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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Entstehung der Arbeitsteilung.
moralische und politische, ja auch große wirtschaftliche Vorteile. Noch heute stellt jede
Familienwirtschaft solche Kombinationen dar, aus der durch Arbeitsteilung dies und
jenes (z. B. das Bereiten der Mahlzeiten) unter Umständen auszuschalten wäre. Die
Kleinbauern und Tagelöhner, die Maurer und Zimmerleute, die im Winter weben und
schnitzen, können für bestimmte Verhältnisse heute ebenso am Platze sein, wie vor
400 Jahren der Schuster, der zugleich Gerber war. Da und dort kann freilich auch
die Not zu heterogenen Verbindungen führen, welche nicht hergebracht, sondern, aus Not
neu erdacht und geübt, technisch geringe Leistungen zum Ergebnis haben. Wo unter
bestimmten Verhältnissen technische Funktionen, die anderwärts längst getrennt sind,
noch in einer Person sich vereinigen, könnte man von halber Arbeitsteilung reden,
während wir unter der ganzen Arbeitsteilung diejenigen specialisierten Thätigkeiten ver-
stehen, welche die Lebensarbeit der Betreffenden ganz oder überwiegend ausmachen. Wir
werden so die Arbeitsteilung definieren können als die überwiegende und dauernde An-
passung der menschlichen Arbeitskräfte an bestimmte specialisierte Aufgaben und Thätig-
keiten, welche der einzelne nicht für sich, sondern für mehrere, für viele, für das Volk
oder auch für Fremde ausübt.

Ist das Neue von Anfang an so eigentümlich, bedeutsam, zeit- und kräfteraubend,
daß es gar nicht in den Kreis der alten Hauswirtschaft und Lebensweise eingefügt wird,
sondern gleich besondere Kräfte und Geschäfte fordert, wie z. B. heute die Photographie,
die Produktion von Gas, Elektricität, Lokomotiven, so sprechen wir doch ebenso von
Arbeitsteilung, wie wenn das Spinnen und Weben aus der Familienwirtschaft aus-
geschaltet wird. Und ebenso wenn zwei bisher fremde Stämme ihre Waren und Produkte
tauschen, die sie bisher nicht kannten. Unser Sprachgefühl, welches Derartiges Arbeits-
teilung nennt, fingiert dabei nicht, daß früher das Getrennte in einer Hand gelegen
habe, sondern es will nur sagen: eine rechtlich und gesellschaftlich irgendwie geordnete
nationale oder internationale Gemeinschaft hat Teile ihrer gemeinsamen Bedürfnisse
einzelnen zu befriedigen übertragen.

Die Resultate, welche mit der Arbeitsteilung erreicht werden, können historisch
nicht ihre Ursache sein, denn sie konnten in ihrem ganzen Umfange nicht vorausgesehen
werden. Auch ein angeblicher Tauschtrieb kann nicht, wie A. Smith meint, der kausale
Ausgangspunkt sein, denn es giebt eine umfangreiche Arbeitsteilung ohne Tausch, z. B.
im Geschlecht, in der Familie, und die primitiven Menschen haben eher eine Abneigung
gegen den Tausch, wie sie eine Abneigung gegen jede Änderung hergebrachter Lebens-
gewohnheiten besitzen. Diese mußte überwunden werden, so oft ein Schritt der Arbeits-
teilung gelingen sollte, und deshalb war jeder Fortschritt schwierig und langsam; er
hing stets an der nie leicht gelingenden Ausbildung neuer Sitten und Institutionen.
Doch wirkt diesen Hindernissen entgegen, was allen Fortschritt bedingt: die Lust am
Neuen, der tastende Sinn nach Verbesserung, die Not des Lebens, die zu Versuchen treibt,
über die Schwierigkeiten der Existenz besser Herr zu werden, der Spürsinn, der nach
verbesserter Leistung sucht, die dämmernde Einsicht in das kräftesparende Princip der
Arbeitsteilung. Endlich gab die Verschiedenheit der menschlichen Kräfte gleichsam eine
stillschweigende Anleitung zur Arbeitsteilung.

Freilich hat oft auch erst sie die Kräfte nach und nach differenziert. Und bei
allen Stämmen niederer Kultur ist die Verschiedenheit der Individuen ja noch un-
erheblich oder wird sie nicht bemerkt. Aber mindestens der Unterschied des Alters
gab Anlaß zu zeitweiser, der des Geschlechtes zu dauernder verschiedener Thätigkeit.
Außerdem: gewisse Differenzen der Kraft, des Fleißes, der Klugheit hat es stets gegeben,
und sie traten stärker hervor, wenn der Vater seinen Söhnen dauernd verschiedene Auf-
gaben zuwies; sie zeigten sich deutlich, wenn große technische oder wirtschaftliche Fort-
schritte in Frage standen, denen die einen gewachsen waren, während die anderen sich
als unfähig zeigten, sie mitzumachen. Jedenfalls aber waren, seit es verschiedene Rassen
gab, seit die verschiedenen Stämme teils im Gebirge, teils in der Ebene, teils am Wasser
lebten, seit so verschiedene Arten der Ernährung, der Lebensweise, der Geschicklichkeit sich
ausbildeten, die Individuen der einzelnen Rassen und Stämme durch einen Jahrtausende

Die Entſtehung der Arbeitsteilung.
moraliſche und politiſche, ja auch große wirtſchaftliche Vorteile. Noch heute ſtellt jede
Familienwirtſchaft ſolche Kombinationen dar, aus der durch Arbeitsteilung dies und
jenes (z. B. das Bereiten der Mahlzeiten) unter Umſtänden auszuſchalten wäre. Die
Kleinbauern und Tagelöhner, die Maurer und Zimmerleute, die im Winter weben und
ſchnitzen, können für beſtimmte Verhältniſſe heute ebenſo am Platze ſein, wie vor
400 Jahren der Schuſter, der zugleich Gerber war. Da und dort kann freilich auch
die Not zu heterogenen Verbindungen führen, welche nicht hergebracht, ſondern, aus Not
neu erdacht und geübt, techniſch geringe Leiſtungen zum Ergebnis haben. Wo unter
beſtimmten Verhältniſſen techniſche Funktionen, die anderwärts längſt getrennt ſind,
noch in einer Perſon ſich vereinigen, könnte man von halber Arbeitsteilung reden,
während wir unter der ganzen Arbeitsteilung diejenigen ſpecialiſierten Thätigkeiten ver-
ſtehen, welche die Lebensarbeit der Betreffenden ganz oder überwiegend ausmachen. Wir
werden ſo die Arbeitsteilung definieren können als die überwiegende und dauernde An-
paſſung der menſchlichen Arbeitskräfte an beſtimmte ſpecialiſierte Aufgaben und Thätig-
keiten, welche der einzelne nicht für ſich, ſondern für mehrere, für viele, für das Volk
oder auch für Fremde ausübt.

Iſt das Neue von Anfang an ſo eigentümlich, bedeutſam, zeit- und kräfteraubend,
daß es gar nicht in den Kreis der alten Hauswirtſchaft und Lebensweiſe eingefügt wird,
ſondern gleich beſondere Kräfte und Geſchäfte fordert, wie z. B. heute die Photographie,
die Produktion von Gas, Elektricität, Lokomotiven, ſo ſprechen wir doch ebenſo von
Arbeitsteilung, wie wenn das Spinnen und Weben aus der Familienwirtſchaft aus-
geſchaltet wird. Und ebenſo wenn zwei bisher fremde Stämme ihre Waren und Produkte
tauſchen, die ſie bisher nicht kannten. Unſer Sprachgefühl, welches Derartiges Arbeits-
teilung nennt, fingiert dabei nicht, daß früher das Getrennte in einer Hand gelegen
habe, ſondern es will nur ſagen: eine rechtlich und geſellſchaftlich irgendwie geordnete
nationale oder internationale Gemeinſchaft hat Teile ihrer gemeinſamen Bedürfniſſe
einzelnen zu befriedigen übertragen.

Die Reſultate, welche mit der Arbeitsteilung erreicht werden, können hiſtoriſch
nicht ihre Urſache ſein, denn ſie konnten in ihrem ganzen Umfange nicht vorausgeſehen
werden. Auch ein angeblicher Tauſchtrieb kann nicht, wie A. Smith meint, der kauſale
Ausgangspunkt ſein, denn es giebt eine umfangreiche Arbeitsteilung ohne Tauſch, z. B.
im Geſchlecht, in der Familie, und die primitiven Menſchen haben eher eine Abneigung
gegen den Tauſch, wie ſie eine Abneigung gegen jede Änderung hergebrachter Lebens-
gewohnheiten beſitzen. Dieſe mußte überwunden werden, ſo oft ein Schritt der Arbeits-
teilung gelingen ſollte, und deshalb war jeder Fortſchritt ſchwierig und langſam; er
hing ſtets an der nie leicht gelingenden Ausbildung neuer Sitten und Inſtitutionen.
Doch wirkt dieſen Hinderniſſen entgegen, was allen Fortſchritt bedingt: die Luſt am
Neuen, der taſtende Sinn nach Verbeſſerung, die Not des Lebens, die zu Verſuchen treibt,
über die Schwierigkeiten der Exiſtenz beſſer Herr zu werden, der Spürſinn, der nach
verbeſſerter Leiſtung ſucht, die dämmernde Einſicht in das kräfteſparende Princip der
Arbeitsteilung. Endlich gab die Verſchiedenheit der menſchlichen Kräfte gleichſam eine
ſtillſchweigende Anleitung zur Arbeitsteilung.

Freilich hat oft auch erſt ſie die Kräfte nach und nach differenziert. Und bei
allen Stämmen niederer Kultur iſt die Verſchiedenheit der Individuen ja noch un-
erheblich oder wird ſie nicht bemerkt. Aber mindeſtens der Unterſchied des Alters
gab Anlaß zu zeitweiſer, der des Geſchlechtes zu dauernder verſchiedener Thätigkeit.
Außerdem: gewiſſe Differenzen der Kraft, des Fleißes, der Klugheit hat es ſtets gegeben,
und ſie traten ſtärker hervor, wenn der Vater ſeinen Söhnen dauernd verſchiedene Auf-
gaben zuwies; ſie zeigten ſich deutlich, wenn große techniſche oder wirtſchaftliche Fort-
ſchritte in Frage ſtanden, denen die einen gewachſen waren, während die anderen ſich
als unfähig zeigten, ſie mitzumachen. Jedenfalls aber waren, ſeit es verſchiedene Raſſen
gab, ſeit die verſchiedenen Stämme teils im Gebirge, teils in der Ebene, teils am Waſſer
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[327/0343] Die Entſtehung der Arbeitsteilung. moraliſche und politiſche, ja auch große wirtſchaftliche Vorteile. Noch heute ſtellt jede Familienwirtſchaft ſolche Kombinationen dar, aus der durch Arbeitsteilung dies und jenes (z. B. das Bereiten der Mahlzeiten) unter Umſtänden auszuſchalten wäre. Die Kleinbauern und Tagelöhner, die Maurer und Zimmerleute, die im Winter weben und ſchnitzen, können für beſtimmte Verhältniſſe heute ebenſo am Platze ſein, wie vor 400 Jahren der Schuſter, der zugleich Gerber war. Da und dort kann freilich auch die Not zu heterogenen Verbindungen führen, welche nicht hergebracht, ſondern, aus Not neu erdacht und geübt, techniſch geringe Leiſtungen zum Ergebnis haben. Wo unter beſtimmten Verhältniſſen techniſche Funktionen, die anderwärts längſt getrennt ſind, noch in einer Perſon ſich vereinigen, könnte man von halber Arbeitsteilung reden, während wir unter der ganzen Arbeitsteilung diejenigen ſpecialiſierten Thätigkeiten ver- ſtehen, welche die Lebensarbeit der Betreffenden ganz oder überwiegend ausmachen. Wir werden ſo die Arbeitsteilung definieren können als die überwiegende und dauernde An- paſſung der menſchlichen Arbeitskräfte an beſtimmte ſpecialiſierte Aufgaben und Thätig- keiten, welche der einzelne nicht für ſich, ſondern für mehrere, für viele, für das Volk oder auch für Fremde ausübt. Iſt das Neue von Anfang an ſo eigentümlich, bedeutſam, zeit- und kräfteraubend, daß es gar nicht in den Kreis der alten Hauswirtſchaft und Lebensweiſe eingefügt wird, ſondern gleich beſondere Kräfte und Geſchäfte fordert, wie z. B. heute die Photographie, die Produktion von Gas, Elektricität, Lokomotiven, ſo ſprechen wir doch ebenſo von Arbeitsteilung, wie wenn das Spinnen und Weben aus der Familienwirtſchaft aus- geſchaltet wird. Und ebenſo wenn zwei bisher fremde Stämme ihre Waren und Produkte tauſchen, die ſie bisher nicht kannten. Unſer Sprachgefühl, welches Derartiges Arbeits- teilung nennt, fingiert dabei nicht, daß früher das Getrennte in einer Hand gelegen habe, ſondern es will nur ſagen: eine rechtlich und geſellſchaftlich irgendwie geordnete nationale oder internationale Gemeinſchaft hat Teile ihrer gemeinſamen Bedürfniſſe einzelnen zu befriedigen übertragen. Die Reſultate, welche mit der Arbeitsteilung erreicht werden, können hiſtoriſch nicht ihre Urſache ſein, denn ſie konnten in ihrem ganzen Umfange nicht vorausgeſehen werden. Auch ein angeblicher Tauſchtrieb kann nicht, wie A. Smith meint, der kauſale Ausgangspunkt ſein, denn es giebt eine umfangreiche Arbeitsteilung ohne Tauſch, z. B. im Geſchlecht, in der Familie, und die primitiven Menſchen haben eher eine Abneigung gegen den Tauſch, wie ſie eine Abneigung gegen jede Änderung hergebrachter Lebens- gewohnheiten beſitzen. Dieſe mußte überwunden werden, ſo oft ein Schritt der Arbeits- teilung gelingen ſollte, und deshalb war jeder Fortſchritt ſchwierig und langſam; er hing ſtets an der nie leicht gelingenden Ausbildung neuer Sitten und Inſtitutionen. Doch wirkt dieſen Hinderniſſen entgegen, was allen Fortſchritt bedingt: die Luſt am Neuen, der taſtende Sinn nach Verbeſſerung, die Not des Lebens, die zu Verſuchen treibt, über die Schwierigkeiten der Exiſtenz beſſer Herr zu werden, der Spürſinn, der nach verbeſſerter Leiſtung ſucht, die dämmernde Einſicht in das kräfteſparende Princip der Arbeitsteilung. Endlich gab die Verſchiedenheit der menſchlichen Kräfte gleichſam eine ſtillſchweigende Anleitung zur Arbeitsteilung. Freilich hat oft auch erſt ſie die Kräfte nach und nach differenziert. Und bei allen Stämmen niederer Kultur iſt die Verſchiedenheit der Individuen ja noch un- erheblich oder wird ſie nicht bemerkt. Aber mindeſtens der Unterſchied des Alters gab Anlaß zu zeitweiſer, der des Geſchlechtes zu dauernder verſchiedener Thätigkeit. Außerdem: gewiſſe Differenzen der Kraft, des Fleißes, der Klugheit hat es ſtets gegeben, und ſie traten ſtärker hervor, wenn der Vater ſeinen Söhnen dauernd verſchiedene Auf- gaben zuwies; ſie zeigten ſich deutlich, wenn große techniſche oder wirtſchaftliche Fort- ſchritte in Frage ſtanden, denen die einen gewachſen waren, während die anderen ſich als unfähig zeigten, ſie mitzumachen. Jedenfalls aber waren, ſeit es verſchiedene Raſſen gab, ſeit die verſchiedenen Stämme teils im Gebirge, teils in der Ebene, teils am Waſſer lebten, ſeit ſo verſchiedene Arten der Ernährung, der Lebensweiſe, der Geſchicklichkeit ſich ausbildeten, die Individuen der einzelnen Raſſen und Stämme durch einen Jahrtauſende

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/343>, abgerufen am 22.11.2024.