Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die Hörigkeit; ihre wirtschaftliche und historische Würdigung. Militär-, Gerichts- und anderen Diensten der Freien vielfach ganz oder zum Teil befreit;oft hat er Anspruch auf Zuweisung einer Ackerstelle oder einer anderen Erwerbsgelegen- heit gegenüber seinem Herrn. Die Verhältnisse sind sehr mannigfaltig; es kommen Halbfreie in älterer Zeit auch in Städten und gewerblichen Betrieben vor, wie z. B. die griechischen Periöken, dann die römischen Freigelassenen, die amerikanischen Dienstleute des 17. und 18. Jahrhunderts eine solche Klasse darstellen; überwiegend aber sind die Halbfreien kleine Ackerbauer in Ländern einer sparsamen Bevölkerung ohne Geldwirtschaft, die Hintersassen des feudalen Grund- und Gutsherrn. Es handelt sich bei dem Verhältnis dieser Halbfreien ebenso sehr um eine Ver- Es war im ganzen ein zu rohes Rechtsverhältnis und eine zu rohe Art der Die Zahl der Sklaven im Altertume und in den heutigen Staaten und Kolonien Die Hörigkeit; ihre wirtſchaftliche und hiſtoriſche Würdigung. Militär-, Gerichts- und anderen Dienſten der Freien vielfach ganz oder zum Teil befreit;oft hat er Anſpruch auf Zuweiſung einer Ackerſtelle oder einer anderen Erwerbsgelegen- heit gegenüber ſeinem Herrn. Die Verhältniſſe ſind ſehr mannigfaltig; es kommen Halbfreie in älterer Zeit auch in Städten und gewerblichen Betrieben vor, wie z. B. die griechiſchen Periöken, dann die römiſchen Freigelaſſenen, die amerikaniſchen Dienſtleute des 17. und 18. Jahrhunderts eine ſolche Klaſſe darſtellen; überwiegend aber ſind die Halbfreien kleine Ackerbauer in Ländern einer ſparſamen Bevölkerung ohne Geldwirtſchaft, die Hinterſaſſen des feudalen Grund- und Gutsherrn. Es handelt ſich bei dem Verhältnis dieſer Halbfreien ebenſo ſehr um eine Ver- Es war im ganzen ein zu rohes Rechtsverhältnis und eine zu rohe Art der Die Zahl der Sklaven im Altertume und in den heutigen Staaten und Kolonien <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0357" n="341"/><fw place="top" type="header">Die Hörigkeit; ihre wirtſchaftliche und hiſtoriſche Würdigung.</fw><lb/> Militär-, Gerichts- und anderen Dienſten der Freien vielfach ganz oder zum Teil befreit;<lb/> oft hat er Anſpruch auf Zuweiſung einer Ackerſtelle oder einer anderen Erwerbsgelegen-<lb/> heit gegenüber ſeinem Herrn. Die Verhältniſſe ſind ſehr mannigfaltig; es kommen<lb/> Halbfreie in älterer Zeit auch in Städten und gewerblichen Betrieben vor, wie z. B. die<lb/> griechiſchen Periöken, dann die römiſchen Freigelaſſenen, die amerikaniſchen Dienſtleute<lb/> des 17. und 18. Jahrhunderts eine ſolche Klaſſe darſtellen; überwiegend aber ſind die<lb/> Halbfreien kleine Ackerbauer in Ländern einer ſparſamen Bevölkerung ohne Geldwirtſchaft,<lb/> die Hinterſaſſen des feudalen Grund- und Gutsherrn.</p><lb/> <p>Es handelt ſich bei dem Verhältnis dieſer Halbfreien ebenſo ſehr um eine Ver-<lb/> faſſungs- und Verwaltungseinrichtung wie um die Ordnung des Arbeitsverhältniſſes.<lb/> Verſchiedene Stämme und Raſſen konnten urſprünglich nicht in anderer Form ein ein-<lb/> heitliches Gemeinweſen bilden, als in der von freien und halbfreien, ſtreng geſchiedenen<lb/> Klaſſen; die Staats- und Kirchengewalt, die kriegeriſche Verfaſſung, die lokale Verwaltung<lb/> konnte, ſo lange es keine Steuern gab, nicht anders organiſiert werden, als durch Zu-<lb/> weiſung von Land und Hörigen an diejenigen, welche dieſe höheren Dienſte für die<lb/> Geſamtheit übernahmen. Auch wo im Anfang der Fürſt, der Prieſter, der Ritter eine<lb/> Ackerwirtſchaft ähnlich wie der unterworfene Hörige führte, war der letztere doch zu<lb/> gewiſſen Abgaben und Dienſten verpflichtet, und mehr und mehr mußte es dahin kommen,<lb/> daß die höheren Klaſſen, um ihren Pflichten zu genügen, von der mechaniſchen Acker-<lb/> und Hausarbeit ganz entlaſtet, dieſe ausſchließlich den Hörigen aufgebürdet wurde. Sie<lb/> mußten Straßen und Kanäle, Kirchen und Burgen bauen, die Fuhren für die öffentliche<lb/> Verwaltung und die Großen übernehmen, ihnen den Acker beſtellen, die Kinder ihnen<lb/> für Jahre zum Geſindedienſte ausliefern. Die Ariſtokratie war ſo vom Drucke mecha-<lb/> niſcher Arbeit und Lebensnot befreit, die große Maſſe der Hörigen mußte ackern und<lb/> fronen, damit bei dem damaligen Stande der Technik der Staat, die Kirche, ſowie die<lb/> höheren Klaſſen als Träger der Kultur beſtehen konnten. Es war eine tiefgreifende<lb/> Arbeitsteilung, die trotz aller Härten und Mißbräuche, die ſie erzeugte, für ihre Zeit<lb/> ſo notwendig war wie jede andere. Es war ein Syſtem, das höher ſtand als die<lb/> Sklaverei, weil es dem Halbfreien immer eine beſchränkte Sphäre individueller Freiheit<lb/> und perſönlichen Eigentums garantierte; da wo der Druck nicht zu groß war, konnte<lb/> eine gewiſſe Freude am eigenen Erwerbe, am Familienleben, am Vaterlande entſtehen.<lb/> Aber auch oft war die Belaſtung eine ſo ſchwere, daß Stumpfheit und Gleichgültigkeit<lb/> die Folge war, jedes Intereſſe an der Arbeit erlahmte.</p><lb/> <p>Es war im ganzen ein zu rohes Rechtsverhältnis und eine zu rohe Art der<lb/> Arbeitsteilung; es mußte zurücktreten und verſchwinden in dem Maße, wie die Gefühle,<lb/> Rechtsanſchauungen und ſocialen Einrichtungen ſich verfeinerten, wie beſſere und feinere<lb/> Arbeit gefordert wurde, wie die dichtere Bevölkerung, der beſſere Verkehr, die Geldwirt-<lb/> ſchaft und die fortſchreitende Technik beſſere Formen der Arbeitsteilung ermöglichten.<lb/> Wie im Altertum und Mittelalter die begabteren Unfreien und Halbfreien, die mit<lb/> ſpecialiſierter, höher geſchätzter Thätigkeit Befaßten vielfach zur perſönlichen Freiheit,<lb/> ja zur Ariſtokratie aufſtiegen — ich erinnere an die Freigelaſſenen Roms, an die ritter-<lb/> lichen unfreien Miniſterialen, an die urſprünglich unfreien Handwerker und Kaufleute<lb/> in den mittelalterlichen Städten —, ſo hat in ſpäterer Zeit auch die geſamte ländliche<lb/> hörige Bevölkerung die perſönliche Freiheit erreicht. Vom 15.—19. Jahrhundert haben<lb/> die Hörigen Europas ſich losgekauft oder ſind durch Ablöſungsgeſetze befreit worden;<lb/> ein Teil derſelben wurde damit in einen Stand kleiner Grundeigentümer, ein anderer<lb/> in freie Lohnarbeiter verwandelt. Es iſt klar, daß die Nachwirkung dieſer älteren Zu-<lb/> ſtände heute noch nicht verſchwunden ſein kann. Die Mehrzahl unſerer europäiſchen<lb/> Lohnarbeiter ſind Nachkommen von Hörigen; in unſeren Einrichtungen und Sitten ſind<lb/> noch zahlreiche Nachklänge der älteren Zuſtände.</p><lb/> <p>Die Zahl der Sklaven im Altertume und in den heutigen Staaten und Kolonien<lb/> iſt wohl nie ſo umfangreich geweſen wie die der Hörigen. Nach den neueſten Forſchungen<lb/> betrugen ſie in Griechenland und Italien ſeinerzeit nicht leicht irgendwo mehr als die<lb/> Hälfte der Freien, wozu freilich noch mannigfach Halbfreie, Metöken, Freigelaſſene<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [341/0357]
Die Hörigkeit; ihre wirtſchaftliche und hiſtoriſche Würdigung.
Militär-, Gerichts- und anderen Dienſten der Freien vielfach ganz oder zum Teil befreit;
oft hat er Anſpruch auf Zuweiſung einer Ackerſtelle oder einer anderen Erwerbsgelegen-
heit gegenüber ſeinem Herrn. Die Verhältniſſe ſind ſehr mannigfaltig; es kommen
Halbfreie in älterer Zeit auch in Städten und gewerblichen Betrieben vor, wie z. B. die
griechiſchen Periöken, dann die römiſchen Freigelaſſenen, die amerikaniſchen Dienſtleute
des 17. und 18. Jahrhunderts eine ſolche Klaſſe darſtellen; überwiegend aber ſind die
Halbfreien kleine Ackerbauer in Ländern einer ſparſamen Bevölkerung ohne Geldwirtſchaft,
die Hinterſaſſen des feudalen Grund- und Gutsherrn.
Es handelt ſich bei dem Verhältnis dieſer Halbfreien ebenſo ſehr um eine Ver-
faſſungs- und Verwaltungseinrichtung wie um die Ordnung des Arbeitsverhältniſſes.
Verſchiedene Stämme und Raſſen konnten urſprünglich nicht in anderer Form ein ein-
heitliches Gemeinweſen bilden, als in der von freien und halbfreien, ſtreng geſchiedenen
Klaſſen; die Staats- und Kirchengewalt, die kriegeriſche Verfaſſung, die lokale Verwaltung
konnte, ſo lange es keine Steuern gab, nicht anders organiſiert werden, als durch Zu-
weiſung von Land und Hörigen an diejenigen, welche dieſe höheren Dienſte für die
Geſamtheit übernahmen. Auch wo im Anfang der Fürſt, der Prieſter, der Ritter eine
Ackerwirtſchaft ähnlich wie der unterworfene Hörige führte, war der letztere doch zu
gewiſſen Abgaben und Dienſten verpflichtet, und mehr und mehr mußte es dahin kommen,
daß die höheren Klaſſen, um ihren Pflichten zu genügen, von der mechaniſchen Acker-
und Hausarbeit ganz entlaſtet, dieſe ausſchließlich den Hörigen aufgebürdet wurde. Sie
mußten Straßen und Kanäle, Kirchen und Burgen bauen, die Fuhren für die öffentliche
Verwaltung und die Großen übernehmen, ihnen den Acker beſtellen, die Kinder ihnen
für Jahre zum Geſindedienſte ausliefern. Die Ariſtokratie war ſo vom Drucke mecha-
niſcher Arbeit und Lebensnot befreit, die große Maſſe der Hörigen mußte ackern und
fronen, damit bei dem damaligen Stande der Technik der Staat, die Kirche, ſowie die
höheren Klaſſen als Träger der Kultur beſtehen konnten. Es war eine tiefgreifende
Arbeitsteilung, die trotz aller Härten und Mißbräuche, die ſie erzeugte, für ihre Zeit
ſo notwendig war wie jede andere. Es war ein Syſtem, das höher ſtand als die
Sklaverei, weil es dem Halbfreien immer eine beſchränkte Sphäre individueller Freiheit
und perſönlichen Eigentums garantierte; da wo der Druck nicht zu groß war, konnte
eine gewiſſe Freude am eigenen Erwerbe, am Familienleben, am Vaterlande entſtehen.
Aber auch oft war die Belaſtung eine ſo ſchwere, daß Stumpfheit und Gleichgültigkeit
die Folge war, jedes Intereſſe an der Arbeit erlahmte.
Es war im ganzen ein zu rohes Rechtsverhältnis und eine zu rohe Art der
Arbeitsteilung; es mußte zurücktreten und verſchwinden in dem Maße, wie die Gefühle,
Rechtsanſchauungen und ſocialen Einrichtungen ſich verfeinerten, wie beſſere und feinere
Arbeit gefordert wurde, wie die dichtere Bevölkerung, der beſſere Verkehr, die Geldwirt-
ſchaft und die fortſchreitende Technik beſſere Formen der Arbeitsteilung ermöglichten.
Wie im Altertum und Mittelalter die begabteren Unfreien und Halbfreien, die mit
ſpecialiſierter, höher geſchätzter Thätigkeit Befaßten vielfach zur perſönlichen Freiheit,
ja zur Ariſtokratie aufſtiegen — ich erinnere an die Freigelaſſenen Roms, an die ritter-
lichen unfreien Miniſterialen, an die urſprünglich unfreien Handwerker und Kaufleute
in den mittelalterlichen Städten —, ſo hat in ſpäterer Zeit auch die geſamte ländliche
hörige Bevölkerung die perſönliche Freiheit erreicht. Vom 15.—19. Jahrhundert haben
die Hörigen Europas ſich losgekauft oder ſind durch Ablöſungsgeſetze befreit worden;
ein Teil derſelben wurde damit in einen Stand kleiner Grundeigentümer, ein anderer
in freie Lohnarbeiter verwandelt. Es iſt klar, daß die Nachwirkung dieſer älteren Zu-
ſtände heute noch nicht verſchwunden ſein kann. Die Mehrzahl unſerer europäiſchen
Lohnarbeiter ſind Nachkommen von Hörigen; in unſeren Einrichtungen und Sitten ſind
noch zahlreiche Nachklänge der älteren Zuſtände.
Die Zahl der Sklaven im Altertume und in den heutigen Staaten und Kolonien
iſt wohl nie ſo umfangreich geweſen wie die der Hörigen. Nach den neueſten Forſchungen
betrugen ſie in Griechenland und Italien ſeinerzeit nicht leicht irgendwo mehr als die
Hälfte der Freien, wozu freilich noch mannigfach Halbfreie, Metöken, Freigelaſſene
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