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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Art, Zweck, Verfassung der Genossenschaften.
doch schon so einsichtig und geschäftsgeschult, daß sie begriffen, ihr Unternehmen könne
nur auf dem Boden modernen Geld- und Kreditverkehrs, kaufmännischer Buchführung
und Gewinnberechnung, solider Barzahlung, unter dem selbst aufgelegten Joch des
Sparzwanges gedeihen.

Die Mehrzahl aller Genossenschaften hat heute noch nicht mehr als 30 bis
300 Mitglieder, die an einem Orte oder in der Nachbarschaft wohnen, sich in die
Fenster, in die Taschen, in die Herzen sehen. Sie nehmen nur auf, wer für sie paßt;
ihr Verein erbt gleichsam den gemeinnützigen Geist der alten genossenschaftlichen Gemeinde.
Wo aber die Mitglieder auf 1000, ja bis 20000 steigen, die in großen Städten oder
verschiedenen Orten wohnen, da tritt die Solidarhaft in Widerspruch zu den vorhandenen
sittlich-psychologischen Voraussetzungen. Geschäftlich war die Solidarhaft für den Konsum-
verein nie so nötig wie für die Kreditgenossenschaft; stets waren die Ärmeren für die
Solidarhaft, die Reicheren für ihre Beschränkung. In Deutschland setzte Schulze durch,
daß bis 1889 keine Genossenschaft ohne Solidarhaft in das amtliche Genossenschaftsregister
eingetragen wurde. Dann ließ man auch bei uns, wie vorher schon in anderen Ländern,
solche mit beschränkter Haftpflicht zu, um das Genossenschaftswesen auf weitere Kreise, auf
etwas höhere Schichten der Gesellschaft auszudehnen, um Genossenschaften von Genossen-
schaften als zusammenfassende Organe möglich zu machen. Es hat sich bewährt. Aber
die Blüte der Genossenschaft liegt noch heute da, wo man an der Solidarhaft festhält;
die Mehrzahl der deutschen Genossenschaften hat sie heute noch.

Aus der Mitgliederzahl, ihrem Charakter und der Solidarhaft ergiebt sich auch
die Verfassung und Verwaltung der Genossenschaft. Das beschließende Organ
ist auch hier die Generalversammlung; aber sie tritt herkömmlich öfter zusammen,
hat viel lebendigere Interessen und dadurch größeren Einfluß als in der Aktiengesellschaft.
Schulze suchte auf jede Weise ihre Bedeutung zu erhöhen. Wo unbeschränkte Haftpflicht ist,
darf jeder Genosse nur einen Anteil haben; und jeder verfügt, ob beschränkte oder un-
beschränkte Haftpflicht gilt, ob im ersteren Falle einer zehn, der andere einen Anteil habe,
über gleiches Stimmrecht in der Generalversammlung. Nicht das Kapital und seine Größe
soll herrschen, sondern die Personen nach dem Gewicht ihres Charakters und der Güte ihrer
Gründe. Die Kapitalanteile sind ohnedies meist klein, oft nur 2--10 Mark, neuerdings
freilich auch bis 100, 200, ja 500 Mark. Freilich konnte sich das Gewicht der General-
versammlung nicht gleichmäßig erhalten. Je größer sie wird, desto unfähiger zeigt sie
sich auch hier. Je bedeutsamer die Geschäfte werden, desto einflußreicher wird der
Vorstand. Zwei oder drei Genossen führen das Amt des Vorstandes, fünf bis sieben
das eines Aufsichtsrates; sie sind in der kleinen Genossenschaft meist noch unbezahlt; sie
haften als Mitglieder solidarisch. Auch die bezahlten Rechner und sonstigen
Beamten
läßt man Mitglieder werden, um sie haften zu lassen. Über die Frage,
wie weit man ehrenamtliche, unentgeltliche Dienste, inwieweit man bezahlte, eventuell
mit Tantiemen gelohnte vorziehen soll, wird vielfach gestritten; ebenso über die Art
der Wahl, die Amtsdauer. Die Aufgabe ist, die pflichttreue genossenschaftliche Opfer-
bereitschaft und Fähigkeit der besten und intelligentesten Mitglieder zu verbinden mit
der Erziehung einer genossenschaftlich-kaufmännisch geschulten, pflichttreuen, bezahlten
Beamtenschaft. Die Kontrolle, die der Aufsichtsrat führt, wird verstärkt durch die
periodische Revision von angestellten Revisoren, welche zuerst in England entstanden,
dann, von Schulze empfohlen, von den Genossenschaftsverbänden übernommen, durch
das deutsche Gesetz von 1889 obligatorisch gemacht wurde. Die Einordnung der
Genossenschaften in Provinzialverbände, ihre Zusammenfassung in große Anwaltschaften
hat die Entwickelung in gleichmäßigen Bahnen gehalten und hat sehr viel gethan, den
genossenschaftlichen Geist und die geschäftliche Solidität zu stärken und zu stützen. Die
Zahl der Konkurse und der Veruntreuungen durch Vorstände und Beamte ist in der
Welt der Genossenschaften unendlich viel kleiner als bei den Aktiengesellschaften und großen
Privatgeschäften.

In Großbritannien haben sich hauptsächlich die Konsumvereine, dann auch die Bau-
genossenschaften entwickelt. Im Jahre 1830 soll es von ersteren schon 2--300 gegeben haben;

Art, Zweck, Verfaſſung der Genoſſenſchaften.
doch ſchon ſo einſichtig und geſchäftsgeſchult, daß ſie begriffen, ihr Unternehmen könne
nur auf dem Boden modernen Geld- und Kreditverkehrs, kaufmänniſcher Buchführung
und Gewinnberechnung, ſolider Barzahlung, unter dem ſelbſt aufgelegten Joch des
Sparzwanges gedeihen.

Die Mehrzahl aller Genoſſenſchaften hat heute noch nicht mehr als 30 bis
300 Mitglieder, die an einem Orte oder in der Nachbarſchaft wohnen, ſich in die
Fenſter, in die Taſchen, in die Herzen ſehen. Sie nehmen nur auf, wer für ſie paßt;
ihr Verein erbt gleichſam den gemeinnützigen Geiſt der alten genoſſenſchaftlichen Gemeinde.
Wo aber die Mitglieder auf 1000, ja bis 20000 ſteigen, die in großen Städten oder
verſchiedenen Orten wohnen, da tritt die Solidarhaft in Widerſpruch zu den vorhandenen
ſittlich-pſychologiſchen Vorausſetzungen. Geſchäftlich war die Solidarhaft für den Konſum-
verein nie ſo nötig wie für die Kreditgenoſſenſchaft; ſtets waren die Ärmeren für die
Solidarhaft, die Reicheren für ihre Beſchränkung. In Deutſchland ſetzte Schulze durch,
daß bis 1889 keine Genoſſenſchaft ohne Solidarhaft in das amtliche Genoſſenſchaftsregiſter
eingetragen wurde. Dann ließ man auch bei uns, wie vorher ſchon in anderen Ländern,
ſolche mit beſchränkter Haftpflicht zu, um das Genoſſenſchaftsweſen auf weitere Kreiſe, auf
etwas höhere Schichten der Geſellſchaft auszudehnen, um Genoſſenſchaften von Genoſſen-
ſchaften als zuſammenfaſſende Organe möglich zu machen. Es hat ſich bewährt. Aber
die Blüte der Genoſſenſchaft liegt noch heute da, wo man an der Solidarhaft feſthält;
die Mehrzahl der deutſchen Genoſſenſchaften hat ſie heute noch.

Aus der Mitgliederzahl, ihrem Charakter und der Solidarhaft ergiebt ſich auch
die Verfaſſung und Verwaltung der Genoſſenſchaft. Das beſchließende Organ
iſt auch hier die Generalverſammlung; aber ſie tritt herkömmlich öfter zuſammen,
hat viel lebendigere Intereſſen und dadurch größeren Einfluß als in der Aktiengeſellſchaft.
Schulze ſuchte auf jede Weiſe ihre Bedeutung zu erhöhen. Wo unbeſchränkte Haftpflicht iſt,
darf jeder Genoſſe nur einen Anteil haben; und jeder verfügt, ob beſchränkte oder un-
beſchränkte Haftpflicht gilt, ob im erſteren Falle einer zehn, der andere einen Anteil habe,
über gleiches Stimmrecht in der Generalverſammlung. Nicht das Kapital und ſeine Größe
ſoll herrſchen, ſondern die Perſonen nach dem Gewicht ihres Charakters und der Güte ihrer
Gründe. Die Kapitalanteile ſind ohnedies meiſt klein, oft nur 2—10 Mark, neuerdings
freilich auch bis 100, 200, ja 500 Mark. Freilich konnte ſich das Gewicht der General-
verſammlung nicht gleichmäßig erhalten. Je größer ſie wird, deſto unfähiger zeigt ſie
ſich auch hier. Je bedeutſamer die Geſchäfte werden, deſto einflußreicher wird der
Vorſtand. Zwei oder drei Genoſſen führen das Amt des Vorſtandes, fünf bis ſieben
das eines Aufſichtsrates; ſie ſind in der kleinen Genoſſenſchaft meiſt noch unbezahlt; ſie
haften als Mitglieder ſolidariſch. Auch die bezahlten Rechner und ſonſtigen
Beamten
läßt man Mitglieder werden, um ſie haften zu laſſen. Über die Frage,
wie weit man ehrenamtliche, unentgeltliche Dienſte, inwieweit man bezahlte, eventuell
mit Tantiemen gelohnte vorziehen ſoll, wird vielfach geſtritten; ebenſo über die Art
der Wahl, die Amtsdauer. Die Aufgabe iſt, die pflichttreue genoſſenſchaftliche Opfer-
bereitſchaft und Fähigkeit der beſten und intelligenteſten Mitglieder zu verbinden mit
der Erziehung einer genoſſenſchaftlich-kaufmänniſch geſchulten, pflichttreuen, bezahlten
Beamtenſchaft. Die Kontrolle, die der Aufſichtsrat führt, wird verſtärkt durch die
periodiſche Reviſion von angeſtellten Reviſoren, welche zuerſt in England entſtanden,
dann, von Schulze empfohlen, von den Genoſſenſchaftsverbänden übernommen, durch
das deutſche Geſetz von 1889 obligatoriſch gemacht wurde. Die Einordnung der
Genoſſenſchaften in Provinzialverbände, ihre Zuſammenfaſſung in große Anwaltſchaften
hat die Entwickelung in gleichmäßigen Bahnen gehalten und hat ſehr viel gethan, den
genoſſenſchaftlichen Geiſt und die geſchäftliche Solidität zu ſtärken und zu ſtützen. Die
Zahl der Konkurſe und der Veruntreuungen durch Vorſtände und Beamte iſt in der
Welt der Genoſſenſchaften unendlich viel kleiner als bei den Aktiengeſellſchaften und großen
Privatgeſchäften.

In Großbritannien haben ſich hauptſächlich die Konſumvereine, dann auch die Bau-
genoſſenſchaften entwickelt. Im Jahre 1830 ſoll es von erſteren ſchon 2—300 gegeben haben;

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[447/0463] Art, Zweck, Verfaſſung der Genoſſenſchaften. doch ſchon ſo einſichtig und geſchäftsgeſchult, daß ſie begriffen, ihr Unternehmen könne nur auf dem Boden modernen Geld- und Kreditverkehrs, kaufmänniſcher Buchführung und Gewinnberechnung, ſolider Barzahlung, unter dem ſelbſt aufgelegten Joch des Sparzwanges gedeihen. Die Mehrzahl aller Genoſſenſchaften hat heute noch nicht mehr als 30 bis 300 Mitglieder, die an einem Orte oder in der Nachbarſchaft wohnen, ſich in die Fenſter, in die Taſchen, in die Herzen ſehen. Sie nehmen nur auf, wer für ſie paßt; ihr Verein erbt gleichſam den gemeinnützigen Geiſt der alten genoſſenſchaftlichen Gemeinde. Wo aber die Mitglieder auf 1000, ja bis 20000 ſteigen, die in großen Städten oder verſchiedenen Orten wohnen, da tritt die Solidarhaft in Widerſpruch zu den vorhandenen ſittlich-pſychologiſchen Vorausſetzungen. Geſchäftlich war die Solidarhaft für den Konſum- verein nie ſo nötig wie für die Kreditgenoſſenſchaft; ſtets waren die Ärmeren für die Solidarhaft, die Reicheren für ihre Beſchränkung. In Deutſchland ſetzte Schulze durch, daß bis 1889 keine Genoſſenſchaft ohne Solidarhaft in das amtliche Genoſſenſchaftsregiſter eingetragen wurde. Dann ließ man auch bei uns, wie vorher ſchon in anderen Ländern, ſolche mit beſchränkter Haftpflicht zu, um das Genoſſenſchaftsweſen auf weitere Kreiſe, auf etwas höhere Schichten der Geſellſchaft auszudehnen, um Genoſſenſchaften von Genoſſen- ſchaften als zuſammenfaſſende Organe möglich zu machen. Es hat ſich bewährt. Aber die Blüte der Genoſſenſchaft liegt noch heute da, wo man an der Solidarhaft feſthält; die Mehrzahl der deutſchen Genoſſenſchaften hat ſie heute noch. Aus der Mitgliederzahl, ihrem Charakter und der Solidarhaft ergiebt ſich auch die Verfaſſung und Verwaltung der Genoſſenſchaft. Das beſchließende Organ iſt auch hier die Generalverſammlung; aber ſie tritt herkömmlich öfter zuſammen, hat viel lebendigere Intereſſen und dadurch größeren Einfluß als in der Aktiengeſellſchaft. Schulze ſuchte auf jede Weiſe ihre Bedeutung zu erhöhen. Wo unbeſchränkte Haftpflicht iſt, darf jeder Genoſſe nur einen Anteil haben; und jeder verfügt, ob beſchränkte oder un- beſchränkte Haftpflicht gilt, ob im erſteren Falle einer zehn, der andere einen Anteil habe, über gleiches Stimmrecht in der Generalverſammlung. Nicht das Kapital und ſeine Größe ſoll herrſchen, ſondern die Perſonen nach dem Gewicht ihres Charakters und der Güte ihrer Gründe. Die Kapitalanteile ſind ohnedies meiſt klein, oft nur 2—10 Mark, neuerdings freilich auch bis 100, 200, ja 500 Mark. Freilich konnte ſich das Gewicht der General- verſammlung nicht gleichmäßig erhalten. Je größer ſie wird, deſto unfähiger zeigt ſie ſich auch hier. Je bedeutſamer die Geſchäfte werden, deſto einflußreicher wird der Vorſtand. Zwei oder drei Genoſſen führen das Amt des Vorſtandes, fünf bis ſieben das eines Aufſichtsrates; ſie ſind in der kleinen Genoſſenſchaft meiſt noch unbezahlt; ſie haften als Mitglieder ſolidariſch. Auch die bezahlten Rechner und ſonſtigen Beamten läßt man Mitglieder werden, um ſie haften zu laſſen. Über die Frage, wie weit man ehrenamtliche, unentgeltliche Dienſte, inwieweit man bezahlte, eventuell mit Tantiemen gelohnte vorziehen ſoll, wird vielfach geſtritten; ebenſo über die Art der Wahl, die Amtsdauer. Die Aufgabe iſt, die pflichttreue genoſſenſchaftliche Opfer- bereitſchaft und Fähigkeit der beſten und intelligenteſten Mitglieder zu verbinden mit der Erziehung einer genoſſenſchaftlich-kaufmänniſch geſchulten, pflichttreuen, bezahlten Beamtenſchaft. Die Kontrolle, die der Aufſichtsrat führt, wird verſtärkt durch die periodiſche Reviſion von angeſtellten Reviſoren, welche zuerſt in England entſtanden, dann, von Schulze empfohlen, von den Genoſſenſchaftsverbänden übernommen, durch das deutſche Geſetz von 1889 obligatoriſch gemacht wurde. Die Einordnung der Genoſſenſchaften in Provinzialverbände, ihre Zuſammenfaſſung in große Anwaltſchaften hat die Entwickelung in gleichmäßigen Bahnen gehalten und hat ſehr viel gethan, den genoſſenſchaftlichen Geiſt und die geſchäftliche Solidität zu ſtärken und zu ſtützen. Die Zahl der Konkurſe und der Veruntreuungen durch Vorſtände und Beamte iſt in der Welt der Genoſſenſchaften unendlich viel kleiner als bei den Aktiengeſellſchaften und großen Privatgeſchäften. In Großbritannien haben ſich hauptſächlich die Konſumvereine, dann auch die Bau- genoſſenſchaften entwickelt. Im Jahre 1830 ſoll es von erſteren ſchon 2—300 gegeben haben;

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/463>, abgerufen am 25.11.2024.