Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die Sitte und die Entstehung des Rechtes. Stamme, zuletzt dem Volke und der Menschheit Förderliche erscheint. Aber die erste Er-fassung geschieht unmittelbar mit dem Gefühle und die letzte Ursache der Entstehung ist immer das sittliche Urteil, ein psychologischer, einem gewissen Kreise gemeinsamer Vorgang. Die Sitte ist die grundlegende äußere Lebensordnung der menschlichen Gesellschaft, Die Sitte ist nicht das Sittliche, aber sie ist der äußere und gesellschaftliche Anfang 26. Die Entstehung des Rechtes und seine ältere Verbindung mit Alles Recht erwächst aus der Sitte; wo es entsteht, giebt es bereits Regeln und 4*
Die Sitte und die Entſtehung des Rechtes. Stamme, zuletzt dem Volke und der Menſchheit Förderliche erſcheint. Aber die erſte Er-faſſung geſchieht unmittelbar mit dem Gefühle und die letzte Urſache der Entſtehung iſt immer das ſittliche Urteil, ein pſychologiſcher, einem gewiſſen Kreiſe gemeinſamer Vorgang. Die Sitte iſt die grundlegende äußere Lebensordnung der menſchlichen Geſellſchaft, Die Sitte iſt nicht das Sittliche, aber ſie iſt der äußere und geſellſchaftliche Anfang 26. Die Entſtehung des Rechtes und ſeine ältere Verbindung mit Alles Recht erwächſt aus der Sitte; wo es entſteht, giebt es bereits Regeln und 4*
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Wir ſahen ſchon bei<lb/> der Beſprechung der Bedürfniſſe, wie ihre ganze Entwickelung auf der Sitte ruht; dem-<lb/> entſprechend iſt alle Unterſuchung der Nachfrage eine Unterſuchung von Sitten und<lb/> Konſumtionsgewohnheiten. Die Geſtaltung der Hauswirtſchaft iſt durch die Sitte<lb/> beherrſcht; alle Arbeitsteilung kann nur an der Hand beſtimmter Sitten zur Ausführung<lb/> kommen. Alle Unternehmungsformen vom Handwerk bis zum Großbetrieb, der Aktien-<lb/> geſellſchaft, dem Kartell ruhen auf Gewohnheiten und Sitten; aller Handel und Markt-<lb/> verkehr, Geld und Kredit ſind ein Ergebnis langſam ſich bildender Sitten. Jede volks-<lb/> wirtſchaftliche und ſociale Beſchreibung iſt ein Stück Sittengeſchichte. Die großen Fragen<lb/> der ſocialen und wirtſchaftlichen Reform hängen mit der Möglichkeit und Schwierigkeit<lb/> der Umbildung der Sitten zuſammen. Alles neue Recht iſt in ſeinem Erfolge davon<lb/> abhängig, wie es zu den beſtehenden Sitten, ihrer Zähigkeit oder Bildſamkeit paßt.<lb/> Wer das wirtſchaftliche Leben ohne die Sitte begreifen, nur materiell, techniſch, zahlen-<lb/> mäßig faſſen will, wird immer leicht irren, er ergreift von dem wirtſchaftlichen Vorgang<lb/> eben das nicht, was ihm Farbe und beſtimmtes Geſicht giebt. Wie z. B. beim Arbeits-<lb/> verhältnis unter Umſtänden eine kleine Erhöhung oder Erniedrigung des Lohnes nicht<lb/> ſo bedeutſam iſt als die Sitte, wie, wo, wann, mit welchem Gelde gezahlt wird.</p><lb/> <p>Die Sitte iſt nicht das Sittliche, aber ſie iſt der äußere und geſellſchaftliche Anfang<lb/> desſelben; ſie iſt und bleibt eine Offenbarung deſſen, was den Menſchen über das Tier<lb/> erhebt; ſie iſt aus dem geiſtig-ſittlichen Schatze des Volkes geboren; ſie ſtellt dem ein-<lb/> zelnen eine äußere Norm des Guten, des Schicklichen, des Wohlanſtändigen vor Augen,<lb/> ſie bändigt die Willkür, den Egoismus; ſie ſetzt den ungezügelten Reizen der momentanen<lb/> Luſt feſte Schranken, ſie ſchlingt ein gemeinſames äußeres Band um die Stammesgenoſſen<lb/> und um die wechſelnden Geſchlechter, ſie verknüpft die abrollenden Geſchicke des materiellen<lb/> Lebens durch ihre Formen zu einem höheren geiſtigen Ganzen. Sie baut in die natür-<lb/> liche Welt die Welt der Konvention, aber auch die der Kultur hinein. Jede Sitte iſt<lb/> hiſtoriſch geworden, kann zur Unſitte werden; aber ſie iſt in ihren geſamten Äußerungen<lb/> ein weſentlicher Gradmeſſer der geiſtigen und moraliſchen Kultur. In den Anfängen<lb/> des geſellſchaftlichen Lebens iſt es die Sitte, die vor Entſtehung einer ſtaatlichen Gewalt<lb/> und eines geordneten Strafrechts den Frieden aufrecht erhält, die rohen Ausbrüche der<lb/> Leidenſchaft zurückhält und ſühnt.</p><lb/> <p>26. <hi rendition="#g">Die Entſtehung des Rechtes und ſeine ältere Verbindung mit<lb/> der Sitte</hi>. In dem Maße, als die Stämme etwas größer werden, als Ungleichheit<lb/> des Berufes, des Beſitzes und Ranges eintritt, als eine Häuptlingsariſtokratie ſich bildet,<lb/> die patriarchaliſche Familienverfaſſung einzelne weit über die anderen emporhebt, fängt<lb/> die bloße Sitte an, nicht mehr auszureichen, um den Frieden in der Geſellſchaft aufrecht<lb/> zu erhalten. Die Macht einzelner wird zur Gewalt und Gewaltthat; der Verletzte kann<lb/> ſich nur helfen, indem er der Macht des Gegners eine größere entgegenſtellt, indem er<lb/> die Angeſehenen, die Häuptlinge zu Schiedsrichtern, oder indem er den ganzen Stamm<lb/> zu ſeiner Hülfe herbeiruft. Und indem dieſe beiden Elemente beginnen, die Ausführung<lb/> der geſellſchaftlichen Regeln in ihre Hand zu nehmen, wird das Recht geboren.</p><lb/> <p>Alles Recht erwächſt aus der Sitte; wo es entſteht, giebt es bereits Regeln und<lb/> den Glauben an eine ſittliche Regelung; aber ſie iſt vom Streit bedroht; die ver-<lb/> ſchiedenen Intereſſen ſind aufeinander geplatzt oder drohen, ſich nicht der Regel zu fügen.<lb/> Die vom Streit Geſchädigten, die Verletzten, oft einzelne, oft wachſende Teile des ganzen<lb/> Stammes, ſuchen eine überlegene Gewalt zu ſchaffen, eine vorhandene zu veranlaſſen, daß<lb/> ſie zwangsweiſe ausführe, was den Frieden ſichert, was im Geſamtintereſſe unerläßlich<lb/> iſt. Vollends dauernde Kämpfe gegen andere Stämme ſind nur durchzuführen, wenn<lb/> <fw place="bottom" type="sig">4*</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [51/0067]
Die Sitte und die Entſtehung des Rechtes.
Stamme, zuletzt dem Volke und der Menſchheit Förderliche erſcheint. Aber die erſte Er-
faſſung geſchieht unmittelbar mit dem Gefühle und die letzte Urſache der Entſtehung iſt
immer das ſittliche Urteil, ein pſychologiſcher, einem gewiſſen Kreiſe gemeinſamer Vorgang.
Die Sitte iſt die grundlegende äußere Lebensordnung der menſchlichen Geſellſchaft,
ſie erſtreckt ſich auf alle äußeren Lebensgebiete, vor allem auch auf das wirtſchaft-
liche. Es iſt deshalb angezeigt, gleich hier auf die auch für alle ſpätere Zeit ähnlich
bleibende volkswirtſchaftliche Bedeutung der Sitte hinzuweiſen. Wir ſahen ſchon bei
der Beſprechung der Bedürfniſſe, wie ihre ganze Entwickelung auf der Sitte ruht; dem-
entſprechend iſt alle Unterſuchung der Nachfrage eine Unterſuchung von Sitten und
Konſumtionsgewohnheiten. Die Geſtaltung der Hauswirtſchaft iſt durch die Sitte
beherrſcht; alle Arbeitsteilung kann nur an der Hand beſtimmter Sitten zur Ausführung
kommen. Alle Unternehmungsformen vom Handwerk bis zum Großbetrieb, der Aktien-
geſellſchaft, dem Kartell ruhen auf Gewohnheiten und Sitten; aller Handel und Markt-
verkehr, Geld und Kredit ſind ein Ergebnis langſam ſich bildender Sitten. Jede volks-
wirtſchaftliche und ſociale Beſchreibung iſt ein Stück Sittengeſchichte. Die großen Fragen
der ſocialen und wirtſchaftlichen Reform hängen mit der Möglichkeit und Schwierigkeit
der Umbildung der Sitten zuſammen. Alles neue Recht iſt in ſeinem Erfolge davon
abhängig, wie es zu den beſtehenden Sitten, ihrer Zähigkeit oder Bildſamkeit paßt.
Wer das wirtſchaftliche Leben ohne die Sitte begreifen, nur materiell, techniſch, zahlen-
mäßig faſſen will, wird immer leicht irren, er ergreift von dem wirtſchaftlichen Vorgang
eben das nicht, was ihm Farbe und beſtimmtes Geſicht giebt. Wie z. B. beim Arbeits-
verhältnis unter Umſtänden eine kleine Erhöhung oder Erniedrigung des Lohnes nicht
ſo bedeutſam iſt als die Sitte, wie, wo, wann, mit welchem Gelde gezahlt wird.
Die Sitte iſt nicht das Sittliche, aber ſie iſt der äußere und geſellſchaftliche Anfang
desſelben; ſie iſt und bleibt eine Offenbarung deſſen, was den Menſchen über das Tier
erhebt; ſie iſt aus dem geiſtig-ſittlichen Schatze des Volkes geboren; ſie ſtellt dem ein-
zelnen eine äußere Norm des Guten, des Schicklichen, des Wohlanſtändigen vor Augen,
ſie bändigt die Willkür, den Egoismus; ſie ſetzt den ungezügelten Reizen der momentanen
Luſt feſte Schranken, ſie ſchlingt ein gemeinſames äußeres Band um die Stammesgenoſſen
und um die wechſelnden Geſchlechter, ſie verknüpft die abrollenden Geſchicke des materiellen
Lebens durch ihre Formen zu einem höheren geiſtigen Ganzen. Sie baut in die natür-
liche Welt die Welt der Konvention, aber auch die der Kultur hinein. Jede Sitte iſt
hiſtoriſch geworden, kann zur Unſitte werden; aber ſie iſt in ihren geſamten Äußerungen
ein weſentlicher Gradmeſſer der geiſtigen und moraliſchen Kultur. In den Anfängen
des geſellſchaftlichen Lebens iſt es die Sitte, die vor Entſtehung einer ſtaatlichen Gewalt
und eines geordneten Strafrechts den Frieden aufrecht erhält, die rohen Ausbrüche der
Leidenſchaft zurückhält und ſühnt.
26. Die Entſtehung des Rechtes und ſeine ältere Verbindung mit
der Sitte. In dem Maße, als die Stämme etwas größer werden, als Ungleichheit
des Berufes, des Beſitzes und Ranges eintritt, als eine Häuptlingsariſtokratie ſich bildet,
die patriarchaliſche Familienverfaſſung einzelne weit über die anderen emporhebt, fängt
die bloße Sitte an, nicht mehr auszureichen, um den Frieden in der Geſellſchaft aufrecht
zu erhalten. Die Macht einzelner wird zur Gewalt und Gewaltthat; der Verletzte kann
ſich nur helfen, indem er der Macht des Gegners eine größere entgegenſtellt, indem er
die Angeſehenen, die Häuptlinge zu Schiedsrichtern, oder indem er den ganzen Stamm
zu ſeiner Hülfe herbeiruft. Und indem dieſe beiden Elemente beginnen, die Ausführung
der geſellſchaftlichen Regeln in ihre Hand zu nehmen, wird das Recht geboren.
Alles Recht erwächſt aus der Sitte; wo es entſteht, giebt es bereits Regeln und
den Glauben an eine ſittliche Regelung; aber ſie iſt vom Streit bedroht; die ver-
ſchiedenen Intereſſen ſind aufeinander geplatzt oder drohen, ſich nicht der Regel zu fügen.
Die vom Streit Geſchädigten, die Verletzten, oft einzelne, oft wachſende Teile des ganzen
Stammes, ſuchen eine überlegene Gewalt zu ſchaffen, eine vorhandene zu veranlaſſen, daß
ſie zwangsweiſe ausführe, was den Frieden ſichert, was im Geſamtintereſſe unerläßlich
iſt. Vollends dauernde Kämpfe gegen andere Stämme ſind nur durchzuführen, wenn
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