Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Der Erwerbstrieb. Dogmengeschichte. Entstehung. Die Tragweite dieser Sätze ist teilweise von Rau selbst schon etwas eingeschränkt In all' diesen Abweichungen zeigt sich die Erschütterung und Unsicherheit der 18. Entstehung, Entartung, Verbreitung des Erwerbstriebes. Darauf ist zu antworten, daß die elementaren sinnlichen Lust- und Schmerz- Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 3
Der Erwerbstrieb. Dogmengeſchichte. Entſtehung. Die Tragweite dieſer Sätze iſt teilweiſe von Rau ſelbſt ſchon etwas eingeſchränkt In all’ dieſen Abweichungen zeigt ſich die Erſchütterung und Unſicherheit der 18. Entſtehung, Entartung, Verbreitung des Erwerbstriebes. Darauf iſt zu antworten, daß die elementaren ſinnlichen Luſt- und Schmerz- Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0049" n="33"/> <fw place="top" type="header">Der Erwerbstrieb. Dogmengeſchichte. Entſtehung.</fw><lb/> <p>Die Tragweite dieſer Sätze iſt teilweiſe von Rau ſelbſt ſchon etwas eingeſchränkt<lb/> worden; andere haben ſie in anderer Art zu modifizieren geſucht. Man hat die Selbſt-<lb/> ſucht in die Selbſtliebe oder in das ſog. geläuterte Selbſtintereſſe umgedeutet, das bei<lb/> edlen Menſchen alle höheren Lebensziele mitumfaſſe. Man hat den Gemeinſinn, das<lb/> Recht und die Billigkeit oder den ſog. Altruismus (die Liebe zu anderen im Gegenſatz<lb/> zum Egoismus) als gleichwertige Triebe neben den Erwerbstrieb geſtellt, um alle wirt-<lb/> ſchaftlichen Handlungen zu erklären (Hermann, Roſcher, Knies, Sax). Man hat aus<lb/> dem Erwerbstriebe einen allgemeinen wirtſchaftlichen Sinn gemacht, der Kraftaufwand<lb/> und Erfolg ſtets vergleiche (Dietzel). Oder man hat zugegeben, daß die ſocialen<lb/> Erſcheinungen von dem Ganzen der Eigenſchaften der menſchlichen Natur beeinflußt<lb/> werden, aber daneben das Verlangen nach Reichtum als ausſchließliche Urſache der<lb/> Volkswirtſchaft dadurch zu retten geſucht, daß man die Wiſſenſchaft für eine hypothetiſche<lb/> erklärt hat (J. St. Mill), die nur die Folgen dieſes Verlangens zu unterſuchen habe<lb/> und deren Ergebniſſe von der Wirklichkeit ſich ebenſo weit entfernten, wie die hypothetiſche<lb/> Urſache von der Geſamtheit der Urſachen entfernt ſei.</p><lb/> <p>In all’ dieſen Abweichungen zeigt ſich die Erſchütterung und Unſicherheit der<lb/> alten Lehre, ohne daß eine neue, ebenſo anerkannte an die Stelle getreten wäre. Nach<lb/> wie vor wird hier das ſog. privatwirtſchaftliche Syſtem auf den Erwerbstrieb zurück-<lb/> geführt, dort die ganze Preisunterſuchung an die Vorausſetzung des Eigennutzes geknüpft.<lb/> Wir müſſen auch zugeben, daß unſer heutiges und wohl alles Erwerbsleben mit dem<lb/> Eigennutz in einer innigeren Verbindung ſteht, als etwa unſer Staats- und Kirchen-<lb/> leben. Es wird ſich alſo, um das Wahre zu finden, darum handeln, einfach noch einen<lb/> Schritt weiter zurückzugehen, als dies Hermann, Roſcher und Knies gethan, ſich nicht<lb/> mit zwei Abſtraktionen, Erwerbstrieb und Gemeinſinn, zu begnügen, ſondern, wie wir<lb/> dies bereits begonnen, pſychologiſch und hiſtoriſch zu unterſuchen, was die Triebfedern<lb/> des wirtſchaftlichen Handelns überhaupt ſeien, wie der ſog. Erwerbstrieb neben anderen<lb/> Trieben ſich ausnehme, wie die bloßen wirtſchaftlichen Triebe ſich verhalten zu den<lb/> Eigenſchaften, die wir als wirtſchaftliche Tugenden bezeichnen, wie neben dem Erwerbs-<lb/> trieb die Arbeitſamkeit, die Sparſamkeit, der Unternehmungsgeiſt entſtehe.</p><lb/> <p>18. <hi rendition="#g">Entſtehung, Entartung, Verbreitung des Erwerbstriebes</hi>.<lb/> Wir beginnen mit der Frage, hat der Menſch von Haus aus einen egoiſtiſchen Erwerbs-<lb/> trieb in dem Sinne, daß er größere Vorräte ſachlicher Güter für ſich anzuhäufen, zu<lb/> ſammeln ſtrebt; iſt ein Trieb dieſer Art die primäre Verurſachung alles wirtſchaftlichen<lb/> Handelns, d. h. des Handelns, das die Unterwerfung der materiellen Außenwelt<lb/> unter die Zwecke des Menſchen erſtrebt, die wirtſchaftliche Bedürfnisbefriedigung im<lb/> Auge hat?</p><lb/> <p>Darauf iſt zu antworten, daß die elementaren ſinnlichen Luſt- und Schmerz-<lb/> gefühle und das an ſie ſich knüpfende Triebleben, daß ferner die Freude am Glanz und<lb/> Schmuck, an Waffen und Werkzeugen, am Erfolg der eigenen gelungenen Thätigkeit un-<lb/> zweifelhaft die erſten und dauerhafteſten Veranlaſſungen wirtſchaftlichen Handelns ſind.<lb/> Miſcht ſich auch in die früheſte Bethätigung dieſer Gefühle ſchon die Neigung, dieſes<lb/> und jenes ausſchließlich dem eigenen Gebrauch vorzubehalten, wie wir es beim Kind<lb/> und beim Wilden ſehen, ein eigentlicher Erwerbstrieb iſt weder beim Kind und Jüng-<lb/> ling, noch bei all’ den primitiven Stämmen vorhanden, die noch zu keinem größeren<lb/> Herden- oder ſonſtigen Vermögen, zu keinem Handel gekommen ſind. Die wirtſchaftliche<lb/> Anſtrengung wird urſprünglich weſentlich durch den Hunger veranlaßt, träge Faulheit und<lb/> verſchwendender Genuß wechſeln; der unbedeutende Beſitz an Werkzeugen und Waffen<lb/> wird als Inſtrument der Selbſterhaltung geſchätzt; aber nicht ſowohl der Vorrat an<lb/> ſich, der Beſitz an ſich erfreut, zumal ein größerer kaum nutzbar zu machen wäre, ſondern<lb/> der Mann freut ſich ſeines Schmuckes, ſeiner Werkzeuge, ſeiner Waffen, weil ſie ihm<lb/> Anſehen und Gelegenheit zu gelungeneren Kraftproben und beſſerem Jagderfolg geben. Mit<lb/> der Zunahme der Bedürfniſſe und des Beſitzes, mit der Ausbildung des Thätigkeits-<lb/> triebes, mit der wachſenden Geſchicklichkeit fängt eine gewiſſe Gewöhnung an Anſtrengung<lb/> und Arbeit an. Der Anerkennungs- und Rivalitätstrieb miſcht ſich ein; der Mann<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. <hi rendition="#aq">I.</hi> 3</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [33/0049]
Der Erwerbstrieb. Dogmengeſchichte. Entſtehung.
Die Tragweite dieſer Sätze iſt teilweiſe von Rau ſelbſt ſchon etwas eingeſchränkt
worden; andere haben ſie in anderer Art zu modifizieren geſucht. Man hat die Selbſt-
ſucht in die Selbſtliebe oder in das ſog. geläuterte Selbſtintereſſe umgedeutet, das bei
edlen Menſchen alle höheren Lebensziele mitumfaſſe. Man hat den Gemeinſinn, das
Recht und die Billigkeit oder den ſog. Altruismus (die Liebe zu anderen im Gegenſatz
zum Egoismus) als gleichwertige Triebe neben den Erwerbstrieb geſtellt, um alle wirt-
ſchaftlichen Handlungen zu erklären (Hermann, Roſcher, Knies, Sax). Man hat aus
dem Erwerbstriebe einen allgemeinen wirtſchaftlichen Sinn gemacht, der Kraftaufwand
und Erfolg ſtets vergleiche (Dietzel). Oder man hat zugegeben, daß die ſocialen
Erſcheinungen von dem Ganzen der Eigenſchaften der menſchlichen Natur beeinflußt
werden, aber daneben das Verlangen nach Reichtum als ausſchließliche Urſache der
Volkswirtſchaft dadurch zu retten geſucht, daß man die Wiſſenſchaft für eine hypothetiſche
erklärt hat (J. St. Mill), die nur die Folgen dieſes Verlangens zu unterſuchen habe
und deren Ergebniſſe von der Wirklichkeit ſich ebenſo weit entfernten, wie die hypothetiſche
Urſache von der Geſamtheit der Urſachen entfernt ſei.
In all’ dieſen Abweichungen zeigt ſich die Erſchütterung und Unſicherheit der
alten Lehre, ohne daß eine neue, ebenſo anerkannte an die Stelle getreten wäre. Nach
wie vor wird hier das ſog. privatwirtſchaftliche Syſtem auf den Erwerbstrieb zurück-
geführt, dort die ganze Preisunterſuchung an die Vorausſetzung des Eigennutzes geknüpft.
Wir müſſen auch zugeben, daß unſer heutiges und wohl alles Erwerbsleben mit dem
Eigennutz in einer innigeren Verbindung ſteht, als etwa unſer Staats- und Kirchen-
leben. Es wird ſich alſo, um das Wahre zu finden, darum handeln, einfach noch einen
Schritt weiter zurückzugehen, als dies Hermann, Roſcher und Knies gethan, ſich nicht
mit zwei Abſtraktionen, Erwerbstrieb und Gemeinſinn, zu begnügen, ſondern, wie wir
dies bereits begonnen, pſychologiſch und hiſtoriſch zu unterſuchen, was die Triebfedern
des wirtſchaftlichen Handelns überhaupt ſeien, wie der ſog. Erwerbstrieb neben anderen
Trieben ſich ausnehme, wie die bloßen wirtſchaftlichen Triebe ſich verhalten zu den
Eigenſchaften, die wir als wirtſchaftliche Tugenden bezeichnen, wie neben dem Erwerbs-
trieb die Arbeitſamkeit, die Sparſamkeit, der Unternehmungsgeiſt entſtehe.
18. Entſtehung, Entartung, Verbreitung des Erwerbstriebes.
Wir beginnen mit der Frage, hat der Menſch von Haus aus einen egoiſtiſchen Erwerbs-
trieb in dem Sinne, daß er größere Vorräte ſachlicher Güter für ſich anzuhäufen, zu
ſammeln ſtrebt; iſt ein Trieb dieſer Art die primäre Verurſachung alles wirtſchaftlichen
Handelns, d. h. des Handelns, das die Unterwerfung der materiellen Außenwelt
unter die Zwecke des Menſchen erſtrebt, die wirtſchaftliche Bedürfnisbefriedigung im
Auge hat?
Darauf iſt zu antworten, daß die elementaren ſinnlichen Luſt- und Schmerz-
gefühle und das an ſie ſich knüpfende Triebleben, daß ferner die Freude am Glanz und
Schmuck, an Waffen und Werkzeugen, am Erfolg der eigenen gelungenen Thätigkeit un-
zweifelhaft die erſten und dauerhafteſten Veranlaſſungen wirtſchaftlichen Handelns ſind.
Miſcht ſich auch in die früheſte Bethätigung dieſer Gefühle ſchon die Neigung, dieſes
und jenes ausſchließlich dem eigenen Gebrauch vorzubehalten, wie wir es beim Kind
und beim Wilden ſehen, ein eigentlicher Erwerbstrieb iſt weder beim Kind und Jüng-
ling, noch bei all’ den primitiven Stämmen vorhanden, die noch zu keinem größeren
Herden- oder ſonſtigen Vermögen, zu keinem Handel gekommen ſind. Die wirtſchaftliche
Anſtrengung wird urſprünglich weſentlich durch den Hunger veranlaßt, träge Faulheit und
verſchwendender Genuß wechſeln; der unbedeutende Beſitz an Werkzeugen und Waffen
wird als Inſtrument der Selbſterhaltung geſchätzt; aber nicht ſowohl der Vorrat an
ſich, der Beſitz an ſich erfreut, zumal ein größerer kaum nutzbar zu machen wäre, ſondern
der Mann freut ſich ſeines Schmuckes, ſeiner Werkzeuge, ſeiner Waffen, weil ſie ihm
Anſehen und Gelegenheit zu gelungeneren Kraftproben und beſſerem Jagderfolg geben. Mit
der Zunahme der Bedürfniſſe und des Beſitzes, mit der Ausbildung des Thätigkeits-
triebes, mit der wachſenden Geſchicklichkeit fängt eine gewiſſe Gewöhnung an Anſtrengung
und Arbeit an. Der Anerkennungs- und Rivalitätstrieb miſcht ſich ein; der Mann
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