Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ein hinzukommendes geistig-sittliches, formendes, auf ihren Zusammenhang mit dem übrigen Leben hindeutendes Element.
Die Gegenstände, welche die ältere Sitte formt, umfassen das ganze äußere Leben, aber auch nur dieses, niemals zunächst die Gesinnung. Die Nahrung, die Kleidung, die Wohnung, das Zusammenleben und der Verkehr der Menschen sind überall die Haupt- objekte der Sitte. Aus Hunger und Instinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung findet; das Essen zu fest bestimmter Zeit, in bestimmter Form wird durch die Sitte geschaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Menschen, sich zu bemalen, zu schmücken; daraus geht der Kriegsschmuck, die Kleidung als Sitte hervor. Die Begattung erfolgt aus tierischem Antriebe; die Sitte schafft feste Regeln für dieselbe. Geburt und Tod sind natürliche Ereignisse, die Teilnahme der Familie und Freunde, die Rücksicht auf abgeschiedene Ahnen und auf die Götter schafft feierliche Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten- und Opfermahle, die Leichenbegängnisse, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereignisse in ihrer Bedeutung gewürdigt werden sollen. Aus Bedürfnis tauscht der eine Stamm einzelne Waffen und Schmuckgegenstände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch die feste Anordnung einer gefriedeten Malstatt, wo zu bestimmter Zeit die Tauschenden zusammenkommen.
Mag die religiöse Färbung der meisten älteren Sitten, die Verbindung fast aller regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran schuld sein, oder der Umstand, daß der Mensch an sich den geistigen Stempel, den er einer Handlung giebt, höher stellt als ihren materiellen Inhalt, so viel ist sicher, daß diese Formen, an die sich eine Gesellschaft gewöhnt hat, teilweise ein zäheres konservativeres Leben haben als ihr Inhalt selbst. Das heranwachsende Geschlecht findet die Sitte als ein Überliefertes vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußtseins an als heilig betrachtet. An herkömmlich bestimmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der Götter. Die Sitte wird zur unbeugsamsten, überwältigenden Macht. Mit der zähesten Ängstlichkeit hält das Gemüt oft an ihr fest, auch wenn die materielle Handlung, die in der Sitte steckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke schieben sich unter, die Form sucht sich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen- schmäuse, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu- trinkens. In fast aller Sitte stecken so Nachklänge von Jahrtausenden; es sind oftmals Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und gesellschaftlichen Verhält- nissen entstanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten.
Die einzelne Form der Sitte ist so immer schwer kulturgeschichtlich zu erklären; sie ist ein kompliziertes Ergebnis, zu dem sich sehr verschiedene Vorstellungsreihen und Ursachen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfnisse und Zwecke, uralte Formeln, religiöser Wahn, schiefe Vorstellungen und richtige Kausal- erkenntnis in Bezug auf individuellen und socialen Nutzen wirken zusammen. Die Sitte der Kleidung ist ursprünglich zu einer Zeit, wo der Mensch nicht bemerkte, daß er nackt sei, und wo die Nacktheit noch keine Summe sexueller Vorstellungen und Erinnerungen aufreizen konnte, entstanden aus der Neigung, sich zu schmücken, sich durch Schmuck aus- zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei welchen es Sitte ist, daß der Mann sich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits- teilung und sociale Klassenbildung haben später, wie die Kälte und die Bewaffnungs- zwecke, in die Entwickelung dieser Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten ist die Bekleidung dann allgemein als ein sociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel der sexualen Prophylaxe und der socialen Anweisung, dem Trauernden richtig zu begegnen wie dem Festgeschmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an seine Stellung zu erinnern, dem Geistlichen und Richter seine Wirksamkeit auf andere durch die Amts- tracht zu erleichtern. Nur ein unhistorischer Rationalismus kann deshalb ausschließlich alle Sitte auf Überlegungen des gesellschaftlichen Nutzens zurückführen.
Dieser hat freilich überall instinktiv oder klar erkannt mitgespielt. Dasjenige wird Sitte, was den Menschen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, später dem
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ein hinzukommendes geiſtig-ſittliches, formendes, auf ihren Zuſammenhang mit dem übrigen Leben hindeutendes Element.
Die Gegenſtände, welche die ältere Sitte formt, umfaſſen das ganze äußere Leben, aber auch nur dieſes, niemals zunächſt die Geſinnung. Die Nahrung, die Kleidung, die Wohnung, das Zuſammenleben und der Verkehr der Menſchen ſind überall die Haupt- objekte der Sitte. Aus Hunger und Inſtinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung findet; das Eſſen zu feſt beſtimmter Zeit, in beſtimmter Form wird durch die Sitte geſchaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Menſchen, ſich zu bemalen, zu ſchmücken; daraus geht der Kriegsſchmuck, die Kleidung als Sitte hervor. Die Begattung erfolgt aus tieriſchem Antriebe; die Sitte ſchafft feſte Regeln für dieſelbe. Geburt und Tod ſind natürliche Ereigniſſe, die Teilnahme der Familie und Freunde, die Rückſicht auf abgeſchiedene Ahnen und auf die Götter ſchafft feierliche Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten- und Opfermahle, die Leichenbegängniſſe, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereigniſſe in ihrer Bedeutung gewürdigt werden ſollen. Aus Bedürfnis tauſcht der eine Stamm einzelne Waffen und Schmuckgegenſtände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch die feſte Anordnung einer gefriedeten Malſtatt, wo zu beſtimmter Zeit die Tauſchenden zuſammenkommen.
Mag die religiöſe Färbung der meiſten älteren Sitten, die Verbindung faſt aller regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran ſchuld ſein, oder der Umſtand, daß der Menſch an ſich den geiſtigen Stempel, den er einer Handlung giebt, höher ſtellt als ihren materiellen Inhalt, ſo viel iſt ſicher, daß dieſe Formen, an die ſich eine Geſellſchaft gewöhnt hat, teilweiſe ein zäheres konſervativeres Leben haben als ihr Inhalt ſelbſt. Das heranwachſende Geſchlecht findet die Sitte als ein Überliefertes vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußtſeins an als heilig betrachtet. An herkömmlich beſtimmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der Götter. Die Sitte wird zur unbeugſamſten, überwältigenden Macht. Mit der zäheſten Ängſtlichkeit hält das Gemüt oft an ihr feſt, auch wenn die materielle Handlung, die in der Sitte ſteckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke ſchieben ſich unter, die Form ſucht ſich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen- ſchmäuſe, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu- trinkens. In faſt aller Sitte ſtecken ſo Nachklänge von Jahrtauſenden; es ſind oftmals Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und geſellſchaftlichen Verhält- niſſen entſtanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten.
Die einzelne Form der Sitte iſt ſo immer ſchwer kulturgeſchichtlich zu erklären; ſie iſt ein kompliziertes Ergebnis, zu dem ſich ſehr verſchiedene Vorſtellungsreihen und Urſachen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfniſſe und Zwecke, uralte Formeln, religiöſer Wahn, ſchiefe Vorſtellungen und richtige Kauſal- erkenntnis in Bezug auf individuellen und ſocialen Nutzen wirken zuſammen. Die Sitte der Kleidung iſt urſprünglich zu einer Zeit, wo der Menſch nicht bemerkte, daß er nackt ſei, und wo die Nacktheit noch keine Summe ſexueller Vorſtellungen und Erinnerungen aufreizen konnte, entſtanden aus der Neigung, ſich zu ſchmücken, ſich durch Schmuck aus- zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei welchen es Sitte iſt, daß der Mann ſich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits- teilung und ſociale Klaſſenbildung haben ſpäter, wie die Kälte und die Bewaffnungs- zwecke, in die Entwickelung dieſer Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten iſt die Bekleidung dann allgemein als ein ſociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel der ſexualen Prophylaxe und der ſocialen Anweiſung, dem Trauernden richtig zu begegnen wie dem Feſtgeſchmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an ſeine Stellung zu erinnern, dem Geiſtlichen und Richter ſeine Wirkſamkeit auf andere durch die Amts- tracht zu erleichtern. Nur ein unhiſtoriſcher Rationalismus kann deshalb ausſchließlich alle Sitte auf Überlegungen des geſellſchaftlichen Nutzens zurückführen.
Dieſer hat freilich überall inſtinktiv oder klar erkannt mitgeſpielt. Dasjenige wird Sitte, was den Menſchen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, ſpäter dem
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[50/0066]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ein hinzukommendes geiſtig-ſittliches, formendes, auf ihren Zuſammenhang mit dem
übrigen Leben hindeutendes Element.
Die Gegenſtände, welche die ältere Sitte formt, umfaſſen das ganze äußere Leben,
aber auch nur dieſes, niemals zunächſt die Geſinnung. Die Nahrung, die Kleidung,
die Wohnung, das Zuſammenleben und der Verkehr der Menſchen ſind überall die Haupt-
objekte der Sitte. Aus Hunger und Inſtinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung
findet; das Eſſen zu feſt beſtimmter Zeit, in beſtimmter Form wird durch die Sitte
geſchaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Menſchen,
ſich zu bemalen, zu ſchmücken; daraus geht der Kriegsſchmuck, die Kleidung als Sitte
hervor. Die Begattung erfolgt aus tieriſchem Antriebe; die Sitte ſchafft feſte Regeln
für dieſelbe. Geburt und Tod ſind natürliche Ereigniſſe, die Teilnahme der Familie
und Freunde, die Rückſicht auf abgeſchiedene Ahnen und auf die Götter ſchafft feierliche
Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten- und
Opfermahle, die Leichenbegängniſſe, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereigniſſe
in ihrer Bedeutung gewürdigt werden ſollen. Aus Bedürfnis tauſcht der eine Stamm
einzelne Waffen und Schmuckgegenſtände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch
die feſte Anordnung einer gefriedeten Malſtatt, wo zu beſtimmter Zeit die Tauſchenden
zuſammenkommen.
Mag die religiöſe Färbung der meiſten älteren Sitten, die Verbindung faſt aller
regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran ſchuld ſein, oder der
Umſtand, daß der Menſch an ſich den geiſtigen Stempel, den er einer Handlung giebt,
höher ſtellt als ihren materiellen Inhalt, ſo viel iſt ſicher, daß dieſe Formen, an die
ſich eine Geſellſchaft gewöhnt hat, teilweiſe ein zäheres konſervativeres Leben haben als
ihr Inhalt ſelbſt. Das heranwachſende Geſchlecht findet die Sitte als ein Überliefertes
vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußtſeins an als heilig betrachtet.
An herkömmlich beſtimmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der
Götter. Die Sitte wird zur unbeugſamſten, überwältigenden Macht. Mit der zäheſten
Ängſtlichkeit hält das Gemüt oft an ihr feſt, auch wenn die materielle Handlung, die
in der Sitte ſteckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke ſchieben ſich unter,
die Form ſucht ſich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen-
ſchmäuſe, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu-
trinkens. In faſt aller Sitte ſtecken ſo Nachklänge von Jahrtauſenden; es ſind oftmals
Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und geſellſchaftlichen Verhält-
niſſen entſtanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten.
Die einzelne Form der Sitte iſt ſo immer ſchwer kulturgeſchichtlich zu erklären;
ſie iſt ein kompliziertes Ergebnis, zu dem ſich ſehr verſchiedene Vorſtellungsreihen
und Urſachen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfniſſe und
Zwecke, uralte Formeln, religiöſer Wahn, ſchiefe Vorſtellungen und richtige Kauſal-
erkenntnis in Bezug auf individuellen und ſocialen Nutzen wirken zuſammen. Die Sitte
der Kleidung iſt urſprünglich zu einer Zeit, wo der Menſch nicht bemerkte, daß er nackt
ſei, und wo die Nacktheit noch keine Summe ſexueller Vorſtellungen und Erinnerungen
aufreizen konnte, entſtanden aus der Neigung, ſich zu ſchmücken, ſich durch Schmuck aus-
zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei
welchen es Sitte iſt, daß der Mann ſich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits-
teilung und ſociale Klaſſenbildung haben ſpäter, wie die Kälte und die Bewaffnungs-
zwecke, in die Entwickelung dieſer Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten iſt die
Bekleidung dann allgemein als ein ſociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel
der ſexualen Prophylaxe und der ſocialen Anweiſung, dem Trauernden richtig zu begegnen
wie dem Feſtgeſchmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an ſeine Stellung
zu erinnern, dem Geiſtlichen und Richter ſeine Wirkſamkeit auf andere durch die Amts-
tracht zu erleichtern. Nur ein unhiſtoriſcher Rationalismus kann deshalb ausſchließlich
alle Sitte auf Überlegungen des geſellſchaftlichen Nutzens zurückführen.
Dieſer hat freilich überall inſtinktiv oder klar erkannt mitgeſpielt. Dasjenige wird
Sitte, was den Menſchen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, ſpäter dem
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/66>, abgerufen am 16.02.2025.
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