Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
werden können (z. B. Bibliotheken), übernehmen. Man hat sich bemüht, alle diese Erscheinungen auf Gemeinbedürfnisse, im Gegensatze zu den Individualbedürfnissen, zurückzuführen.
So wenig solchen Versuchen ein gewisser wissenschaftlicher Wert abzusprechen ist, so wenig können sie doch praktisch im einzelnen Falle entscheiden. Es handelt sich um einen großen, langsamen Umbildungsprozeß, wie wir schon sahen; dabei entscheiden neben den Principien und großen Ursachen viele kleine, unter denen die jeweiligen Machtverhältnisse der Regierungen, der Parteien und Klassen, die Fähigkeit und Integrität des Beamtentums obenan stehen. Ein Staatseisenbahnsystem ist in einem gut regierten monarchischen Staate mit tüchtigen Beamten vielleicht ebenso zu empfehlen wie in einem Lande mit bestechlichen Beamten und ausgedehnter parlamentarischer Patronage zu widerraten.
Eines bleibt immer wünschenswert: weder darf die öffentliche Wirtschaft die private, noch diese jene verschlingen; sie müssen sich die Wage halten, sich gegenseitig korrigieren: keine dauernd segensreiche Steigerung der Staatsgewalt und der Staats- finanz ohne entsprechende Fortschritte der individuellen Freiheit, der Freiheit der Vereine, der Gemeinden und sonstigen Körperschaften. Mancherlei hat der Staat und die Finanz auch nur vorübergehend übernommen, um einer Organisation den Stempel ihrer gemein- nützigen Ideen aufzudrücken; dann kann der Staat die Anstalt wieder anderen unter ihm stehenden Organen übergeben. Jedenfalls aber ist heute auch in unserer Technik und in unserem Verkehr kein Grund vorhanden, daß eine ungeheure staatliche Riesen- maschine Familie und Unternehmung absorbierte. Sie sind die einfacheren, natürlichen, viel leichter herzustellenden, auf sicherer wirkenden psychologischen Motiven beruhenden Organe. Jedes Bedürfnis, das mit einem einfachen socialen Apparate ebenso gut und billiger befriedigt werden kann, darf nicht einem großen und komplizierten, teureren Mecha- nismus überliefert werden. Wenn heute noch in Deutschland die Hälfte aller Menschen ihre Kartoffeln, ihr Brot, ihr Schweinefleisch selbst produzieren, wozu sollen diese Produkte den Umweg durch einen socialistischen Staatsapparat machen? Die Individuen, die Familien, die kleineren und größeren Geschäftsunternehmungen, die arbeitsteilig für einander arbeiten, werden heute wie in absehbarer Zukunft trotz der Unvollkommenheiten und Schattenseiten ihrer Produktion, auf die wir in anderem Zusammenhange kommen, die gewöhnlichen wirtschaftlichen Thätigkeiten behalten, jene alltäglichen Gegenstände her- stellen, die jeder beurteilen kann, deren Dringlichkeit jedem gleich deutlich ist, die wir teilweise auch vom Auslande beziehen, also aus Händen, denen die Staatsgewalt die Herstellung nur abnehmen könnte, wenn sie bereits zu einer Weltcentralstaatsgewalt geworden wäre. Dem Leben der Individuen und Familien wäre der wichtigste Teil seines Inhalts und seines Strebens, seiner Verantwortlichkeit und Freiheit genommen, wenn diese Alltagsbedürfnisse und ihre Befriedigung auf einen Staatsapparat übertragen wären. Die Mannigfaltigkeit und steigende Verschiedenheit der socialen Organisations- formen, die stets das Zeichen höherer Kultur ist, wäre durch die Monotonie der un- geheuerlichen Staatswirtschaft beseitigt.
Eine zahlenmäßige, breitere und sichere Kenntnis über das Verhältnis von öffent- licher und privater Wirtschaftsthätigkeit besitzen wir leider nicht. Aber einen ungefähren Maßstab dafür vermögen doch Zahlen wie die folgenden zu geben. David A. Wells führt aus, zu Anfang unseres Jahrhunderts hätten die Ausgaben der großbritannischen Regierung ein Drittel des Nationaleinkommens betragen (die enormen Kriegsausgaben hatten das Budget von 11 [1784] auf 116 Mill. L [1815] angeschwellt), heute machen sie ein Zwölftel aus. Mit den kommunalen Ausgaben werden sie wohl auch heute ein Sechstel betragen. Das preußische Volkseinkommen wird gegenwärtig auf 12 bis 15 Milliarden Mark geschätzt; die Regierung giebt 1900 (unter Zuschlag von 60 % des Reichsbudgets) 4,16 Milliarden Mark aus, also auch etwa 1/3 --1/4; mit Zufügung aller anderen öffentlichen Haushalte, aller Kirchen-, Stiftungs-, gemeinnützigen Haushalte wäre es noch mehr. Jedenfalls zeigen diese Zahlen die ungeheure, freilich nicht überall gleich große Bedeutung der öffentlichen Haushalte, ihren Einfluß auf die Volkswirtschaft.
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
werden können (z. B. Bibliotheken), übernehmen. Man hat ſich bemüht, alle dieſe Erſcheinungen auf Gemeinbedürfniſſe, im Gegenſatze zu den Individualbedürfniſſen, zurückzuführen.
So wenig ſolchen Verſuchen ein gewiſſer wiſſenſchaftlicher Wert abzuſprechen iſt, ſo wenig können ſie doch praktiſch im einzelnen Falle entſcheiden. Es handelt ſich um einen großen, langſamen Umbildungsprozeß, wie wir ſchon ſahen; dabei entſcheiden neben den Principien und großen Urſachen viele kleine, unter denen die jeweiligen Machtverhältniſſe der Regierungen, der Parteien und Klaſſen, die Fähigkeit und Integrität des Beamtentums obenan ſtehen. Ein Staatseiſenbahnſyſtem iſt in einem gut regierten monarchiſchen Staate mit tüchtigen Beamten vielleicht ebenſo zu empfehlen wie in einem Lande mit beſtechlichen Beamten und ausgedehnter parlamentariſcher Patronage zu widerraten.
Eines bleibt immer wünſchenswert: weder darf die öffentliche Wirtſchaft die private, noch dieſe jene verſchlingen; ſie müſſen ſich die Wage halten, ſich gegenſeitig korrigieren: keine dauernd ſegensreiche Steigerung der Staatsgewalt und der Staats- finanz ohne entſprechende Fortſchritte der individuellen Freiheit, der Freiheit der Vereine, der Gemeinden und ſonſtigen Körperſchaften. Mancherlei hat der Staat und die Finanz auch nur vorübergehend übernommen, um einer Organiſation den Stempel ihrer gemein- nützigen Ideen aufzudrücken; dann kann der Staat die Anſtalt wieder anderen unter ihm ſtehenden Organen übergeben. Jedenfalls aber iſt heute auch in unſerer Technik und in unſerem Verkehr kein Grund vorhanden, daß eine ungeheure ſtaatliche Rieſen- maſchine Familie und Unternehmung abſorbierte. Sie ſind die einfacheren, natürlichen, viel leichter herzuſtellenden, auf ſicherer wirkenden pſychologiſchen Motiven beruhenden Organe. Jedes Bedürfnis, das mit einem einfachen ſocialen Apparate ebenſo gut und billiger befriedigt werden kann, darf nicht einem großen und komplizierten, teureren Mecha- nismus überliefert werden. Wenn heute noch in Deutſchland die Hälfte aller Menſchen ihre Kartoffeln, ihr Brot, ihr Schweinefleiſch ſelbſt produzieren, wozu ſollen dieſe Produkte den Umweg durch einen ſocialiſtiſchen Staatsapparat machen? Die Individuen, die Familien, die kleineren und größeren Geſchäftsunternehmungen, die arbeitsteilig für einander arbeiten, werden heute wie in abſehbarer Zukunft trotz der Unvollkommenheiten und Schattenſeiten ihrer Produktion, auf die wir in anderem Zuſammenhange kommen, die gewöhnlichen wirtſchaftlichen Thätigkeiten behalten, jene alltäglichen Gegenſtände her- ſtellen, die jeder beurteilen kann, deren Dringlichkeit jedem gleich deutlich iſt, die wir teilweiſe auch vom Auslande beziehen, alſo aus Händen, denen die Staatsgewalt die Herſtellung nur abnehmen könnte, wenn ſie bereits zu einer Weltcentralſtaatsgewalt geworden wäre. Dem Leben der Individuen und Familien wäre der wichtigſte Teil ſeines Inhalts und ſeines Strebens, ſeiner Verantwortlichkeit und Freiheit genommen, wenn dieſe Alltagsbedürfniſſe und ihre Befriedigung auf einen Staatsapparat übertragen wären. Die Mannigfaltigkeit und ſteigende Verſchiedenheit der ſocialen Organiſations- formen, die ſtets das Zeichen höherer Kultur iſt, wäre durch die Monotonie der un- geheuerlichen Staatswirtſchaft beſeitigt.
Eine zahlenmäßige, breitere und ſichere Kenntnis über das Verhältnis von öffent- licher und privater Wirtſchaftsthätigkeit beſitzen wir leider nicht. Aber einen ungefähren Maßſtab dafür vermögen doch Zahlen wie die folgenden zu geben. David A. Wells führt aus, zu Anfang unſeres Jahrhunderts hätten die Ausgaben der großbritanniſchen Regierung ein Drittel des Nationaleinkommens betragen (die enormen Kriegsausgaben hatten das Budget von 11 [1784] auf 116 Mill. ₤ [1815] angeſchwellt), heute machen ſie ein Zwölftel aus. Mit den kommunalen Ausgaben werden ſie wohl auch heute ein Sechſtel betragen. Das preußiſche Volkseinkommen wird gegenwärtig auf 12 bis 15 Milliarden Mark geſchätzt; die Regierung giebt 1900 (unter Zuſchlag von 60 % des Reichsbudgets) 4,16 Milliarden Mark aus, alſo auch etwa ⅓—¼; mit Zufügung aller anderen öffentlichen Haushalte, aller Kirchen-, Stiftungs-, gemeinnützigen Haushalte wäre es noch mehr. Jedenfalls zeigen dieſe Zahlen die ungeheure, freilich nicht überall gleich große Bedeutung der öffentlichen Haushalte, ihren Einfluß auf die Volkswirtſchaft.
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[322/0338]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
werden können (z. B. Bibliotheken), übernehmen. Man hat ſich bemüht, alle dieſe
Erſcheinungen auf Gemeinbedürfniſſe, im Gegenſatze zu den Individualbedürfniſſen,
zurückzuführen.
So wenig ſolchen Verſuchen ein gewiſſer wiſſenſchaftlicher Wert abzuſprechen iſt,
ſo wenig können ſie doch praktiſch im einzelnen Falle entſcheiden. Es handelt ſich um
einen großen, langſamen Umbildungsprozeß, wie wir ſchon ſahen; dabei entſcheiden
neben den Principien und großen Urſachen viele kleine, unter denen die jeweiligen
Machtverhältniſſe der Regierungen, der Parteien und Klaſſen, die Fähigkeit und Integrität
des Beamtentums obenan ſtehen. Ein Staatseiſenbahnſyſtem iſt in einem gut regierten
monarchiſchen Staate mit tüchtigen Beamten vielleicht ebenſo zu empfehlen wie in einem
Lande mit beſtechlichen Beamten und ausgedehnter parlamentariſcher Patronage zu
widerraten.
Eines bleibt immer wünſchenswert: weder darf die öffentliche Wirtſchaft die
private, noch dieſe jene verſchlingen; ſie müſſen ſich die Wage halten, ſich gegenſeitig
korrigieren: keine dauernd ſegensreiche Steigerung der Staatsgewalt und der Staats-
finanz ohne entſprechende Fortſchritte der individuellen Freiheit, der Freiheit der Vereine,
der Gemeinden und ſonſtigen Körperſchaften. Mancherlei hat der Staat und die Finanz
auch nur vorübergehend übernommen, um einer Organiſation den Stempel ihrer gemein-
nützigen Ideen aufzudrücken; dann kann der Staat die Anſtalt wieder anderen unter
ihm ſtehenden Organen übergeben. Jedenfalls aber iſt heute auch in unſerer Technik
und in unſerem Verkehr kein Grund vorhanden, daß eine ungeheure ſtaatliche Rieſen-
maſchine Familie und Unternehmung abſorbierte. Sie ſind die einfacheren, natürlichen,
viel leichter herzuſtellenden, auf ſicherer wirkenden pſychologiſchen Motiven beruhenden
Organe. Jedes Bedürfnis, das mit einem einfachen ſocialen Apparate ebenſo gut und
billiger befriedigt werden kann, darf nicht einem großen und komplizierten, teureren Mecha-
nismus überliefert werden. Wenn heute noch in Deutſchland die Hälfte aller Menſchen
ihre Kartoffeln, ihr Brot, ihr Schweinefleiſch ſelbſt produzieren, wozu ſollen dieſe Produkte
den Umweg durch einen ſocialiſtiſchen Staatsapparat machen? Die Individuen, die
Familien, die kleineren und größeren Geſchäftsunternehmungen, die arbeitsteilig für
einander arbeiten, werden heute wie in abſehbarer Zukunft trotz der Unvollkommenheiten
und Schattenſeiten ihrer Produktion, auf die wir in anderem Zuſammenhange kommen,
die gewöhnlichen wirtſchaftlichen Thätigkeiten behalten, jene alltäglichen Gegenſtände her-
ſtellen, die jeder beurteilen kann, deren Dringlichkeit jedem gleich deutlich iſt, die wir
teilweiſe auch vom Auslande beziehen, alſo aus Händen, denen die Staatsgewalt die
Herſtellung nur abnehmen könnte, wenn ſie bereits zu einer Weltcentralſtaatsgewalt
geworden wäre. Dem Leben der Individuen und Familien wäre der wichtigſte Teil
ſeines Inhalts und ſeines Strebens, ſeiner Verantwortlichkeit und Freiheit genommen,
wenn dieſe Alltagsbedürfniſſe und ihre Befriedigung auf einen Staatsapparat übertragen
wären. Die Mannigfaltigkeit und ſteigende Verſchiedenheit der ſocialen Organiſations-
formen, die ſtets das Zeichen höherer Kultur iſt, wäre durch die Monotonie der un-
geheuerlichen Staatswirtſchaft beſeitigt.
Eine zahlenmäßige, breitere und ſichere Kenntnis über das Verhältnis von öffent-
licher und privater Wirtſchaftsthätigkeit beſitzen wir leider nicht. Aber einen ungefähren
Maßſtab dafür vermögen doch Zahlen wie die folgenden zu geben. David A. Wells
führt aus, zu Anfang unſeres Jahrhunderts hätten die Ausgaben der großbritanniſchen
Regierung ein Drittel des Nationaleinkommens betragen (die enormen Kriegsausgaben
hatten das Budget von 11 [1784] auf 116 Mill. ₤ [1815] angeſchwellt), heute machen
ſie ein Zwölftel aus. Mit den kommunalen Ausgaben werden ſie wohl auch heute
ein Sechſtel betragen. Das preußiſche Volkseinkommen wird gegenwärtig auf 12 bis
15 Milliarden Mark geſchätzt; die Regierung giebt 1900 (unter Zuſchlag von 60 %
des Reichsbudgets) 4,16 Milliarden Mark aus, alſo auch etwa ⅓—¼; mit Zufügung
aller anderen öffentlichen Haushalte, aller Kirchen-, Stiftungs-, gemeinnützigen Haushalte
wäre es noch mehr. Jedenfalls zeigen dieſe Zahlen die ungeheure, freilich nicht überall
gleich große Bedeutung der öffentlichen Haushalte, ihren Einfluß auf die Volkswirtſchaft.
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/338>, abgerufen am 17.07.2024.
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