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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Der einzelne erhält es, ob er so tüchtig ist wie sein Vater oder nicht; er erhält weniger,
wenn er mehr Geschwister hat, mehr, wenn er allein ist, Seitenverwandte beerbt.
Und wie das Erbrecht für die Eltern das Motiv zur Anstrengung, so kann es für die
Kinder der Reichen das zur Faulheit werden. Es treten sich entgegengesetzte Folgen
und Überlegungen nun einander gegenüber. Und Sitte und Recht werden hievon
beeinflußt werden, so langsam auch gerade hier veränderte Zustände zu einer Umbildung
der Gewohnheiten und Gesetze führen.

Welche Änderungen man auch hier erwarten mag, wie hoch man die Thatsache
einschätze, daß schlechte und unfähige Kinder ein reiches Erbe ohne Verdienst erhalten,
daß der Zufall der Kinderzahl den einen reich, den andern unbemittelt mache, -- all'
das sind mehr individuelle Zufälle, die aus keiner Gesellschaftsverfassung zu beseitigen
sind. Im ganzen werden wir für die Fragen der Gesellschaftsordnung nur auf den
Durchschnitt ganzer Klassen sehen dürfen. Und thun wir das, so werden wir sagen:
so lange die höheren besitzenden Klassen nicht entartet sind, so werden die Kinder durch-
schnittlich die Eigenschaften der Eltern haben. So lange also eine gewisse Parallelität
der höheren Eigenschaften und des größeren Besitzes sich im Laufe der Generationen
erhält, so lange wird auch das Erbrecht der Kinder innerlich berechtigt sein. Dieses
Erbrecht wird Segen stiften, so lange es zum Instrument wird, um höhere persönliche
Eigenschaften bestimmter socialer Gruppen für längere Zeit zu erhalten, ja sie zu steigern.
Wo der große Grundbesitz ausgezeichnete Staatsmänner und Generale, tüchtige unabhängige
Lokalbeamte und Vertreter des landwirtschaftlichen Fortschritts erzieht, wo der mittlere
Grundbesitz einen gesunden Bauernstand erhält, da erscheint auch die durch Jahrhunderte
erhaltene ungleiche Grundeigentumsverteilung als ein berechtigtes Mittel aristokratischer
Gesellschaftsgliederung und Erhaltung eines breiten Mittelstandes. Und wo das in
den Händen von Kaufleuten, Bankiers und Unternehmern sich sammelnde Kapital
überwiegend die Grundlage für ein gesittetes Bürgertum, der Anlaß zu kühner Auf-
suchung neuer Handelswege, zur Anbahnung technischer Fortschritte, zur Begründung
neuer Industrien wird, da wird die Erhaltung erheblicher Vermögen in denselben
Familien segensreicher fürs Ganze sein, als wenn alles neu ersparte Kapital stets sofort
gleichmäßig unter alle Bürger verteilt würde.

Das Erbrecht wird so das Mittel, eine bestehende ungleiche Grundbesitz- und
überhaupt jede Besitzverteilung zu erhalten, unter Umständen auch sie zu steigern,
zumal wenn einzelne Kinder bevorzugt werden, oder die höheren Klassen nur eine
geringe Kinderzahl haben. Es können dadurch auch die Klassengegensätze sich verschärfen,
wenn z. B. der Grundbesitz sehr an Wert steigt, die Pächter oder Bauern gegenüber
den Eigentümern und Grundherren in schlechtere Lage kommen. Aber das Erbrecht
schafft nicht die ungleiche Besitzverteilung; es erleichtert nur einzelnen die wirtschaft-
liche Existenz und damit auch die Anhäufung von Besitz. Und es fragt sich nun, wie
im Laufe der Generationen die persönlichen Eigenschaften der Besitzenden zu der Größe
ihres Besitzes sich stellen, welchen Gebrauch sie davon machen, ob zumal da, wo immer
größerer Besitz sich in wenigen Händen anhäuft, die Leistungen, Fähigkeiten und Tugenden
entsprechende sind. Es kommt da ganz auf die Erziehung in den höheren Klassen,
auf deren geistig-moralische Entwickelung an. Jede ältere Besitzaristokratie ist der
Versuchung ausgesetzt, sich dem Luxus, dem individuellen Lebensgenuß, den Lastern des
vornehmen Lebens zu ergeben, nicht mehr zu arbeiten und auf das stolze Vorrecht
der Initiative zu verzichten. Erst sind es einzelne ihrer mißratenen Söhne, oft bald
auch der Durchschnitt derselben, der so herabsinkt, die alten Fähigkeiten und damit die
Führung des Volkes verliert. Und doch sind ihre Glieder oft gerade in solcher Zeit
in der Lage, durch geminderte Eheschließung und Kinderzahl, Geldheiraten und Erbrecht
größere Vermögen zu sammeln. Die persönlichen Eigenschaften sinkender Aristokratien
sind es, welche die wichtigste Ursache revolutionärer, kommunistischer Bewegungen
darstellen. Und daß alle Aristokratien, am frühesten die exklusiv nach unten sich
abschließenden, mit der Zeit der Gefahr der Erschöpfung, der Entartung erliegen, wird
sich nicht leugnen lassen.

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Der einzelne erhält es, ob er ſo tüchtig iſt wie ſein Vater oder nicht; er erhält weniger,
wenn er mehr Geſchwiſter hat, mehr, wenn er allein iſt, Seitenverwandte beerbt.
Und wie das Erbrecht für die Eltern das Motiv zur Anſtrengung, ſo kann es für die
Kinder der Reichen das zur Faulheit werden. Es treten ſich entgegengeſetzte Folgen
und Überlegungen nun einander gegenüber. Und Sitte und Recht werden hievon
beeinflußt werden, ſo langſam auch gerade hier veränderte Zuſtände zu einer Umbildung
der Gewohnheiten und Geſetze führen.

Welche Änderungen man auch hier erwarten mag, wie hoch man die Thatſache
einſchätze, daß ſchlechte und unfähige Kinder ein reiches Erbe ohne Verdienſt erhalten,
daß der Zufall der Kinderzahl den einen reich, den andern unbemittelt mache, — all’
das ſind mehr individuelle Zufälle, die aus keiner Geſellſchaftsverfaſſung zu beſeitigen
ſind. Im ganzen werden wir für die Fragen der Geſellſchaftsordnung nur auf den
Durchſchnitt ganzer Klaſſen ſehen dürfen. Und thun wir das, ſo werden wir ſagen:
ſo lange die höheren beſitzenden Klaſſen nicht entartet ſind, ſo werden die Kinder durch-
ſchnittlich die Eigenſchaften der Eltern haben. So lange alſo eine gewiſſe Parallelität
der höheren Eigenſchaften und des größeren Beſitzes ſich im Laufe der Generationen
erhält, ſo lange wird auch das Erbrecht der Kinder innerlich berechtigt ſein. Dieſes
Erbrecht wird Segen ſtiften, ſo lange es zum Inſtrument wird, um höhere perſönliche
Eigenſchaften beſtimmter ſocialer Gruppen für längere Zeit zu erhalten, ja ſie zu ſteigern.
Wo der große Grundbeſitz ausgezeichnete Staatsmänner und Generale, tüchtige unabhängige
Lokalbeamte und Vertreter des landwirtſchaftlichen Fortſchritts erzieht, wo der mittlere
Grundbeſitz einen geſunden Bauernſtand erhält, da erſcheint auch die durch Jahrhunderte
erhaltene ungleiche Grundeigentumsverteilung als ein berechtigtes Mittel ariſtokratiſcher
Geſellſchaftsgliederung und Erhaltung eines breiten Mittelſtandes. Und wo das in
den Händen von Kaufleuten, Bankiers und Unternehmern ſich ſammelnde Kapital
überwiegend die Grundlage für ein geſittetes Bürgertum, der Anlaß zu kühner Auf-
ſuchung neuer Handelswege, zur Anbahnung techniſcher Fortſchritte, zur Begründung
neuer Induſtrien wird, da wird die Erhaltung erheblicher Vermögen in denſelben
Familien ſegensreicher fürs Ganze ſein, als wenn alles neu erſparte Kapital ſtets ſofort
gleichmäßig unter alle Bürger verteilt würde.

Das Erbrecht wird ſo das Mittel, eine beſtehende ungleiche Grundbeſitz- und
überhaupt jede Beſitzverteilung zu erhalten, unter Umſtänden auch ſie zu ſteigern,
zumal wenn einzelne Kinder bevorzugt werden, oder die höheren Klaſſen nur eine
geringe Kinderzahl haben. Es können dadurch auch die Klaſſengegenſätze ſich verſchärfen,
wenn z. B. der Grundbeſitz ſehr an Wert ſteigt, die Pächter oder Bauern gegenüber
den Eigentümern und Grundherren in ſchlechtere Lage kommen. Aber das Erbrecht
ſchafft nicht die ungleiche Beſitzverteilung; es erleichtert nur einzelnen die wirtſchaft-
liche Exiſtenz und damit auch die Anhäufung von Beſitz. Und es fragt ſich nun, wie
im Laufe der Generationen die perſönlichen Eigenſchaften der Beſitzenden zu der Größe
ihres Beſitzes ſich ſtellen, welchen Gebrauch ſie davon machen, ob zumal da, wo immer
größerer Beſitz ſich in wenigen Händen anhäuft, die Leiſtungen, Fähigkeiten und Tugenden
entſprechende ſind. Es kommt da ganz auf die Erziehung in den höheren Klaſſen,
auf deren geiſtig-moraliſche Entwickelung an. Jede ältere Beſitzariſtokratie iſt der
Verſuchung ausgeſetzt, ſich dem Luxus, dem individuellen Lebensgenuß, den Laſtern des
vornehmen Lebens zu ergeben, nicht mehr zu arbeiten und auf das ſtolze Vorrecht
der Initiative zu verzichten. Erſt ſind es einzelne ihrer mißratenen Söhne, oft bald
auch der Durchſchnitt derſelben, der ſo herabſinkt, die alten Fähigkeiten und damit die
Führung des Volkes verliert. Und doch ſind ihre Glieder oft gerade in ſolcher Zeit
in der Lage, durch geminderte Eheſchließung und Kinderzahl, Geldheiraten und Erbrecht
größere Vermögen zu ſammeln. Die perſönlichen Eigenſchaften ſinkender Ariſtokratien
ſind es, welche die wichtigſte Urſache revolutionärer, kommuniſtiſcher Bewegungen
darſtellen. Und daß alle Ariſtokratien, am früheſten die exkluſiv nach unten ſich
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[384/0400] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Der einzelne erhält es, ob er ſo tüchtig iſt wie ſein Vater oder nicht; er erhält weniger, wenn er mehr Geſchwiſter hat, mehr, wenn er allein iſt, Seitenverwandte beerbt. Und wie das Erbrecht für die Eltern das Motiv zur Anſtrengung, ſo kann es für die Kinder der Reichen das zur Faulheit werden. Es treten ſich entgegengeſetzte Folgen und Überlegungen nun einander gegenüber. Und Sitte und Recht werden hievon beeinflußt werden, ſo langſam auch gerade hier veränderte Zuſtände zu einer Umbildung der Gewohnheiten und Geſetze führen. Welche Änderungen man auch hier erwarten mag, wie hoch man die Thatſache einſchätze, daß ſchlechte und unfähige Kinder ein reiches Erbe ohne Verdienſt erhalten, daß der Zufall der Kinderzahl den einen reich, den andern unbemittelt mache, — all’ das ſind mehr individuelle Zufälle, die aus keiner Geſellſchaftsverfaſſung zu beſeitigen ſind. Im ganzen werden wir für die Fragen der Geſellſchaftsordnung nur auf den Durchſchnitt ganzer Klaſſen ſehen dürfen. Und thun wir das, ſo werden wir ſagen: ſo lange die höheren beſitzenden Klaſſen nicht entartet ſind, ſo werden die Kinder durch- ſchnittlich die Eigenſchaften der Eltern haben. So lange alſo eine gewiſſe Parallelität der höheren Eigenſchaften und des größeren Beſitzes ſich im Laufe der Generationen erhält, ſo lange wird auch das Erbrecht der Kinder innerlich berechtigt ſein. Dieſes Erbrecht wird Segen ſtiften, ſo lange es zum Inſtrument wird, um höhere perſönliche Eigenſchaften beſtimmter ſocialer Gruppen für längere Zeit zu erhalten, ja ſie zu ſteigern. Wo der große Grundbeſitz ausgezeichnete Staatsmänner und Generale, tüchtige unabhängige Lokalbeamte und Vertreter des landwirtſchaftlichen Fortſchritts erzieht, wo der mittlere Grundbeſitz einen geſunden Bauernſtand erhält, da erſcheint auch die durch Jahrhunderte erhaltene ungleiche Grundeigentumsverteilung als ein berechtigtes Mittel ariſtokratiſcher Geſellſchaftsgliederung und Erhaltung eines breiten Mittelſtandes. Und wo das in den Händen von Kaufleuten, Bankiers und Unternehmern ſich ſammelnde Kapital überwiegend die Grundlage für ein geſittetes Bürgertum, der Anlaß zu kühner Auf- ſuchung neuer Handelswege, zur Anbahnung techniſcher Fortſchritte, zur Begründung neuer Induſtrien wird, da wird die Erhaltung erheblicher Vermögen in denſelben Familien ſegensreicher fürs Ganze ſein, als wenn alles neu erſparte Kapital ſtets ſofort gleichmäßig unter alle Bürger verteilt würde. Das Erbrecht wird ſo das Mittel, eine beſtehende ungleiche Grundbeſitz- und überhaupt jede Beſitzverteilung zu erhalten, unter Umſtänden auch ſie zu ſteigern, zumal wenn einzelne Kinder bevorzugt werden, oder die höheren Klaſſen nur eine geringe Kinderzahl haben. Es können dadurch auch die Klaſſengegenſätze ſich verſchärfen, wenn z. B. der Grundbeſitz ſehr an Wert ſteigt, die Pächter oder Bauern gegenüber den Eigentümern und Grundherren in ſchlechtere Lage kommen. Aber das Erbrecht ſchafft nicht die ungleiche Beſitzverteilung; es erleichtert nur einzelnen die wirtſchaft- liche Exiſtenz und damit auch die Anhäufung von Beſitz. Und es fragt ſich nun, wie im Laufe der Generationen die perſönlichen Eigenſchaften der Beſitzenden zu der Größe ihres Beſitzes ſich ſtellen, welchen Gebrauch ſie davon machen, ob zumal da, wo immer größerer Beſitz ſich in wenigen Händen anhäuft, die Leiſtungen, Fähigkeiten und Tugenden entſprechende ſind. Es kommt da ganz auf die Erziehung in den höheren Klaſſen, auf deren geiſtig-moraliſche Entwickelung an. Jede ältere Beſitzariſtokratie iſt der Verſuchung ausgeſetzt, ſich dem Luxus, dem individuellen Lebensgenuß, den Laſtern des vornehmen Lebens zu ergeben, nicht mehr zu arbeiten und auf das ſtolze Vorrecht der Initiative zu verzichten. Erſt ſind es einzelne ihrer mißratenen Söhne, oft bald auch der Durchſchnitt derſelben, der ſo herabſinkt, die alten Fähigkeiten und damit die Führung des Volkes verliert. Und doch ſind ihre Glieder oft gerade in ſolcher Zeit in der Lage, durch geminderte Eheſchließung und Kinderzahl, Geldheiraten und Erbrecht größere Vermögen zu ſammeln. Die perſönlichen Eigenſchaften ſinkender Ariſtokratien ſind es, welche die wichtigſte Urſache revolutionärer, kommuniſtiſcher Bewegungen darſtellen. Und daß alle Ariſtokratien, am früheſten die exkluſiv nach unten ſich abſchließenden, mit der Zeit der Gefahr der Erſchöpfung, der Entartung erliegen, wird ſich nicht leugnen laſſen.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/400>, abgerufen am 22.11.2024.