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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
ihre Folgen für schädlich hält, allen privaten Grundbesitz in Frage stellt, ihn in Staats-
und Gemeindeeigentum überführen will, in ihren energischen Reformern ihm die Ver-
schuldbarkeit ganz oder teilweise nehmen, die Teilbarkeit und die Anhäufung des Grund-
besitzes an gewisse Bedingungen knüpfen möchte, in ihren gemäßigten Vertretern jedenfalls
durch eine Bevorzugung eines Erben im Erbrecht die bestehende Verteilung erhalten,
den Grundbesitz vor Zersplitterung und Überschuldung bewahren will.

Den stärksten Anstoß zu Erörterungen und Fragen dieser Art gab die Verfassung
des Grundeigentums da, wo der wirtschaftende Eigentümer in wachsende Abhängigkeit
von Hypothekengläubigern kam, oder wo mehr und mehr der Grundeigentümer aufhörte,
Landwirtschaft zu treiben, ein bloßer Rentner wurde. Bei starker Überschuldung, wie sie
ein Teil der kleinsten mitteleuropäischen Grundeigentümer und ein Teil der osteuropäischen
Gutsbesitzer zeigt, werden materiell die Gläubiger Eigentümer, der juristische Eigentümer
ist ihr Verwalter, oft ein ausgebeuteter, schwer bedrängter Verwalter. Der englische
Großgrundbesitz zeigt fast gar keine Verschuldung, er ist die Grundlage einer immer
noch großen und gesunden Aristokratie; ob die so vom großen Besitz bezogene Rente
dem Staate und der Gesellschaft durch die Leistungen der Aristokratie zu gute komme,
davon hängt die innere Berechtigung solch weitgehender Ungleichheit der Verteilung ab.
Außerdem ist, da wo die Pacht sich ausdehnt, wichtig, welche Stellung die Pächter
haben; die englischen, meist aus den ehemaligen Bauern hervorgegangenen Zeitpächter
stellen einen besitzenden Mittelstand dar, der freilich successiv in etwas ungünstigere Lage
gekommen ist; der irische kleine Pächterstand, von Mittelspersonen und jährlichem
Kontrakt abhängig, ohne jeden moralischen und politischen Zusammenhang mit den
englischen, fast stets außerhalb Landes residierenden Großgrundbesitzern, zeigt uns ein
Bild ungesundester Agrarverfassung. In den südeuropäischen und romanischen Ländern
bildet ein großer Teil des Grundeigentums nur einen Rententitel für städtische Kapital-
besitzer, Honoratioren, Advokaten, Notare, Kaufleute. Die in Zeit- und Halbpacht
sitzenden Bebauer sind in leidlicher Lage da, wo noch patriarchalische Beziehungen
herrschen. Wo diese fehlen, ist eine ungesunde Ausbeutung der Pächter, proletarisches
Elend unter ihnen nicht zu leugnen. Die ernstliche, zumal für Irland, für Sicilien,
aber auch sonst aufgeworfene Frage, inwieweit Staat und Gesetzgebung die kleinen
Pächter vor dem Druck und der Ausbeutung der Grundbesitzer schützen solle, zeigt eben-
falls, wie wenig das Princip des unbedingt freien Grundeigentums heute vorhält.

In Deutschland haben wir, von den größeren, vorhin erwähnten Domänenpächtern
abgesehen, noch wenig Pacht; der wirtschaftende Eigentümer überwiegt noch vollständig
im Mittel- und Bauernbesitz; nur in der Nähe der Städte, in Fabrikgegenden, in
dem Gebiete der dichtesten Bevölkerung fängt die Klein- und Parzellenpacht an, etwas
häufiger zu werden; aber sie hat noch nichts Bedenkliches. Und auch das Maß der
Verschuldung des Grundbesitzes ist für die meisten Gegenden und für den erheblicheren
Teil des Groß- und Mittelbesitzes, sowie für die eigentlichen Bauerngüter erst in
neuester Zeit durch die lange landwirtschaftliche Krisis, in Folge der überseeischen Kon-
kurrenz, bedenklich geworden. Es kommt darauf an, dem Bauernstand durch eine große
Agrarpolitik über dieselbe weg zu helfen, einen Teil des unhaltbar gewordenen ritter-
schaftlichen, überschuldeten Besitzes in Bauerngüter unter günstigen Bedingungen über-
zuführen, der Neuverschuldung bestimmte Grenzen zu setzen. Die frühere technische Über-
legenheit der großen über die kleinen Betriebe beginnt zu verschwinden, weil die Bildung
und Technik des Bauernstandes sich sehr gehoben hat.

Neben den Wandlungen, welche das westeuropäische Grundeigentumsrecht von
1750--1850 im Sinne der Überführung feudalen und unfrei bäuerlichen Eigentums
in das freie, wenn auch mannigfach noch beschränkte Privateigentum der neueren Zeit
erfahren hat, stehen in der Zeit von 1850 bis zur Gegenwart die großen Veränderungen
im Grundeigentumsrecht und in der Landpolitik Rußlands, Brittisch-Indiens und Nord-
amerikas.

In Rußland hat die Emancipationsgesetzgebung von 1861 zunächst das bäuerliche
und grundherrliche Eigentum nach Teilungsgrundsätzen geschieden, wobei der Bauer zu

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ihre Folgen für ſchädlich hält, allen privaten Grundbeſitz in Frage ſtellt, ihn in Staats-
und Gemeindeeigentum überführen will, in ihren energiſchen Reformern ihm die Ver-
ſchuldbarkeit ganz oder teilweiſe nehmen, die Teilbarkeit und die Anhäufung des Grund-
beſitzes an gewiſſe Bedingungen knüpfen möchte, in ihren gemäßigten Vertretern jedenfalls
durch eine Bevorzugung eines Erben im Erbrecht die beſtehende Verteilung erhalten,
den Grundbeſitz vor Zerſplitterung und Überſchuldung bewahren will.

Den ſtärkſten Anſtoß zu Erörterungen und Fragen dieſer Art gab die Verfaſſung
des Grundeigentums da, wo der wirtſchaftende Eigentümer in wachſende Abhängigkeit
von Hypothekengläubigern kam, oder wo mehr und mehr der Grundeigentümer aufhörte,
Landwirtſchaft zu treiben, ein bloßer Rentner wurde. Bei ſtarker Überſchuldung, wie ſie
ein Teil der kleinſten mitteleuropäiſchen Grundeigentümer und ein Teil der oſteuropäiſchen
Gutsbeſitzer zeigt, werden materiell die Gläubiger Eigentümer, der juriſtiſche Eigentümer
iſt ihr Verwalter, oft ein ausgebeuteter, ſchwer bedrängter Verwalter. Der engliſche
Großgrundbeſitz zeigt faſt gar keine Verſchuldung, er iſt die Grundlage einer immer
noch großen und geſunden Ariſtokratie; ob die ſo vom großen Beſitz bezogene Rente
dem Staate und der Geſellſchaft durch die Leiſtungen der Ariſtokratie zu gute komme,
davon hängt die innere Berechtigung ſolch weitgehender Ungleichheit der Verteilung ab.
Außerdem iſt, da wo die Pacht ſich ausdehnt, wichtig, welche Stellung die Pächter
haben; die engliſchen, meiſt aus den ehemaligen Bauern hervorgegangenen Zeitpächter
ſtellen einen beſitzenden Mittelſtand dar, der freilich ſucceſſiv in etwas ungünſtigere Lage
gekommen iſt; der iriſche kleine Pächterſtand, von Mittelsperſonen und jährlichem
Kontrakt abhängig, ohne jeden moraliſchen und politiſchen Zuſammenhang mit den
engliſchen, faſt ſtets außerhalb Landes reſidierenden Großgrundbeſitzern, zeigt uns ein
Bild ungeſundeſter Agrarverfaſſung. In den ſüdeuropäiſchen und romaniſchen Ländern
bildet ein großer Teil des Grundeigentums nur einen Rententitel für ſtädtiſche Kapital-
beſitzer, Honoratioren, Advokaten, Notare, Kaufleute. Die in Zeit- und Halbpacht
ſitzenden Bebauer ſind in leidlicher Lage da, wo noch patriarchaliſche Beziehungen
herrſchen. Wo dieſe fehlen, iſt eine ungeſunde Ausbeutung der Pächter, proletariſches
Elend unter ihnen nicht zu leugnen. Die ernſtliche, zumal für Irland, für Sicilien,
aber auch ſonſt aufgeworfene Frage, inwieweit Staat und Geſetzgebung die kleinen
Pächter vor dem Druck und der Ausbeutung der Grundbeſitzer ſchützen ſolle, zeigt eben-
falls, wie wenig das Princip des unbedingt freien Grundeigentums heute vorhält.

In Deutſchland haben wir, von den größeren, vorhin erwähnten Domänenpächtern
abgeſehen, noch wenig Pacht; der wirtſchaftende Eigentümer überwiegt noch vollſtändig
im Mittel- und Bauernbeſitz; nur in der Nähe der Städte, in Fabrikgegenden, in
dem Gebiete der dichteſten Bevölkerung fängt die Klein- und Parzellenpacht an, etwas
häufiger zu werden; aber ſie hat noch nichts Bedenkliches. Und auch das Maß der
Verſchuldung des Grundbeſitzes iſt für die meiſten Gegenden und für den erheblicheren
Teil des Groß- und Mittelbeſitzes, ſowie für die eigentlichen Bauerngüter erſt in
neueſter Zeit durch die lange landwirtſchaftliche Kriſis, in Folge der überſeeiſchen Kon-
kurrenz, bedenklich geworden. Es kommt darauf an, dem Bauernſtand durch eine große
Agrarpolitik über dieſelbe weg zu helfen, einen Teil des unhaltbar gewordenen ritter-
ſchaftlichen, überſchuldeten Beſitzes in Bauerngüter unter günſtigen Bedingungen über-
zuführen, der Neuverſchuldung beſtimmte Grenzen zu ſetzen. Die frühere techniſche Über-
legenheit der großen über die kleinen Betriebe beginnt zu verſchwinden, weil die Bildung
und Technik des Bauernſtandes ſich ſehr gehoben hat.

Neben den Wandlungen, welche das weſteuropäiſche Grundeigentumsrecht von
1750—1850 im Sinne der Überführung feudalen und unfrei bäuerlichen Eigentums
in das freie, wenn auch mannigfach noch beſchränkte Privateigentum der neueren Zeit
erfahren hat, ſtehen in der Zeit von 1850 bis zur Gegenwart die großen Veränderungen
im Grundeigentumsrecht und in der Landpolitik Rußlands, Brittiſch-Indiens und Nord-
amerikas.

In Rußland hat die Emancipationsgeſetzgebung von 1861 zunächſt das bäuerliche
und grundherrliche Eigentum nach Teilungsgrundſätzen geſchieden, wobei der Bauer zu

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[378/0394] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. ihre Folgen für ſchädlich hält, allen privaten Grundbeſitz in Frage ſtellt, ihn in Staats- und Gemeindeeigentum überführen will, in ihren energiſchen Reformern ihm die Ver- ſchuldbarkeit ganz oder teilweiſe nehmen, die Teilbarkeit und die Anhäufung des Grund- beſitzes an gewiſſe Bedingungen knüpfen möchte, in ihren gemäßigten Vertretern jedenfalls durch eine Bevorzugung eines Erben im Erbrecht die beſtehende Verteilung erhalten, den Grundbeſitz vor Zerſplitterung und Überſchuldung bewahren will. Den ſtärkſten Anſtoß zu Erörterungen und Fragen dieſer Art gab die Verfaſſung des Grundeigentums da, wo der wirtſchaftende Eigentümer in wachſende Abhängigkeit von Hypothekengläubigern kam, oder wo mehr und mehr der Grundeigentümer aufhörte, Landwirtſchaft zu treiben, ein bloßer Rentner wurde. Bei ſtarker Überſchuldung, wie ſie ein Teil der kleinſten mitteleuropäiſchen Grundeigentümer und ein Teil der oſteuropäiſchen Gutsbeſitzer zeigt, werden materiell die Gläubiger Eigentümer, der juriſtiſche Eigentümer iſt ihr Verwalter, oft ein ausgebeuteter, ſchwer bedrängter Verwalter. Der engliſche Großgrundbeſitz zeigt faſt gar keine Verſchuldung, er iſt die Grundlage einer immer noch großen und geſunden Ariſtokratie; ob die ſo vom großen Beſitz bezogene Rente dem Staate und der Geſellſchaft durch die Leiſtungen der Ariſtokratie zu gute komme, davon hängt die innere Berechtigung ſolch weitgehender Ungleichheit der Verteilung ab. Außerdem iſt, da wo die Pacht ſich ausdehnt, wichtig, welche Stellung die Pächter haben; die engliſchen, meiſt aus den ehemaligen Bauern hervorgegangenen Zeitpächter ſtellen einen beſitzenden Mittelſtand dar, der freilich ſucceſſiv in etwas ungünſtigere Lage gekommen iſt; der iriſche kleine Pächterſtand, von Mittelsperſonen und jährlichem Kontrakt abhängig, ohne jeden moraliſchen und politiſchen Zuſammenhang mit den engliſchen, faſt ſtets außerhalb Landes reſidierenden Großgrundbeſitzern, zeigt uns ein Bild ungeſundeſter Agrarverfaſſung. In den ſüdeuropäiſchen und romaniſchen Ländern bildet ein großer Teil des Grundeigentums nur einen Rententitel für ſtädtiſche Kapital- beſitzer, Honoratioren, Advokaten, Notare, Kaufleute. Die in Zeit- und Halbpacht ſitzenden Bebauer ſind in leidlicher Lage da, wo noch patriarchaliſche Beziehungen herrſchen. Wo dieſe fehlen, iſt eine ungeſunde Ausbeutung der Pächter, proletariſches Elend unter ihnen nicht zu leugnen. Die ernſtliche, zumal für Irland, für Sicilien, aber auch ſonſt aufgeworfene Frage, inwieweit Staat und Geſetzgebung die kleinen Pächter vor dem Druck und der Ausbeutung der Grundbeſitzer ſchützen ſolle, zeigt eben- falls, wie wenig das Princip des unbedingt freien Grundeigentums heute vorhält. In Deutſchland haben wir, von den größeren, vorhin erwähnten Domänenpächtern abgeſehen, noch wenig Pacht; der wirtſchaftende Eigentümer überwiegt noch vollſtändig im Mittel- und Bauernbeſitz; nur in der Nähe der Städte, in Fabrikgegenden, in dem Gebiete der dichteſten Bevölkerung fängt die Klein- und Parzellenpacht an, etwas häufiger zu werden; aber ſie hat noch nichts Bedenkliches. Und auch das Maß der Verſchuldung des Grundbeſitzes iſt für die meiſten Gegenden und für den erheblicheren Teil des Groß- und Mittelbeſitzes, ſowie für die eigentlichen Bauerngüter erſt in neueſter Zeit durch die lange landwirtſchaftliche Kriſis, in Folge der überſeeiſchen Kon- kurrenz, bedenklich geworden. Es kommt darauf an, dem Bauernſtand durch eine große Agrarpolitik über dieſelbe weg zu helfen, einen Teil des unhaltbar gewordenen ritter- ſchaftlichen, überſchuldeten Beſitzes in Bauerngüter unter günſtigen Bedingungen über- zuführen, der Neuverſchuldung beſtimmte Grenzen zu ſetzen. Die frühere techniſche Über- legenheit der großen über die kleinen Betriebe beginnt zu verſchwinden, weil die Bildung und Technik des Bauernſtandes ſich ſehr gehoben hat. Neben den Wandlungen, welche das weſteuropäiſche Grundeigentumsrecht von 1750—1850 im Sinne der Überführung feudalen und unfrei bäuerlichen Eigentums in das freie, wenn auch mannigfach noch beſchränkte Privateigentum der neueren Zeit erfahren hat, ſtehen in der Zeit von 1850 bis zur Gegenwart die großen Veränderungen im Grundeigentumsrecht und in der Landpolitik Rußlands, Brittiſch-Indiens und Nord- amerikas. In Rußland hat die Emancipationsgeſetzgebung von 1861 zunächſt das bäuerliche und grundherrliche Eigentum nach Teilungsgrundſätzen geſchieden, wobei der Bauer zu

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/394>, abgerufen am 22.11.2024.