viel umfangreicheres als das<lb/> des Rechtes. Auf die meiſten Gebiete materiellen Handelns erſtreckt ſich ſowohl Sitte<lb/> als Recht: Ehe, Familienleben, Geſchäftsverkehr, Wirtſchaftsorganiſation, Geſelligkeit,<lb/> politiſches Leben haben ihre Sitten und ihr Recht. Aber das Recht ordnet dabei nur<lb/> das Wichtigſte, das für Staat und Geſellſchaft Unentbehrliche, die Sitte erfaßt das<lb/> Ganze aber in loſerer Weiſe. Die Sitte ordnet z. B. alle unſere Kleidung, die des<lb/> Richters, des Geiſtlichen, des Offiziers iſt durch rechtliche Vorſchriften beſtimmt. Die<lb/> Sitte beherrſcht alles Familienleben, aber das Recht beſtimmt, daß der Vater ſeine<lb/> Kinder zur Schule ſchicke, daß die Frau ihm gehorche, daß die Kinder unter beſtimmten<lb/> Bedingungen die alten Eltern ernähren müſſen. Die Sitte entſteht überall von ſelbſt,<lb/> wo eine Regel Bedürfnis iſt, das Recht nur da, wo häufige Streitigkeiten und das<lb/> ſchwierigere Zuſammenwirken vieler zu höheren ſocialen und ſtaatlichen Zwecken eine<lb/> feſtere, klare Regel fordern, wo es lohnt, ſeinen viel ſchwerfälligeren Apparat anzuwenden<lb/> und es iſt daher natürlich, daß alle kleineren, unerheblicheren Vorkommniſſe des indivi-<lb/> duellen Alltagslebens, des geſellſchaftlichen Verkehrs, die meiſten Teile des gewöhnlichen<lb/> wirtſchaftlichen Lebens nur von der Sitte geregelt ſind.</p><lb/> <p>Je vollendeter Sitte und Recht ſind, deſto mehr ſtimmen ſie mit den ſittlichen<lb/> Idealen überein, deſto mehr machen ſie die Forderungen der Gerechtigkeit wahr. Aber<lb/> nie iſt zu vergeſſen, daß ſeiner Natur nach das poſitive Recht ſich dieſem Ziele nur<lb/> langſam nähern, daß es auch entartet, veraltet, gefälſcht ſein kann. Dann gilt das<lb/> Wort des heiligen Auguſtin: <hi rendition="#aq">quid civitates remota justitia quam magna latrocinia</hi>.</p><lb/> <p>28. <hi rendition="#g">Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht</hi>.<lb/> Indem man begann, die in Spruch und Lied, in gereimter und ungereimter Form<lb/> überlieferten ſocialen Normen zu ſammeln, zu vergleichen, zu interpretieren, ergab ſich<lb/> das Bedürfnis, ſie gewiſſen oberſten Vorſtellungen von der Welt, von den Göttern,<lb/> vom Menſchenſchickſal unterzuordnen; die Regeln erſchienen nun als Gebote der Gottheit,<lb/> verbunden durch kosmogoniſche Vorſtellungen, die man erklärte, ausdeutete. Es ergaben<lb/> ſich ſo einheitliche religiöſe Lehrſyſteme, die die erſten Verſuche rationaler Erklärung<lb/> alles Seienden ebenſo enthalten, wie ſie die Lenkung alles Handelns zum Guten bezwecken;<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0071]
Die formale Natur des Rechtes und ſeine Grenzen.
der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt ſo dem Egoismus und der
Gemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten ſinkender Moral und Sitte
freieren Spielraum.
Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und ſchwankend, ſie iſt unter
Umſtänden leicht im Fluß begriffen, oft aber auch äußerſt zähe und konſervativ; ſie
iſt leicht an jedem Orte, in jedem Stande wieder eine andere; unaufgezeichnet hat ſie
keinen ſtrengen Exekutor hinter ſich, wie das Recht. Die älteren Preſſionsmittel der Sitte,
cenſoriſche, kirchliche und ſociale Ächtungen kommen eher ab, werden teilweiſe verboten.
Die Sitte verliert ſo an Kraft und Erzwingbarkeit in eben dem Maße, als das Recht
dieſe Eigenſchaften immer mehr gewinnt. Aber dafür greift ſie in alle Gebiete ein, wo
das Recht mit ſeinem ſchwerfälligen Apparate nicht hindringen kann. Sitte und Recht
ſind beide Regeln für das äußere Leben; ſie ſtehen beide als ein Äußerliches der Moral
und der Sittlichkeit als einem Inneren gegenüber. Aber beide haben, wie jene, ihre
letzten Wurzeln im ſittlichen Urteil und bezwecken beide, wie jene, die gute, die normale
Ordnung der Geſellſchaft. Sie können aber beide mit der Moral und unter ſich in
Widerſpruch kommen, weil ſie noch am Alten kleben, während das feinere ſittliche Urteil
ſchon ein anderes geworden, weil ſie je mit eigenen Organen verſchieden raſch, verſchieden
konſequent ſich ausbilden. Daher kann die Sitte und das Recht mit den ſittlichen
Gefühlen und Urteilen einzelner Kreiſe, ja der Beſten eines Volkes zeitweiſe in Wider-
ſpruch kommen.
Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächſt;
oft will die kühnſte Reformgeſetzgebung nur erzwingen, was in den Kreiſen einer Elite
ſchon Sitte geworden. Die deutſchen Genoſſenſchaften waren längſt durch Übung und
Sitte eingelebt, als ein Geſetz ihnen den Stempel des Rechtes aufdrückte. Aber aus den
angeführten formellen Gründen kann doch entfernt nicht alle Sitte in Recht umgewandelt
werden. Daher iſt das Gebiet der Sitte ein unendlich viel umfangreicheres als das
des Rechtes. Auf die meiſten Gebiete materiellen Handelns erſtreckt ſich ſowohl Sitte
als Recht: Ehe, Familienleben, Geſchäftsverkehr, Wirtſchaftsorganiſation, Geſelligkeit,
politiſches Leben haben ihre Sitten und ihr Recht. Aber das Recht ordnet dabei nur
das Wichtigſte, das für Staat und Geſellſchaft Unentbehrliche, die Sitte erfaßt das
Ganze aber in loſerer Weiſe. Die Sitte ordnet z. B. alle unſere Kleidung, die des
Richters, des Geiſtlichen, des Offiziers iſt durch rechtliche Vorſchriften beſtimmt. Die
Sitte beherrſcht alles Familienleben, aber das Recht beſtimmt, daß der Vater ſeine
Kinder zur Schule ſchicke, daß die Frau ihm gehorche, daß die Kinder unter beſtimmten
Bedingungen die alten Eltern ernähren müſſen. Die Sitte entſteht überall von ſelbſt,
wo eine Regel Bedürfnis iſt, das Recht nur da, wo häufige Streitigkeiten und das
ſchwierigere Zuſammenwirken vieler zu höheren ſocialen und ſtaatlichen Zwecken eine
feſtere, klare Regel fordern, wo es lohnt, ſeinen viel ſchwerfälligeren Apparat anzuwenden
und es iſt daher natürlich, daß alle kleineren, unerheblicheren Vorkommniſſe des indivi-
duellen Alltagslebens, des geſellſchaftlichen Verkehrs, die meiſten Teile des gewöhnlichen
wirtſchaftlichen Lebens nur von der Sitte geregelt ſind.
Je vollendeter Sitte und Recht ſind, deſto mehr ſtimmen ſie mit den ſittlichen
Idealen überein, deſto mehr machen ſie die Forderungen der Gerechtigkeit wahr. Aber
nie iſt zu vergeſſen, daß ſeiner Natur nach das poſitive Recht ſich dieſem Ziele nur
langſam nähern, daß es auch entartet, veraltet, gefälſcht ſein kann. Dann gilt das
Wort des heiligen Auguſtin: quid civitates remota justitia quam magna latrocinia.
28. Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht.
Indem man begann, die in Spruch und Lied, in gereimter und ungereimter Form
überlieferten ſocialen Normen zu ſammeln, zu vergleichen, zu interpretieren, ergab ſich
das Bedürfnis, ſie gewiſſen oberſten Vorſtellungen von der Welt, von den Göttern,
vom Menſchenſchickſal unterzuordnen; die Regeln erſchienen nun als Gebote der Gottheit,
verbunden durch kosmogoniſche Vorſtellungen, die man erklärte, ausdeutete. Es ergaben
ſich ſo einheitliche religiöſe Lehrſyſteme, die die erſten Verſuche rationaler Erklärung
alles Seienden ebenſo enthalten, wie ſie die Lenkung alles Handelns zum Guten bezwecken;
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