Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die wachsenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen. der Sinnenwelt als höchste Tugend. Dem einen gilt Schmerzlosigkeit, dem anderenThätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinwesen als das höchste Gut. Trotz aller dieser Abweichungen hat die gleiche Menschennatur, die gleiche gesell- 24. Die sittlichen Zuchtmittel: gesellschaftlicher Tadel, staatliche Die socialen Pressions- und Zuchtmittel, die wir meinen, sind einfach und bekannt: Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entsteht, die Führung im Neben diese niemals verschwindende, nur später in milderen Formen auftretende Die wachſenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen. der Sinnenwelt als höchſte Tugend. Dem einen gilt Schmerzloſigkeit, dem anderenThätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinweſen als das höchſte Gut. Trotz aller dieſer Abweichungen hat die gleiche Menſchennatur, die gleiche geſell- 24. Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher Tadel, ſtaatliche Die ſocialen Preſſions- und Zuchtmittel, die wir meinen, ſind einfach und bekannt: Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entſteht, die Führung im Neben dieſe niemals verſchwindende, nur ſpäter in milderen Formen auftretende <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0061" n="45"/><fw place="top" type="header">Die wachſenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen.</fw><lb/> der Sinnenwelt als höchſte Tugend. Dem einen gilt Schmerzloſigkeit, dem anderen<lb/> Thätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinweſen als das höchſte Gut.</p><lb/> <p>Trotz aller dieſer Abweichungen hat die gleiche Menſchennatur, die gleiche geſell-<lb/> ſchaftliche Entwickelung und die gleiche Ausbildung der Ideenwelt bei allen höher<lb/> ſtehenden Völkern eine merkwürdige Übereinſtimmung der geforderten Pflichten, Tugenden<lb/> und Güter erzeugt. Eine Erfahrung von Jahrtauſenden hat immer mehr dieſelben<lb/> Handlungen, dieſelben Gefühle als die notwendigen Bedingungen des Glückes der ein-<lb/> zelnen, wie der Wohlfahrt der Geſellſchaft aufgedeckt. Bei allen Völkern arbeiten ſich<lb/> nach langen Irrwegen dieſelben Ideale durch, die in relativ wenigen und einfachen<lb/> Sätzen und Ideen ſich zuſammenfaſſen laſſen. Sie ſind ebenſo ſehr ein Ergebnis unſerer<lb/> ſteigenden Erkenntnis der Welt und der Menſchen, als ein Produkt der ſittlichen Zucht,<lb/> der Veredelung unſeres Gemütslebens. Behaupte und vervollkommne dich ſelbſt; liebe<lb/> deinen Nächſten als dich ſelbſt; gebe jedem das Seine; fühle dich als Glied des Ganzen,<lb/> dem du angehörſt; ſei demütig vor Gott, ſelbſtbewußt aber beſcheiden vor den Menſchen.<lb/> Derartiges wird heute in allen Weltteilen und von allen Religionen gelehrt. Und<lb/> überall ruht der Beſtand der Geſellſchaft darauf, daß dieſe ſchlichten und kurzen Sätze<lb/> zur höchſten geiſtigen Macht auf Erden geworden ſind.</p><lb/> <p>24. <hi rendition="#g">Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher Tadel, ſtaatliche<lb/> Strafen, religiöſe Vorſtellungen</hi>. Wie kam es aber, daß dieſe Sätze zur<lb/> höchſten Macht auf Erden wurden? Die ſittlichen Urteile entſtanden und entſtehen immer<lb/> wieder auf Grund der geſchilderten pſychiſchen Vorgänge; aber wie wir dabei ſchon der<lb/> Mitwirkung der Geſellſchaft gedenken mußten, ſo tragen geſellſchaftliche Einrichtungen<lb/> und pſychiſche Preſſionsmittel, die aus den geſellſchaftlichen Zuſammenhängen ihre Kraft<lb/> ſchöpfen, dazu bei, die Wirkung dieſer Urteile zu ſtärken, im Gemütsleben der Menſchen<lb/> jene ſtarken Emotionen hervorzurufen, die zunächſt viel mehr als kluges Überlegen und<lb/> Einſicht in den geſellſchaftlichen Nutzen oder den künftigen eigenen Vorteil die Menſchen<lb/> auf der Bahn des Sittlichen vorangebracht haben.</p><lb/> <p>Die ſocialen Preſſions- und Zuchtmittel, die wir meinen, ſind einfach und bekannt:<lb/> ſie entſpringen der Furcht vor Tadel und Rache der Genoſſen, der Furcht vor der<lb/> Strafgewalt der Mächtigen und Fürſten, der Furcht vor den Göttern. Es iſt, wie<lb/> H. Spencer ſagt, eine dreifache Kontrolle, unter welcher die menſchlichen Handlungen<lb/> ſtehen, ſo weit wir die Geſchichte zurück verfolgen können. Wir haben ſchon im bisherigen<lb/> Gelegenheit gehabt, ſie teilweiſe zu berühren, hauptſächlich bei Erörterung des An-<lb/> erkennungstriebes (S. 30) die Furcht vor der tadelnden Umgebung erwähnt.</p><lb/> <p>Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entſteht, die Führung im<lb/> Kriege übernimmt, die Feigen beſtraft, die Tapferen belohnt, beſteht in der primitivſten<lb/> Geſellſchaft die Furcht vor Nichtanerkennung und Ausſchluß aus der Sippe und<lb/> dem Stamm, die Gefahr der rächenden Nemeſis von Verwandten, wenn ein Frevler<lb/> einen Stammesgenoſſen aus anderem Geſchlecht erſchlagen hat. Nicht im Widerſpruch<lb/> mit dem ſittlichen Werturteil, den Gefühlen der Sympathie und Vergeltung, ſondern<lb/> eben aus ihnen heraus wachſen die entſprechenden Übungen und Gepflogenheiten der<lb/> Blutrache, der Ausſtoßung, die dann wieder mit großer Macht auf die Einbildung und<lb/> die Gefühle zurückwirken. Vorſtellungen künftiger Schmerzen und künftiger Freude<lb/> werden ſo mit größtem Nachdruck vor die Seele geführt, daß ſie dauernd die einzelnen<lb/> und die Geſellſchaft beherrſchen.</p><lb/> <p>Neben dieſe niemals verſchwindende, nur ſpäter in milderen Formen auftretende<lb/> Kontrolle der Nachbarn und Genoſſen tritt nun mit der Ausbildung einer öffentlichen<lb/> Gewalt, eines Häuptlings- und Königtums, eines kriegeriſchen Führertums die Macht<lb/> der Staatsgewalt. Es iſt zuerſt ein roher Despotismus, zuletzt eine feſt durch das Recht<lb/> umgrenzte oberſte, vielleicht ganz unperſönliche Befehlsbefugnis, die Vorſchriften erläßt<lb/> und ſtraft; immer ruht ſie auf Machtmitteln aller Art, kann den Widerſtrebenden<lb/> zwingen, einſperren, töten; der einzelne muß ſich ihr und ihren Geboten unterwerfen;<lb/> die ſtaatliche Zwangsgewalt mit ihrem Syſtem von Strafen und Zwangsmitteln, von<lb/> Auszeichnungen und Ehren wird gleichſam das feſte Rückgrat der Geſellſchaft; die Bürger<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0061]
Die wachſenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen.
der Sinnenwelt als höchſte Tugend. Dem einen gilt Schmerzloſigkeit, dem anderen
Thätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinweſen als das höchſte Gut.
Trotz aller dieſer Abweichungen hat die gleiche Menſchennatur, die gleiche geſell-
ſchaftliche Entwickelung und die gleiche Ausbildung der Ideenwelt bei allen höher
ſtehenden Völkern eine merkwürdige Übereinſtimmung der geforderten Pflichten, Tugenden
und Güter erzeugt. Eine Erfahrung von Jahrtauſenden hat immer mehr dieſelben
Handlungen, dieſelben Gefühle als die notwendigen Bedingungen des Glückes der ein-
zelnen, wie der Wohlfahrt der Geſellſchaft aufgedeckt. Bei allen Völkern arbeiten ſich
nach langen Irrwegen dieſelben Ideale durch, die in relativ wenigen und einfachen
Sätzen und Ideen ſich zuſammenfaſſen laſſen. Sie ſind ebenſo ſehr ein Ergebnis unſerer
ſteigenden Erkenntnis der Welt und der Menſchen, als ein Produkt der ſittlichen Zucht,
der Veredelung unſeres Gemütslebens. Behaupte und vervollkommne dich ſelbſt; liebe
deinen Nächſten als dich ſelbſt; gebe jedem das Seine; fühle dich als Glied des Ganzen,
dem du angehörſt; ſei demütig vor Gott, ſelbſtbewußt aber beſcheiden vor den Menſchen.
Derartiges wird heute in allen Weltteilen und von allen Religionen gelehrt. Und
überall ruht der Beſtand der Geſellſchaft darauf, daß dieſe ſchlichten und kurzen Sätze
zur höchſten geiſtigen Macht auf Erden geworden ſind.
24. Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher Tadel, ſtaatliche
Strafen, religiöſe Vorſtellungen. Wie kam es aber, daß dieſe Sätze zur
höchſten Macht auf Erden wurden? Die ſittlichen Urteile entſtanden und entſtehen immer
wieder auf Grund der geſchilderten pſychiſchen Vorgänge; aber wie wir dabei ſchon der
Mitwirkung der Geſellſchaft gedenken mußten, ſo tragen geſellſchaftliche Einrichtungen
und pſychiſche Preſſionsmittel, die aus den geſellſchaftlichen Zuſammenhängen ihre Kraft
ſchöpfen, dazu bei, die Wirkung dieſer Urteile zu ſtärken, im Gemütsleben der Menſchen
jene ſtarken Emotionen hervorzurufen, die zunächſt viel mehr als kluges Überlegen und
Einſicht in den geſellſchaftlichen Nutzen oder den künftigen eigenen Vorteil die Menſchen
auf der Bahn des Sittlichen vorangebracht haben.
Die ſocialen Preſſions- und Zuchtmittel, die wir meinen, ſind einfach und bekannt:
ſie entſpringen der Furcht vor Tadel und Rache der Genoſſen, der Furcht vor der
Strafgewalt der Mächtigen und Fürſten, der Furcht vor den Göttern. Es iſt, wie
H. Spencer ſagt, eine dreifache Kontrolle, unter welcher die menſchlichen Handlungen
ſtehen, ſo weit wir die Geſchichte zurück verfolgen können. Wir haben ſchon im bisherigen
Gelegenheit gehabt, ſie teilweiſe zu berühren, hauptſächlich bei Erörterung des An-
erkennungstriebes (S. 30) die Furcht vor der tadelnden Umgebung erwähnt.
Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entſteht, die Führung im
Kriege übernimmt, die Feigen beſtraft, die Tapferen belohnt, beſteht in der primitivſten
Geſellſchaft die Furcht vor Nichtanerkennung und Ausſchluß aus der Sippe und
dem Stamm, die Gefahr der rächenden Nemeſis von Verwandten, wenn ein Frevler
einen Stammesgenoſſen aus anderem Geſchlecht erſchlagen hat. Nicht im Widerſpruch
mit dem ſittlichen Werturteil, den Gefühlen der Sympathie und Vergeltung, ſondern
eben aus ihnen heraus wachſen die entſprechenden Übungen und Gepflogenheiten der
Blutrache, der Ausſtoßung, die dann wieder mit großer Macht auf die Einbildung und
die Gefühle zurückwirken. Vorſtellungen künftiger Schmerzen und künftiger Freude
werden ſo mit größtem Nachdruck vor die Seele geführt, daß ſie dauernd die einzelnen
und die Geſellſchaft beherrſchen.
Neben dieſe niemals verſchwindende, nur ſpäter in milderen Formen auftretende
Kontrolle der Nachbarn und Genoſſen tritt nun mit der Ausbildung einer öffentlichen
Gewalt, eines Häuptlings- und Königtums, eines kriegeriſchen Führertums die Macht
der Staatsgewalt. Es iſt zuerſt ein roher Despotismus, zuletzt eine feſt durch das Recht
umgrenzte oberſte, vielleicht ganz unperſönliche Befehlsbefugnis, die Vorſchriften erläßt
und ſtraft; immer ruht ſie auf Machtmitteln aller Art, kann den Widerſtrebenden
zwingen, einſperren, töten; der einzelne muß ſich ihr und ihren Geboten unterwerfen;
die ſtaatliche Zwangsgewalt mit ihrem Syſtem von Strafen und Zwangsmitteln, von
Auszeichnungen und Ehren wird gleichſam das feſte Rückgrat der Geſellſchaft; die Bürger
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