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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die historische Entwickelung der Bedürfnisse.
seiner Lebensführung. Alles, was geschah, sollte durch solche verfeinerte Formen als
ein Glied in dem Plane des Lebens erkannt und gestempelt werden. Immer neue Be-
dürfnisse kamen zu den alten, und die alten verfeinerten sich, komplizierten sich, wurden
vielgestaltiger, wechselvoller, anspruchsvoller. Und wir können verstehen, daß dieser
Prozeß, so viel er zugleich Falsches, Häßliches, Bizarres erzeugt, doch zugleich das not-
wendige Instrument ist, uns auszubilden, unsere innere Kultur zu fördern. Ohne die
bessere Wohnung, ohne die Trennung von Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer kein
edleres, höheres Familienleben, ohne Trennung von Werkstätte und Wohnung keine
große maschinelle Produktion. Ja wir können sogar sagen, ohne eine gewisse Verfeine-
rung unserer Tafel kein hochgespanntes geistiges Leben, keine funkensprühende Geistes-
thätigkeit.

Der Stoiker mag klagen, daß wir Sklaven unserer Bedürfnisse sind, der laudator
temporis acti,
daß wir die alte Einfachheit verloren haben und ein immer schwerfälligeres
Kulturgepäck mit uns schleppen. Wir mögen mit Recht immer wieder bemüht sein,
unseren Körper so zu stählen, daß er mal Mangel und Entbehrung erträgt. Im ganzen
liegt doch ein Fortschritt gerade darin, wenn selbst die unteren Klassen Fleisch, gute Kleidung,
saubere Wohnung und Anteil an der geistigen Kultur fordern; wenn alle Klassen um jeden
Preis an ihrem Bedürfnisniveau festhalten, es steigern wollen. Die dauernde feste Anpassung
unserer Nerven an einen immer komplizierteren Apparat der Bedürfnisbefriedigung ist
der Sperrhaken, der die Menschen vor dem Zurücksinken in die Barbarei bewahrt. Auch
wer an falsche, übermäßige Genüsse jahrelang gewöhnt ist, kann sich ihnen nicht plötzlich
entziehen. Die Nerven halten jeden mit starker Fessel an dem gewohnten Lebensgeleise
von Bedürfnissen fest. Soweit die Bedürfnisse aber normale sind, ist das ein Glück;
es entsteht dadurch die Kraft, auf dem erreichten Kulturniveau sich zu behaupten, wie
die Zunahme der Bedürfnisse den Fleiß, die Thatkraft, die Arbeitsamkeit immer wieder
angespornt und gefördert hat, die höhere Kultur bedeutet.

Betonen wir so die Berechtigung der wirtschaftlichen Bedürfnissteigerung im ganzen
und ihren Zusammenhang mit aller höheren Kultur, aus der sie zuletzt entspringt,
sehen wir in dem großen wirtschaftlichen Mechanismus, der unseren Bedürfnissen dient,
die in die Außenwelt verlegte Projektion innerer Vorgänge, eine komplementäre Er-
scheinung unserer höheren Gefühlsentwickelung, so soll damit doch entfernt nicht gesagt
sein, daß schlechthin jede Bedürfnissteigerung ein Segen sei, daß keine Gefahren mit ihr
sich verbinden.

Große und lange Epochen der Menschheit haben einen fast stabilen Zustand der
Bedürfnisse gehabt; solche wechseln naturgemäß mit Zeiten, in welchen eine verbesserte
Technik und wachsender Wohlstand eine große Bedürfnissteigerung erzeugten und erlaubten.
In den erstgenannten Epochen wird das Streben, alle Bedürfnisse mit einander und
mit einer guten Gesellschaftsverfassung in Harmonie zu bringen, sogar leichter gelingen;
und deshalb wird eine fest gewordene, eingewurzelte, von sittlichen Ideen beherrschte
Gestaltung der Bedürfnisse dann von allen konservativen Elementen und von den Moral-
predigern als ein Ideal verteidigt werden, an dem nicht gerüttelt werden dürfe. Neue
Bedürfnisse erscheinen so leicht an sich als Unrecht, als Überhebung, als Mißbrauch;
und sie führen häufig auch zunächst zu häßlichen Erscheinungen, zu unsittlichen Aus-
schreitungen, die man durch Verbote, Luxusgesetze, Moralpredigten mit Recht bekämpft.

Jedes Bedürfnis erscheint als Luxus, sofern es neu ist, über das Hergebrachte
hinausgeht. Sehr häufig ist in der Folgezeit berechtigtes Bedürfnis, was zuerst als
verderblicher Luxus erschien. Aber der steigende Luxus kann auch ein Zeichen wirtschaft-
licher und sittlicher Auflösung im ganzen oder gewisser höherer Kreise sein.

Die Bedürfnisse jedes Volkes und jedes Standes sind ein Ganzes, das dem Ein-
kommen und Wohlstand ebenso entsprechen soll, wie der richtigen Wertung der Lebens-
zwecke untereinander. Und zumal in einer Zeit großer wirtschaftlicher Fortschritte,
großer Änderung und Steigerung der Bedürfnisse wird es immer zuerst sehr schwer
sein, das richtige Maß im ganzen zu halten und im einzelnen jedem Lebenszwecke sein
gebührendes Maß von Mitteln zuzuführen. Rohe Zeiten haben durch ein Übermaß

Die hiſtoriſche Entwickelung der Bedürfniſſe.
ſeiner Lebensführung. Alles, was geſchah, ſollte durch ſolche verfeinerte Formen als
ein Glied in dem Plane des Lebens erkannt und geſtempelt werden. Immer neue Be-
dürfniſſe kamen zu den alten, und die alten verfeinerten ſich, komplizierten ſich, wurden
vielgeſtaltiger, wechſelvoller, anſpruchsvoller. Und wir können verſtehen, daß dieſer
Prozeß, ſo viel er zugleich Falſches, Häßliches, Bizarres erzeugt, doch zugleich das not-
wendige Inſtrument iſt, uns auszubilden, unſere innere Kultur zu fördern. Ohne die
beſſere Wohnung, ohne die Trennung von Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer kein
edleres, höheres Familienleben, ohne Trennung von Werkſtätte und Wohnung keine
große maſchinelle Produktion. Ja wir können ſogar ſagen, ohne eine gewiſſe Verfeine-
rung unſerer Tafel kein hochgeſpanntes geiſtiges Leben, keine funkenſprühende Geiſtes-
thätigkeit.

Der Stoiker mag klagen, daß wir Sklaven unſerer Bedürfniſſe ſind, der laudator
temporis acti,
daß wir die alte Einfachheit verloren haben und ein immer ſchwerfälligeres
Kulturgepäck mit uns ſchleppen. Wir mögen mit Recht immer wieder bemüht ſein,
unſeren Körper ſo zu ſtählen, daß er mal Mangel und Entbehrung erträgt. Im ganzen
liegt doch ein Fortſchritt gerade darin, wenn ſelbſt die unteren Klaſſen Fleiſch, gute Kleidung,
ſaubere Wohnung und Anteil an der geiſtigen Kultur fordern; wenn alle Klaſſen um jeden
Preis an ihrem Bedürfnisniveau feſthalten, es ſteigern wollen. Die dauernde feſte Anpaſſung
unſerer Nerven an einen immer komplizierteren Apparat der Bedürfnisbefriedigung iſt
der Sperrhaken, der die Menſchen vor dem Zurückſinken in die Barbarei bewahrt. Auch
wer an falſche, übermäßige Genüſſe jahrelang gewöhnt iſt, kann ſich ihnen nicht plötzlich
entziehen. Die Nerven halten jeden mit ſtarker Feſſel an dem gewohnten Lebensgeleiſe
von Bedürfniſſen feſt. Soweit die Bedürfniſſe aber normale ſind, iſt das ein Glück;
es entſteht dadurch die Kraft, auf dem erreichten Kulturniveau ſich zu behaupten, wie
die Zunahme der Bedürfniſſe den Fleiß, die Thatkraft, die Arbeitſamkeit immer wieder
angeſpornt und gefördert hat, die höhere Kultur bedeutet.

Betonen wir ſo die Berechtigung der wirtſchaftlichen Bedürfnisſteigerung im ganzen
und ihren Zuſammenhang mit aller höheren Kultur, aus der ſie zuletzt entſpringt,
ſehen wir in dem großen wirtſchaftlichen Mechanismus, der unſeren Bedürfniſſen dient,
die in die Außenwelt verlegte Projektion innerer Vorgänge, eine komplementäre Er-
ſcheinung unſerer höheren Gefühlsentwickelung, ſo ſoll damit doch entfernt nicht geſagt
ſein, daß ſchlechthin jede Bedürfnisſteigerung ein Segen ſei, daß keine Gefahren mit ihr
ſich verbinden.

Große und lange Epochen der Menſchheit haben einen faſt ſtabilen Zuſtand der
Bedürfniſſe gehabt; ſolche wechſeln naturgemäß mit Zeiten, in welchen eine verbeſſerte
Technik und wachſender Wohlſtand eine große Bedürfnisſteigerung erzeugten und erlaubten.
In den erſtgenannten Epochen wird das Streben, alle Bedürfniſſe mit einander und
mit einer guten Geſellſchaftsverfaſſung in Harmonie zu bringen, ſogar leichter gelingen;
und deshalb wird eine feſt gewordene, eingewurzelte, von ſittlichen Ideen beherrſchte
Geſtaltung der Bedürfniſſe dann von allen konſervativen Elementen und von den Moral-
predigern als ein Ideal verteidigt werden, an dem nicht gerüttelt werden dürfe. Neue
Bedürfniſſe erſcheinen ſo leicht an ſich als Unrecht, als Überhebung, als Mißbrauch;
und ſie führen häufig auch zunächſt zu häßlichen Erſcheinungen, zu unſittlichen Aus-
ſchreitungen, die man durch Verbote, Luxusgeſetze, Moralpredigten mit Recht bekämpft.

Jedes Bedürfnis erſcheint als Luxus, ſofern es neu iſt, über das Hergebrachte
hinausgeht. Sehr häufig iſt in der Folgezeit berechtigtes Bedürfnis, was zuerſt als
verderblicher Luxus erſchien. Aber der ſteigende Luxus kann auch ein Zeichen wirtſchaft-
licher und ſittlicher Auflöſung im ganzen oder gewiſſer höherer Kreiſe ſein.

Die Bedürfniſſe jedes Volkes und jedes Standes ſind ein Ganzes, das dem Ein-
kommen und Wohlſtand ebenſo entſprechen ſoll, wie der richtigen Wertung der Lebens-
zwecke untereinander. Und zumal in einer Zeit großer wirtſchaftlicher Fortſchritte,
großer Änderung und Steigerung der Bedürfniſſe wird es immer zuerſt ſehr ſchwer
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gebührendes Maß von Mitteln zuzuführen. Rohe Zeiten haben durch ein Übermaß

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[25/0041] Die hiſtoriſche Entwickelung der Bedürfniſſe. ſeiner Lebensführung. Alles, was geſchah, ſollte durch ſolche verfeinerte Formen als ein Glied in dem Plane des Lebens erkannt und geſtempelt werden. Immer neue Be- dürfniſſe kamen zu den alten, und die alten verfeinerten ſich, komplizierten ſich, wurden vielgeſtaltiger, wechſelvoller, anſpruchsvoller. Und wir können verſtehen, daß dieſer Prozeß, ſo viel er zugleich Falſches, Häßliches, Bizarres erzeugt, doch zugleich das not- wendige Inſtrument iſt, uns auszubilden, unſere innere Kultur zu fördern. Ohne die beſſere Wohnung, ohne die Trennung von Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer kein edleres, höheres Familienleben, ohne Trennung von Werkſtätte und Wohnung keine große maſchinelle Produktion. Ja wir können ſogar ſagen, ohne eine gewiſſe Verfeine- rung unſerer Tafel kein hochgeſpanntes geiſtiges Leben, keine funkenſprühende Geiſtes- thätigkeit. Der Stoiker mag klagen, daß wir Sklaven unſerer Bedürfniſſe ſind, der laudator temporis acti, daß wir die alte Einfachheit verloren haben und ein immer ſchwerfälligeres Kulturgepäck mit uns ſchleppen. Wir mögen mit Recht immer wieder bemüht ſein, unſeren Körper ſo zu ſtählen, daß er mal Mangel und Entbehrung erträgt. Im ganzen liegt doch ein Fortſchritt gerade darin, wenn ſelbſt die unteren Klaſſen Fleiſch, gute Kleidung, ſaubere Wohnung und Anteil an der geiſtigen Kultur fordern; wenn alle Klaſſen um jeden Preis an ihrem Bedürfnisniveau feſthalten, es ſteigern wollen. Die dauernde feſte Anpaſſung unſerer Nerven an einen immer komplizierteren Apparat der Bedürfnisbefriedigung iſt der Sperrhaken, der die Menſchen vor dem Zurückſinken in die Barbarei bewahrt. Auch wer an falſche, übermäßige Genüſſe jahrelang gewöhnt iſt, kann ſich ihnen nicht plötzlich entziehen. Die Nerven halten jeden mit ſtarker Feſſel an dem gewohnten Lebensgeleiſe von Bedürfniſſen feſt. Soweit die Bedürfniſſe aber normale ſind, iſt das ein Glück; es entſteht dadurch die Kraft, auf dem erreichten Kulturniveau ſich zu behaupten, wie die Zunahme der Bedürfniſſe den Fleiß, die Thatkraft, die Arbeitſamkeit immer wieder angeſpornt und gefördert hat, die höhere Kultur bedeutet. Betonen wir ſo die Berechtigung der wirtſchaftlichen Bedürfnisſteigerung im ganzen und ihren Zuſammenhang mit aller höheren Kultur, aus der ſie zuletzt entſpringt, ſehen wir in dem großen wirtſchaftlichen Mechanismus, der unſeren Bedürfniſſen dient, die in die Außenwelt verlegte Projektion innerer Vorgänge, eine komplementäre Er- ſcheinung unſerer höheren Gefühlsentwickelung, ſo ſoll damit doch entfernt nicht geſagt ſein, daß ſchlechthin jede Bedürfnisſteigerung ein Segen ſei, daß keine Gefahren mit ihr ſich verbinden. Große und lange Epochen der Menſchheit haben einen faſt ſtabilen Zuſtand der Bedürfniſſe gehabt; ſolche wechſeln naturgemäß mit Zeiten, in welchen eine verbeſſerte Technik und wachſender Wohlſtand eine große Bedürfnisſteigerung erzeugten und erlaubten. In den erſtgenannten Epochen wird das Streben, alle Bedürfniſſe mit einander und mit einer guten Geſellſchaftsverfaſſung in Harmonie zu bringen, ſogar leichter gelingen; und deshalb wird eine feſt gewordene, eingewurzelte, von ſittlichen Ideen beherrſchte Geſtaltung der Bedürfniſſe dann von allen konſervativen Elementen und von den Moral- predigern als ein Ideal verteidigt werden, an dem nicht gerüttelt werden dürfe. Neue Bedürfniſſe erſcheinen ſo leicht an ſich als Unrecht, als Überhebung, als Mißbrauch; und ſie führen häufig auch zunächſt zu häßlichen Erſcheinungen, zu unſittlichen Aus- ſchreitungen, die man durch Verbote, Luxusgeſetze, Moralpredigten mit Recht bekämpft. Jedes Bedürfnis erſcheint als Luxus, ſofern es neu iſt, über das Hergebrachte hinausgeht. Sehr häufig iſt in der Folgezeit berechtigtes Bedürfnis, was zuerſt als verderblicher Luxus erſchien. Aber der ſteigende Luxus kann auch ein Zeichen wirtſchaft- licher und ſittlicher Auflöſung im ganzen oder gewiſſer höherer Kreiſe ſein. Die Bedürfniſſe jedes Volkes und jedes Standes ſind ein Ganzes, das dem Ein- kommen und Wohlſtand ebenſo entſprechen ſoll, wie der richtigen Wertung der Lebens- zwecke untereinander. Und zumal in einer Zeit großer wirtſchaftlicher Fortſchritte, großer Änderung und Steigerung der Bedürfniſſe wird es immer zuerſt ſehr ſchwer ſein, das richtige Maß im ganzen zu halten und im einzelnen jedem Lebenszwecke ſein gebührendes Maß von Mitteln zuzuführen. Rohe Zeiten haben durch ein Übermaß

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/41>, abgerufen am 21.11.2024.