Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die Sitte, ihre Entstehung, ihr Wesen. schwierigen Entscheidung nicht fähig wäre. Indem die Regel, welche Sitte und Recht,königliche oder priesterliche Macht aufgestellt hat, sagt, das sollst du thun und jenes lassen, greift in das unfertige Werden und Drängen der Triebe, in den Kampf der Leiden- schaften und Instinkte doch überhaupt eine ordnende sittliche Gewalt ein; die Gewöhnung, ihr sich zu beugen, ist an sich eines der wesentlichsten Mittel der Erziehung. Das Entstehen dieser Regeln, welche alles gesellschaftliche, auch alles wirtschaftliche 25. Die Entstehung und Bedeutung der Sitte. "Es giebt", sagt Lubbock, Die Gewohnheit entsteht mit und durch die Gesellschaft; aber sie zeigt sich auch Es wird zur Sitte durch die gemeinsamen Vorstellungen und Gefühle mehrerer, Jede Sitte giebt irgend einer sich wiederholenden Handlung ein bestimmtes, stets Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 4
Die Sitte, ihre Entſtehung, ihr Weſen. ſchwierigen Entſcheidung nicht fähig wäre. Indem die Regel, welche Sitte und Recht,königliche oder prieſterliche Macht aufgeſtellt hat, ſagt, das ſollſt du thun und jenes laſſen, greift in das unfertige Werden und Drängen der Triebe, in den Kampf der Leiden- ſchaften und Inſtinkte doch überhaupt eine ordnende ſittliche Gewalt ein; die Gewöhnung, ihr ſich zu beugen, iſt an ſich eines der weſentlichſten Mittel der Erziehung. Das Entſtehen dieſer Regeln, welche alles geſellſchaftliche, auch alles wirtſchaftliche 25. Die Entſtehung und Bedeutung der Sitte. „Es giebt“, ſagt Lubbock, Die Gewohnheit entſteht mit und durch die Geſellſchaft; aber ſie zeigt ſich auch Es wird zur Sitte durch die gemeinſamen Vorſtellungen und Gefühle mehrerer, Jede Sitte giebt irgend einer ſich wiederholenden Handlung ein beſtimmtes, ſtets Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 4
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Wir haben zu zeigen,<lb/> wie ſie in der älteſten Zeit als einheitliche Sitte entſtehen und ſpäter ſich ſpalten in<lb/> Recht, Sitte und Moral, welche Folgen dieſe Spaltung hat.</p><lb/> <p>25. <hi rendition="#g">Die Entſtehung und Bedeutung der Sitte</hi>. „Es giebt“, ſagt Lubbock,<lb/> „keinen größeren Irrtum, als den Wilden den Vorzug einer größeren perſönlichen Freiheit<lb/> zuzuſchreiben; jede ihrer Lebensäußerungen wird durch zahlloſe Regeln beſchränkt, die<lb/> freilich ungeſchrieben, aber darum nicht minder bedeutend ſind.“ Lange ehe es einen<lb/> eigentlichen Staat, ein Gerichtsverfahren, ein ausgebildetes Recht giebt, beherrſchen feſte<lb/> Normen, welche vielfach in rhythmiſcher Rede überliefert, durch Ceremonien und Symbole<lb/> aller Art in ihrer Ausübung geſichert ſind, alles äußere Leben der primitiven Stämme.<lb/> Es handelt ſich um die Sitte und die Gewohnheiten, die aus den geiſtigen Kollektivkräften<lb/> hervorgehen. Alles bei einer Geſamtheit von Menſchen Geübte, Gewohnte, Gebräuchliche,<lb/> das nicht als eine Äußerung der Naturtriebe ſich darſtellt, und andererſeits von der<lb/> Willkür der einzelnen unabhängig als gut und ſchicklich, als angemeſſen, als würdig<lb/> angenommen wird, ſagt Lazarus, bezeichnen wir als Sitte. Die Gewohnheit, ſagt<lb/> Marheineke, iſt eine zweite durch den Geiſt geſetzte Natur. Die gemeinſame Gewohnheit<lb/> mehrerer, die als Verpflichtung gefühlt wird, die übertreten, verletzt werden kann, wird<lb/> zur Sitte.</p><lb/> <p>Die Gewohnheit entſteht mit und durch die Geſellſchaft; aber ſie zeigt ſich auch<lb/> ſchon im Leben des einzelnen, muß ſchon hier ſich bilden. Sie ergiebt ſich aus der<lb/> Wiederkehr des Gleichen im menſchlichen Leben. Ohne Wiederkehr eines Gleichen gäbe<lb/> es keine Erinnerung, keine Erkenntnis, kein Vergleichen und Unterſcheiden. Der Kreislauf<lb/> des tieriſchen Daſeins, Wachen und Schlafen, periodiſches Eſſen, Arbeit und Erholung,<lb/> dann der Kreislauf der Natur, Sommer und Winter, der Auf- und Niedergang von<lb/> Sonne, Mond und Sternen prägen allem menſchlichen Leben den Stempel ewiger Wieder-<lb/> holung des Gleichen auf. Das Kind ſchon, das täglich zu gleicher Zeit ſeine Milch<lb/> erhält, verlangt ſtürmiſch die Einhaltung der Regel, wie die gemeinſamen Mahlzeiten<lb/> den Ausgangspunkt für eine regelmäßige Zeiteinteilung des Tages bildeten. Auch die<lb/> höheren Tiere haben ihre Inſtinkte unter demſelben Drucke der ſich gleichmäßig wieder-<lb/> holenden Bedürfniſſe zu feſten Gewohnheiten ausgebildet, wie die Bienen im Bienenſtaat.<lb/> Bei dem Menſchen kommt hinzu, daß es ſein Denkgeſetz und ſeinen Ordnungsſinn<lb/> befriedigt, wenn im gleichen Falle gleich gehandelt wird. Aus dem Wirrwarr der Reize<lb/> und Triebe, der Einfälle und Leidenſchaften entwickelt ſo ſtets Erfahrung und Erinnerung<lb/> gewohnheitsmäßiges gleiches Handeln.</p><lb/> <p>Es wird zur Sitte durch die gemeinſamen Vorſtellungen und Gefühle mehrerer,<lb/> durch die gemeinſamen ſittlichen Urteile und Erinnerungen; aus gleicher Lage entſpringen<lb/> gleiche Willensanläufe und Handlungen, gleiche Ceremonien, gleiche Formen des Handelns.<lb/> Das ſittliche Urteil ſagt, dieſe beſtimmte Form ſei die zu billigende. Es entſteht daraus<lb/> das Gefühl der Verpflichtung, das ſofort durch Mißachtung der Genoſſen, Strafe, religiöſe<lb/> Furcht verſtärkt wird. Die Formen des religiöſen Kultus waren überall die wichtigſte<lb/> Veranlaſſung zur Entſtehung feſter Sitten überhaupt.</p><lb/> <p>Jede Sitte giebt irgend einer ſich wiederholenden Handlung ein beſtimmtes, ſtets<lb/> wieder erkennbares Gepräge. Von den einfachen Bewegungen des Körpers bis zu den<lb/> verwickeltſten Lebenseinrichtungen ſucht der Menſch an die Stelle des natürlichen Ablaufes<lb/> der Ereigniſſe eine ceremoniöſe Ordnung zu ſetzen, mit dem Anſpruch, daß nur das ſo<lb/> Gethane richtig geſchehen ſei. Alle menſchlichen Handlungen werden ſo geſtempelt, in<lb/> konventionelle Form umgeprägt. Sie erhalten zu ihrem natürlichen materiellen Inhalt<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. <hi rendition="#aq">I.</hi> 4</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [49/0065]
Die Sitte, ihre Entſtehung, ihr Weſen.
ſchwierigen Entſcheidung nicht fähig wäre. Indem die Regel, welche Sitte und Recht,
königliche oder prieſterliche Macht aufgeſtellt hat, ſagt, das ſollſt du thun und jenes laſſen,
greift in das unfertige Werden und Drängen der Triebe, in den Kampf der Leiden-
ſchaften und Inſtinkte doch überhaupt eine ordnende ſittliche Gewalt ein; die Gewöhnung,
ihr ſich zu beugen, iſt an ſich eines der weſentlichſten Mittel der Erziehung.
Das Entſtehen dieſer Regeln, welche alles geſellſchaftliche, auch alles wirtſchaftliche
Leben beherrſchen, welche in der Art ihrer formalen Geſtaltung zugleich weſentlich die
Epochen dieſes Lebens beſtimmen, haben wir nun darzuſtellen. Wir haben zu zeigen,
wie ſie in der älteſten Zeit als einheitliche Sitte entſtehen und ſpäter ſich ſpalten in
Recht, Sitte und Moral, welche Folgen dieſe Spaltung hat.
25. Die Entſtehung und Bedeutung der Sitte. „Es giebt“, ſagt Lubbock,
„keinen größeren Irrtum, als den Wilden den Vorzug einer größeren perſönlichen Freiheit
zuzuſchreiben; jede ihrer Lebensäußerungen wird durch zahlloſe Regeln beſchränkt, die
freilich ungeſchrieben, aber darum nicht minder bedeutend ſind.“ Lange ehe es einen
eigentlichen Staat, ein Gerichtsverfahren, ein ausgebildetes Recht giebt, beherrſchen feſte
Normen, welche vielfach in rhythmiſcher Rede überliefert, durch Ceremonien und Symbole
aller Art in ihrer Ausübung geſichert ſind, alles äußere Leben der primitiven Stämme.
Es handelt ſich um die Sitte und die Gewohnheiten, die aus den geiſtigen Kollektivkräften
hervorgehen. Alles bei einer Geſamtheit von Menſchen Geübte, Gewohnte, Gebräuchliche,
das nicht als eine Äußerung der Naturtriebe ſich darſtellt, und andererſeits von der
Willkür der einzelnen unabhängig als gut und ſchicklich, als angemeſſen, als würdig
angenommen wird, ſagt Lazarus, bezeichnen wir als Sitte. Die Gewohnheit, ſagt
Marheineke, iſt eine zweite durch den Geiſt geſetzte Natur. Die gemeinſame Gewohnheit
mehrerer, die als Verpflichtung gefühlt wird, die übertreten, verletzt werden kann, wird
zur Sitte.
Die Gewohnheit entſteht mit und durch die Geſellſchaft; aber ſie zeigt ſich auch
ſchon im Leben des einzelnen, muß ſchon hier ſich bilden. Sie ergiebt ſich aus der
Wiederkehr des Gleichen im menſchlichen Leben. Ohne Wiederkehr eines Gleichen gäbe
es keine Erinnerung, keine Erkenntnis, kein Vergleichen und Unterſcheiden. Der Kreislauf
des tieriſchen Daſeins, Wachen und Schlafen, periodiſches Eſſen, Arbeit und Erholung,
dann der Kreislauf der Natur, Sommer und Winter, der Auf- und Niedergang von
Sonne, Mond und Sternen prägen allem menſchlichen Leben den Stempel ewiger Wieder-
holung des Gleichen auf. Das Kind ſchon, das täglich zu gleicher Zeit ſeine Milch
erhält, verlangt ſtürmiſch die Einhaltung der Regel, wie die gemeinſamen Mahlzeiten
den Ausgangspunkt für eine regelmäßige Zeiteinteilung des Tages bildeten. Auch die
höheren Tiere haben ihre Inſtinkte unter demſelben Drucke der ſich gleichmäßig wieder-
holenden Bedürfniſſe zu feſten Gewohnheiten ausgebildet, wie die Bienen im Bienenſtaat.
Bei dem Menſchen kommt hinzu, daß es ſein Denkgeſetz und ſeinen Ordnungsſinn
befriedigt, wenn im gleichen Falle gleich gehandelt wird. Aus dem Wirrwarr der Reize
und Triebe, der Einfälle und Leidenſchaften entwickelt ſo ſtets Erfahrung und Erinnerung
gewohnheitsmäßiges gleiches Handeln.
Es wird zur Sitte durch die gemeinſamen Vorſtellungen und Gefühle mehrerer,
durch die gemeinſamen ſittlichen Urteile und Erinnerungen; aus gleicher Lage entſpringen
gleiche Willensanläufe und Handlungen, gleiche Ceremonien, gleiche Formen des Handelns.
Das ſittliche Urteil ſagt, dieſe beſtimmte Form ſei die zu billigende. Es entſteht daraus
das Gefühl der Verpflichtung, das ſofort durch Mißachtung der Genoſſen, Strafe, religiöſe
Furcht verſtärkt wird. Die Formen des religiöſen Kultus waren überall die wichtigſte
Veranlaſſung zur Entſtehung feſter Sitten überhaupt.
Jede Sitte giebt irgend einer ſich wiederholenden Handlung ein beſtimmtes, ſtets
wieder erkennbares Gepräge. Von den einfachen Bewegungen des Körpers bis zu den
verwickeltſten Lebenseinrichtungen ſucht der Menſch an die Stelle des natürlichen Ablaufes
der Ereigniſſe eine ceremoniöſe Ordnung zu ſetzen, mit dem Anſpruch, daß nur das ſo
Gethane richtig geſchehen ſei. Alle menſchlichen Handlungen werden ſo geſtempelt, in
konventionelle Form umgeprägt. Sie erhalten zu ihrem natürlichen materiellen Inhalt
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